Der Tag X

Text zum Thema Abschied

von  Vessel

Frühjahr: Im ersten Licht

Das Fieber klingt ab, sagt Mutter, nachdem sie das Thermometer begutachtet hat. Deine Temperatur ist wieder normal.
Ich fühle mich nicht gut, und sage es.
Keiner fühlt sich nach Fieber gut, sagt sie.
Es ist noch früh am Tag. Durch die gekippten Fenster strömt kalte Luft ins Zimmer, die Vorhänge blähen sich auf und sacken zusammen.
Ich versuche mich zu erinnern, wann ich mich das letzte mal gut gefühlt habe. Es wird Zeit, denke ich, es wird Zeit dass der Schneematsch von den Straßen verschwindet und irgendwas wieder blüht.

Später stehe ich am Fenster und sehe zur Sonne, sie ist blass. Kinder rennen über den Hof, sie stecken in dicken Winterhosen und haben Mützen auf. Mir fröstelt. Ich lege mich ins Bett zurück und versuche an nichts weiter zu denken.



Sommer: Die Hitze des Tages

Es ist seit Tagen heiß. Die Straßen sind so leer, wie sie es nicht einmal bei Regen sind, sonst. Ich fange an, die Hitze genauso zu hassen, wie ich die Kälte im Winter hasse. Die Sonne lacht mich dafür nur aus.
Wir waren am See, gestern, es war schön. Mein Nacken ist rot, und warm.
Lad deine Freunde doch mal ein, hat mein Vater gesagt. Ich habe den Kopf geschüttelt.
Heute ist mir auf dem Heimweg von der Schule schwindelig geworden. Ich glaube, es war ein leichter Hitzschlag.

Sterne sterben, hat mein Physiklehrer gesagt. Dann können Welten entstehen.
Und wenn Welten sterben?, habe ich gefragt.

Frau Hermann spricht jetzt einmal in der Woche mit mir, sie hat mir ein Medikament verschrieben, sie sagt, vielen in meinem Alter geht es wie mir.



Herbst: E' come impazzire in un mare dorato

Wie meine Gedärme wohl aussähen, wenn sie aus meinem Bauch hingen, frage ich mich und überlege, ihn mir aufzuschneiden. Im Fernseher erzählt der Nachrichtensprecher: Alle Gewässer der Umgebung haben sich über die letzten Tage blutrot gefärbt.
Meine Mutter kommt ins Zimmer und stellt Maischips auf den Tisch.
Man hat herausgefunden, dass eine Eisenverbindung im Wasser für die Farbe verantwortlich ist, sie erinnere an das menschliche Häm.
Die sind verrückt, sagt Mutter und ich sage, sind sie nicht.
Man macht das örtliche Wasserwerk verantwortlich, und die Chemiefabrik.
Ich habe schlecht geträumt, sage ich zu Mutter. Es hat geregnet, aber das war kein Wasser.
Wir träumen alle schlecht, hin und wieder.
Ich glaube das hat etwas zu bedeuten.
Vielleicht, sagt Mutter. Magst du darüber reden?
Nein, sage ich. Ist schon in Ordnung.



Winter: Leise

Ich weiß es jetzt, sage ich. Meine Mutter sitzt an meinem Bett, ich habe im Schlaf geschrien. Der Himmel ist rot, die Sirenen heulen, es ist alles da, so wird es kommen.
Nur ein übler Traum, sagt Mutter. Versuche zu schlafen, es ist noch früh.
Das war kein Traum, sage ich.
Meine Mutter lächelt, ich frage mich, ob die Fältchen unter ihren Augen schon immer da waren.
Ich rufe Frau Hermann an, sagt sie. Sie wird sich Zeit für dich nehmen.
Ich hasse Frau Hermann, sage ich.
Du bist noch schlaftrunken, sagt Mutter. Ich will doch nur das beste für dich.



