I.
 Inhalt 
III. 

II.

Erzählung zum Thema Erziehung

von  Lala

Mir wurde in jener Nacht bewusst, dass linkisch und link Schimpfworte sind und dagegen die rechtschaffenen Begrifflichkeiten stehen. Ich erinnerte mich, weil Mum und ich, als wir noch im Dorf bei Großmutter lebten, jeden Sonntag in die Kirche gingen und viel aus der Bibel und anderen kirchlichen Büchern lasen und singen mussten, dass die Männer rechts und die Frauen links in der Kirche saßen. Wenn ich mir die Bildnisse von der Kreuzigung Jesu in Erinnerung rief, gewahrte ich, dass Jesus immer nach rechts schaute und dort die Besseren standen. Dort war Maria und nicht Johannes, dort war keiner verhüllt oder am Straucheln. Dort war das Licht und nicht der Schatten. Über der linken Schulter des Erlösers aber prangte der Mond und zu seiner Linken, auf der Seite, auf die er nicht sah, führten Höllenknechte Sünder in einen tiefen Schlund.

Ich erinnerte mich, dass Großmutter Ingeborg immer tadelnd ihre rechte Augenbraue hochzog, wenn ich sie mit der linken Hand begrüßen wollte. Wir waren bald nach Dads Unfalltod – ich war gerade fünf Jahre alt geworden, als es passiert war – bei Großmutter eingezogen und blieben lange bei ihr wohnen.
Generell war Großmutter nicht amüsiert, wenn ich mit meiner Linken agierte. Wenn Ingeborg ihren Mund zu einem Strich zusammenzog, dabei die Glieder ihrer schweren Perlenkette durch ihre faltigen Finger gleiten ließ und insgesamt zu einer Statue der Strenge gefror, bekam ich eine undefinierte, fürchterliche Angst vor dieser Frau und fing wieder an zu stottern.

Meine Mum schämte sich lange wegen meiner Stotterei. Schnell hieß es im Dorf, ich sei zurückgeblieben. Was sich eben auch an meiner Sauklaue und Rechtschreibschwäche manifestierte. Ich wusste es besser und arbeitete an mir. Ich wollte nicht, dass Mum sich für mich schämte. Ich behielt zwar meine krakelige Schrift, aber ich bekam es hin, nicht mehr zu stottern.

Aber wenn ich vor Ingeborg strammstehen musste, weil sie mich bei irgendetwas ertappt hatte und sie mich lange anschwieg und ich nur das Aneinanderklicken ihrer Perlen und das Ticken der großen Wanduhr hörte, bis sie mich endlich fragte, was ich mir denn dabei nun wieder gedacht hätte, da konnte ich nicht anders, als stotternd zu antworten. Aber es war kein Stottern aus Verlegenheit. Es war der Druck, richtig funktionieren zu müssen, den mich die alte Frau immer und immer wieder spüren ließ. Sie aber schien das zu amüsieren.

Allerdings war keiner von uns beiden mehr amüsiert, als – da war ich zwölf - sie plötzlich in mein Zimmer gekommen war, während ich dabei war an mir herumzuspielen. Ich war wie erstarrt und wagte keinen Muskel zu bewegen. Hätte sie länger in der Tür gestanden, wäre ich wahrscheinlich erstickt.
„DAS solltest Du wenigstens mit links machen!“, fauchte sie und ließ die Tür wieder krachend ins Schloss fallen.
Die nächsten Tage und Wochen war ich wie paralysiert und schämte mich in Grund und Boden. Mum realisierte wohl, wie schlecht es mir ging und dass ich Großmutter, wo ich nur konnte, auswich und so war es ein glücklicher Tag, als wir ein gutes halbes Jahr später nach diesem Vorfall Ingeborg wieder verließen und unsere Zelte in der Stadt aufschlugen.

Mum hatte über einen Bekannten, Onkel Kuki, einen Job in einer Zeitungsredaktion als Schreibhilfe bekommen. Wir hatten Großmutter seither nie wieder gemeinsam besucht. Ich glaube, sie hat ihre Mutter danach sowieso nur noch selten alleine gesehen oder gesprochen.

Ich war und blieb auch in der Stadt der verbissene, kleine Junge. Ein Eigenbrötler mit wenigen Freunden, eher Bekannten als Freunden. Hin und wieder unternahm man etwas. Für Kino konnte ich mich immerhin begeistern. Alles andere, wo ich hätte mehr reden müssen – heute sagt man small talk dazu - war mir aber ein Graus. Insgesamt tat mir die Stadt aber gut. Erst war ich verstört von der Vielzahl der Menschen, aber ich begriff schnell, dass die allermeisten, denen ich begegnete, mich gar nicht wahrnahmen und ebenso wenig Interesse wie ich daran hatten, Kontakt zueinander aufzubauen. Nachdem ich das begriffen hatte, ging es mir besser.

Ich schaffte den Sprung aufs Gymnasium und ich frönte einem Hobby: Aktionspotentiale. Ich liebte es, die Steinchen in von mir erdachten Welten aufzubauen und durch meine selbst konstruierten Apparaturen zu führen. Es bedarf einer ruhigen Hand und Präzision. Zwar ermüdete ich schnell beim Bauen, dass ich mit rechts erledigte, aber der optische und akustische Genuss, wenn die Steinchen in einem gleichbleibenden Stakkato fielen und die Befriedigung, wenn alle Steine gefallen waren, die waren mir jede Mühe Wert.

Mum hielt es für extrem nervend, in einer kleinen Wohnung solche Domino-Landschaften aufzubauen und für total bescheuert, sein Wochenende damit zu versauen. Aber sie steuerte die teuren Steine bei und baute – unter genauester Anweisung von mir – auch selbst mit.

