Schweigen

Text zum Thema Schuld

von  Seelensprache

Wir reden nicht mehr miteinander. Kein Wort verlässt unsere Münder. Es ist als seien Ober- und Unterlippe durch einen Faden aneinandergebunden und so eng festgezurrt, dass nicht der kleinste Ton  zwischen ihnen hindurchstößt.
Ich wollte nicht. Du wolltest nicht. Wir wollten nicht. Ich konnte nicht, du konntest nicht. Wir konnten nicht. Nun stehen wir am Ende eines Anfangs.
Das Zimmer ist klein und Zigarettenduft hängt in leichten, sommerweißen Gardinen. Eine alte Frau liegt auf dem Sofa. Ihr rabenschwarzes Negligé hängt an den Brüsten hinab und bleibt an den Spitzen ihrer dicken Nippel hängen. Über ihren Bauch hat sie eine Decke mit Blumenmuster gezogen. Ihre Stirn ist faltig. Sie lächelt nervös, doch immer wieder fällt es in sich zusammen. Wieder und wieder entsteht Lächeln an Lächeln an Lächeln. Es ist zum Kotzen. Ich stehe dahinter, irgendwo im Raum. Ich  betrachte sie aus einem Augenwinkel heraus, beobachte wie sie nervös an einer Zigarette zieht - Zug auf Zug. Ihr Haar, das ohne Volumen bis hinab an den Rand ihrer Schultern stößt, wischt sie hecktisch hinter das Ohr. Sie starrt auf den Fernseher. Ihre Hände tappen wie zufällig auf der Fernbedienung herum. Alle paar Minuten ändert sich das Programm. Überall ist Leere. Nach einer langen Dauer sage ich "Hallo". Schwerfällig dröhnt es in der Stille nach. Aus allen Richtungen werden Worte ungehört zurückgeworfen. Ich verharre einen Moment. Blut schießt in meinen Kopf. Schwindel stößt in Arme und Beine. Ich taumel einen Schritt zurück. Endlosigkeit scheint den Raum zu dehnen. Ich fühle mich gealtert. Ich sehe Uhren, deren Zeiger sich so schnell drehen, dass mir übel wird. "Hallo", sagt sie schließlich und bleibt ohne Bewegung, blickt auf das bunte Flackern unzähliger Halbbilder, die Nichtigkeiten erzählen, die sie volldröhnen und weghauen. Wir reden nicht mehr. Haben das Sprechen verlernt, verderben lassen, erst recht das Zuhören. Wir grüßen und verabschieden einander - "Hallo und Tschüss", ein trauriger letzter Rest. Und zwischen diesem Anfang und Ende verbalen Gebarens bleibt Sprachlosigkeit. Wir reden nicht, verschließen uns, verstecken uns hinter dem fleischigen Antlitz unserer selbst, hinter strengen Augen und müden Blicken. Wir verharren erstarrt in Ratlosigkeit. Kranke Worte haben uns die Glieder lahm gemacht. Und mit jedem mal, da sie in uns wüteten, nahmen sie etwas, das uns verband und lebendig füreinander machte. Nun regen wir uns nicht mehr, wie scheues Getier, das Angst hat, gefressen zu werden. Wir sind verletzt. "Er ist böse", "Sie ist böse", "Er hat", "Sie hat", "Er ist", "Sie ist" und irgendwo am Ende dieser Aneinanderreihung von Worten entsteht das "Arschloch" und "Schwein", das es nicht schöner, aber irgendwie erträglicher macht. Haben uns nicht ertragen, nicht ausgehalten.
"Gute Nacht", sage ich. "Gute Nacht", sagt sie. Kalte Spannung quetscht jedes Auf und Ab, jedes Hoch und Tief aus den Worten und so kriechen sie leblos und gleichgültig - tot von Mündern zu Ohren ohne wirklich gehört zu werden. So bleibt es die Erfüllung einer lästigen Pflicht, eines Das-macht-man-halt-so. Ich schreite aus dem Raum. Ein letzter Blick. Adieu meine Liebe, Adieu. Ich schließe die Tür. Etwas bleibt zurück, doch es ist Zeit zu gehen.

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