Winter: Laut

Ich sitze in der Schule, wir schreiben Geschichtsklausur.
Dann weiß ich es, heute ist es soweit. Ich springe auf und renne aus dem Zimmer, lasse Tasche und verwirrte Gesichter zurück. Ich bin mir sicher: Heute ist der Tag.
Als ich heim renne, fallen schwere Tropfen aus einem purpurroten Himmel, sie hinterlassen dunkle Flecken auf meiner Winterjacke.
Den Schlüssel bekomme ich kaum ins Schloss, und rufe: Mutter, Mutter, es ist soweit, es regnet schon, gleich heulen die Sirenen, gleich kommt das Ende.
Mutter kommt die Treppe runter und nimmt mich in den Arm.
Es ist alles gut, sagt sie.
Ja, sage ich. Wir können nichts tun, es ist alles gut.
Die Welt ist fest, sagt Mutter, sie wird nicht untergehen, nicht heute.

Mutter ruft Frau Hermann an, sie redet leise, ich verstehe sie nicht.
Wir wollen spielen, sagt Mutter dann und geht die Spielesammlung holen. Wir spielen und ich komme mir für einen Moment ganz normal vor.
Später heulen die Sirenen, es klingt leise an und wird laut. Mutter springt auf und ich sage, das ist das Ende, Mama, wir können nichts tun.

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Kommentare zu diesem Text


 princess (13.09.12)
Hallo Vessel,

der Titel ... und fast hätte ich den Text nicht angeklickt. Denn ich assoziiere
der Tag X
mit Akte X und die hat mich nie interessiert.

Wie auch immer: Gut, dass meine Neugier stärker war. Kaum hatte ich begonnen zu lesen, schon war ich durch und fing wieder von vorne an. Ich mag dieses Szenische. Ich mag dieses Leise. Ich mag die Bilder. Ich mag die Sprache. Und ich mag, wie du beobachtend durch Innenwelten gleitest und mitunter Äußeres fokussierst. Lediglich die etwas zerfledderte Formatierung trübt mein Lesevergnügen. Aber auch nur, wenn ich mich bemühe, mich ganz besonders pingelig anzustellen.

Ein toller Text. Es war mir ein Vergnügen.

Liebe Grüße, princess

 Vessel meinte dazu am 17.09.12:
wie gut, dass du der fernsehserie entkommen konntest.

danke fürs lesen und den kommentar!
vessel
michaelkoehn (76)
(13.09.12)
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 Vessel antwortete darauf am 17.09.12:
es ist schön, dass du den text gerne gelesen hast, danke für den kommentar!
wonderland (67)
(13.09.12)
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 Vessel schrieb daraufhin am 17.09.12:
es freut mich, dass dir der text gefällt. danke fürs lesen und kommentieren!

 Lluviagata (13.09.12)
Sehr sehr gut!!! Ich kann mich völlig hineinversetzen. ♥

 Vessel äußerte darauf am 17.09.12:
danke!
fragilfluegelig (49)
(13.09.12)
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 Vessel ergänzte dazu am 17.09.12:
und dabei freue ich mich sogar schon, wenn überhaupt etwas bleibt. danke dass du dich mit dem text auseinander gesetzt hast, und danke für deinen kommentar!
Parkplatzbizon (32)
(13.09.12)
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 Vessel meinte dazu am 17.09.12:
hei, aber du, es ist doch auch ganz unspektakulär! ;)

 Cassandra (19.09.12)
Einfach nur Spitze.

LG
Cassandra

 Vessel meinte dazu am 21.05.14:
danke!
Jeane (18)
(18.01.13)
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Jeane (18) meinte dazu am 19.01.13:
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 Vessel meinte dazu am 31.01.13:
huch, da hast du dich ja an der kommentarfunktion ausgelassen wie eine wilde ;)
mich freut deine interpretation, und dass dir der text zu gefallen weiß (an dieser stelle mal danke für die favs und empfehlungen)
vessel
Melonenkopf (21)
(27.01.17)
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 Vessel meinte dazu am 27.01.17:
Nun hast du es ja entdeckt!
Danke, das Lob erfreut mich :)

 Songline (27.01.17)
So leise erzählt und zugleich so eindringlich.
Ich mag sehr, wie du den Leser an den Gedanken des Erzählers teilhaben lässt, wie man sich wiedererkennt im Nicht-ernst-genommen-werden, und wie man am ende doch erfahren darf: Die Kranken sind die anderen.
Liebe Grüße
Song

 Vessel meinte dazu am 27.01.17:
Oh, meinst du? Nun, ich wünsche dir jedenfalls eine allzeit feste Welt, sende dir liebe Grüße und meinen herzlichen Dank für den Kommentar :)
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