Sie hatte es irgendwann aufgegeben, mich aus meinem Schneckenhaus rausziehen zu wollen. In meiner Pubertät hatten wir uns ein paar Mal über mein angeblich kaum zu ertragendes Desinteresse an allem Menschlichen gestritten. Aber bald schon kapitulierte sie: „Du bist so ein Sturkopf!“ und „ein elender, kleiner Rechthaber“. Damit beendete sie frustriert ihre Erziehungsversuche.

Sie hatte viel auszustehen, als ich älter wurde. Daher versuchte ich stets, meine Mum nicht noch durch schulische Scherereien zu belasten. Ich wollte gut funktionieren. Es langte sogar zu einer guten Matura und unter Mitschülern und Lehrern zum zweifelhaften Ruf eines nervtötenden Diskutanten, der, wenn auch selten, aber wenn, dann beharrlich, immer und immer wieder auf einem einzigen Punkt herumreiten konnte. „Der Ja-Aber“, so nannten sie mich gerne. Aber es ging mir halt gegen den Strich, wenn eine Ausgangsthese ungenau formuliert und eine Diskussion schon dadurch falsch begonnen worden war. Entsetzlich.

Aber mit Rechthaberei war es nun vorbei. Auf einmal war ich kein Rechthaber mehr, sondern ein Linkshänder geworden und mir fielen diese Kleinigkeiten an mir auf: Außer bei unserer Zeit bei Ingeborg, tauschte ich beim Essen sofort Messer und Gabel an ihrem Platz. Oder ich nahm Scheren grundsätzlich in die linke Hand. Zwar spielte ich kaum Fußball, aber wenn, dann spielte ich auf der linken Seite und warf mir jemand etwas zu, fing ich es mit meiner starken Hand auf: der linken. Die Linke war auch stets meine Schlaghand.

All diese Kuriositäten gingen mir in jener Nacht durch den Kopf. Vielleicht nicht so konkret, aber vieles, was ich oder andere als Spleen oder Kuriosität abgetan hatten, schüttelte mich nun durch. Ich sah meine linke Hand an und fragte mich, wie viel von mir in ihr stecken mochte und was noch vergraben war. Schließlich machte ich das Licht aus und fand keine Ruhe mehr.

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Kommentare zu diesem Text


 styraxx (05.11.12)
Die Überleitung vom 1. zum 2. Kapitel find ich klug gemacht,
endet diese doch mit einer Frage, die die Neugierde beim Leser weckt. Das 2. Kapitel beginnt mit dem Satz: "Mir wurde in jener Nacht bewusst...", und mit ihm ein längerer Einschub, in dem der Erzähler zurückblickt und dadurch mir als Leser die Befindlichkeit des Jungen um einiges näher bringt. Der ständige Druck richtig funktionieren zu müssen, löst bei ihm ein Stottern aus. Doch dem nicht genug leidet er auch noch an einer Schreibschwäche.

Trotz diesen Umständen schafft er es ins Gymnasium und macht danach auch die Matur. Zusehends entwickelt er sich zum pedantischen Eigenbrötler und Rechthaber. Zudem spürt er, dass die Menschen ihn nicht richtig, oder gar nicht wahrnehmen.

Aber damit arrangiert er sich und das nicht zuletzt, weil auch ihm umgekehrt nicht viel an den Mitmenschen liegt. Doch das bleibt nicht lange so und er wandelt sich, legt seine Rechthaberei ab und stellt gar auf die Linksändigkeit um, als gelte es ein Gleichgewicht zur Rechtshändigkeit herzustellen. Oder darf man dahinter gar eine stille Rebellion vemruten? Wie dem auch sei, jedenfalss ändern sich auch die Schreibschwäche und seine Handschrift ändern sich zum Besseren.

All das und vieles mehr, das hier zu Sprache kommt, finde ich einfühlsam und doch aus einer gewissen Distanz vortrefflich geschildert. Das das Links/Rechts-Motiv bleibt in diesem Kapitel bestehen, sei es in der Kirche wo Frauen und Männder getrennt sitzen oder beim autoerotischen Erkunden. "Schliesslich machte ich das Licht aus und fand keine Ruhe mehr." Mit diesem Satz endet die Rückblende und mit ihr auch das 2. Kapitel.

Und nun weiss ich, das ist die Geschichte eines pupertierenden Jungen der von einem Links/Rechtschema hin- und hergerissen und dadurch ganz schön auf die Probe gestellt wird. Gespannt blicke ich auf das 3. Kapitel.
Sehr gerne gelesen. LG
(Kommentar korrigiert am 05.11.2012)
(Kommentar korrigiert am 05.11.2012)

 Lala meinte dazu am 06.11.12:
Hallo styraxx,

da bin ich platt. Platt, weil sich, denke ich, jede Geschichte wünscht, so intensiv gelesen zu werden und diesem Interessse, dieser Leidenschft einigermaßen standhalten zu können.

Der Wechsel, hier von rechts auf links, noch besser; das sich Wandeln, das sich verändern zu können - oder eben vielleicht auch nicht ? - dieses Spannungsverhältnis, meinethalben ganz banal die Frage: Wer bin ich?, trieb mich an. Noch technokratischer: Bin ich Gen oder Mem? Aus dieser Frage, resultierte eine Figur, ein Spielstein und spann sich eine Geschichte, die sich glücklicherweise verselbständigte - aber der dennoch innewohnt, dass die Steine alle an einem genau definierten Platz stehen müssen. Ansonsten kippt nichts um.

Danke Dir für Deinen Kommentar.

Schöne Grüße

Lala
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