Necrosis-to-total-Decease-App™

Parabel zum Thema Tod

von  ZAlfred

»Nennt mich Hein.« Ganz ähnlich beginnt der große Roman ›Moby-Dick‹ von Herman Melville. Wäre ich auf literarischen Ruhm erpicht, hätte ich auch diese Worte zum Anfang geschrieben. Aussage und Inhalt stimmen – auch ohne großartige Ambitionen, viele nennen mich Hein. Belassen wir es für den Augenblick dabei: »Nennt mich Hein.«

***Ich führe das Ruder. Die spritzende Gischt durchnässt meinen Umhang und die Kapuze. Salzverkrustet hängt mir die Kledage schwer von den Knochen. Doch mit der Pinne fest in der Hand halte ich das Boot auf Kurs.

***Wenn ich es recht bedenke, habe ich den Kahn selbst und ganz alleine aus dem Dreck gezogen. Unerheblich, wie viele Leute schon aufgesprungen waren. Das war der Job. Mein Job. An jedem Tag, bei jedem Wetter bin ich raus. Immer derselbe Trott, jeden Tag die gleiche Tour, immer dieselben Plünnen, und ich immer mitten im Geschehen. Alles hängt an mir. Ohne mich, da läuft hier gar nichts.

***Ich frag nicht nach Dankbarkeit. Woher soll die auch kommen? Ich kenne eure Klagen nur zu gut.
***»Es tut mir ja auch leid«, könnte ich euch entgegnen, »hier handelt es sich definitiv nicht um einen vorzeitigen Samenerguss, ich komme lediglich subjektiv zu früh.«
***Bei der Behandlung der Ejaculatio praecox folgt die Medizin im Wesentlichen zwei therapeutischen Ansätzen. Anstelle der von manchen Therapeuten verordneten, teils absurden Trainingsmethoden, bevorzuge ich pharmakologische Therapien und den Einsatz lokal betäubender Wirkstoffe. Ich kann bestätigen, mit Lidocain ging eigentlich immer ...
***He, halt stopp, das geht euch gar nichts an! Nein, das gehört jetzt nicht hierher.

***Was wollt' ich doch gleich? Moment, ich hab's! Es ist doch immer dasselbe, ich komme, um einen von euch abzuholen und werde mit den immer gleichen Worten empfangen.
***»Du kommst zu früh«, höre ich euch klagen, »ich bin noch nicht so weit.«
***Genau! Ihr seid es, die noch nicht bereit sind. Ginge es nach euch, dann würde ich mich immerzu verspäten und wäre doch zu früh.

***Seien wir doch mal ehrlich. Wenn einer es in Jahrzehnten seines Erdendaseins nicht auf die Reihe bekommt, seine Siebensachen zu richten, wenn er in seinen letzten Jahren noch nicht alles bewerkstelligt hat, nicht getan ist, was nötig wäre, wie wahrscheinlich wäre es dann, dass ein Aufschub ihn plötzlich Struktur in seine Angelegenheiten bringen lassen würde? Wie viel Zeit sollte dieser Mensch wohl noch bekommen? Manch einer muss noch Söhne zeugen und aufwachsen sehen, sie erziehen und ausbilden, um damit die Nachfolge im Familienimperium endgültig zu regeln. Und dann ist da natürlich auch keine Rede davon, dass er mit dem Rest der Familie seit Jahrzehnten zerstritten ist.

***Was, wenn er mit den Söhnen auch überkreuz zu liegen kommt? Soll ich dann womöglich noch eine Generation Erben abwarten? Nichts da! Wenn ich komme, dann ist die rechte Zeit!
***Moment eben, das muss ich mir aufschreiben – für heute Abend. ›Wenn ich komme, dann ist die rechte Zeit!‹ Das werde ich Lilith sagen, wenn sie wieder meckert. ...
***Entschuldigung, es geht sofort weiter.

***Seht sie euch doch an, meine Passagiere. Zum Beispiel die da, die dürre Blonde: Ihr Leben taumelte zwischen zu wenig Essen und zu viel Arbeit, kein Sport und Business-Terminen zwischen Morgengrauen und Mitternacht. Echte Freizeit kannte sie nicht. Freunde definierte sie mit einem ›V‹ neben dem Termineintrag in ihrer 'Schwarzbeere'. ›V‹ für ›verschiebbar‹!
***Sie war eine von denen, die sich mit schwarzem Blavod-Wodka und Energy-Drinks gegen die unvermeidbaren Prozesse des Alterns stemmen. Vergebens. Selbst mit ihrer teuren, aus Seetang gewonnen Kosmetik, die mit der Kraft des Meeres wirkte, konnte sie die Zeit nicht besiegen. Gegen den eigenen schleichenden Verfall hatte sie niemals eine Chance.

***In der Mainmetropole hatte ich sie in einer Bankzentrale aufgesammelt. Auf halbem Weg zwischen dem elften und zwölften Stockwerk lag sie auf dem Treppenabsatz. Ihre Frisur hatte sich gelöst, das blonde Haar umgab den Kopf wie ein aufgeplatzter Ballen Stroh. Ich fand sie, zusammengekrümmt auf dem Boden inmitten eines Sammelsuriums aus Laptop-Tasche, ihrer Handtasche, High Heels und dem Blackberry. Sie wollte immer alles geben. Genau das kam dabei heraus: der Infarkt hatte ihre Herzfunktion neutralisiert.

***Alles was sie zu mir sagte, als ich bei ihr ankam, entsprach dem bekannten Muster.
***»Haben wir eine Verabredung? Hatte ich dir einen Termin gemailt? Egal! Der ist jetzt eh abgesagt. Ich hab noch so viel zu tun. Guck dir nur diesen Scheiß hier an! Ich habe ein Meeting. Jetzt! Und jetzt tauchst du hier auf – Du kommst zu früh!«

***War es anders zu erwarten? Und jetzt seht sie euch an: Seit sie an Bord ist, starrt sie auf ihren PDA, klopft mit den Fingerspitzen auf dem Display herum und versucht ebenso vergeblich wie verzweifelt, einen Zugang zum Netz zu bekommen.
***Ob sie ihr Meeting wohl noch nachträglich absagen möchte? Oder will sie nur für diesen Abend neu disponieren? Mir scheint, sie glaubt, solange sie noch Termine vereinbart hätte, würde alles immer so weiter gehen.
***Hehe, ob sie wohl daran glaubt, die Torch-App™ würde ihr in ewiger Finsternis leuchten? Wenn sie sich da mal nicht täuscht ...

***Nebenbei bemerkt, was mir an dem Ganzen sehr interessant erscheint, das sind die Zusammenhänge. Bleiben wir einmal bei unserem Beispiel hier: Liese Peh-Deh-Ahh.
Als unverhofft die Aufzüge in den Türmen der Bankzentrale ausfielen, entschloss sich unser fleißiges Lieschen über das Treppenhaus zu Fuß zum achtzehnten Stockwerk hinauf zu steigen.

***Genau das war der Augenblick, in dem der elysäische Administrator in ihrem Reallife-User-Account die Necrosis-to-total-Decease-App™ startete.
***Zeitgleich schickte die App mir eine automatische Systemmeldung, die den Zeitpunkt des Pick-ups und die Koordinaten des Meetpoints enthielt. Soweit alles Routine, Business as usual.
***Doch nur wenige Sekunden nach dem die App das Appointment im Treppenhaus in der Burial-Site™-Datenbank bestätigte überschwemmten etwa fünfhundert Terminverschiebungen meine Mailbox. Mein elektronisches Longterm-Appointment-Schedule™ reagierte planmäßig und äußerst präzise auf ungeplante, vorgezogene Abholtermine. Das LAS™ hatte in der Abgangsplanung jedem Menschen automatisch einen neuen Termin zugewiesen, der direkt und untrennbar von der veränderten Ausgangslage abhing. Für viele Menschen würde die Zukunft länger dauern als zuvor geplant.

***Ich überlege gerade – und da unsere Überfahrt noch eine Weile dauern wird, ergibt sich ja vielleicht tatsächlich die Gelegenheit – die stresstote Tussie zu fragen, welche strukturell einschneidenden Maßnahmen sie für die Menschen in der Bank geplant hätte, die dermaßen nachhaltig die Lebenserwartung so vieler Menschen beeinflussen konnten.

***Andererseits, will ich das wirklich wissen? Mir soll es doch egal sein. Eines Tages stehe ich vor jedem von euch. Heute. Morgen. Übermorgen. Nächste Woche. Nächsten Monat. Das ist der Job. Mein Job. An jedem Tag, bei jedem Wetter. Immer derselbe Trott, jeden Tag die gleiche Tour, immer dieselben Plünnen, und ich immer mitten im Geschehen. Alles hängt an mir. Ohne mich, da läuft hier gar nichts.
***»Nennt mich Hein.«

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Kommentare zu diesem Text

wonderland (67)
(02.09.12)
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 ZAlfred meinte dazu am 02.09.12:
Liebe Dorothee,

ich danke Dir für Deine Worte und stimme Dir zu, der Tod ist ein Thema bei dem es viele Aspekte gibt, komische, absonderliche, absurde, erschreckende und natürlich auch solche, mit denen wir uns nicht gerne oder auch am liebsten gar nicht auseinandersetzen wollen. Oftmals reicht es völlig aus, einen Gedanken anzudenken, ihn bis in die Tiefe und bis in alle Konsequenzen zu verfolgen wäre zu schmerzvoll.

Dein Verständnis für meinen absurden Ansatz und seine vielschichtigen Ableitungen spiegelst Du wundervoll mit dem   Appdepp.

Herzlichen Dank
ZAlfred
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