Einführung, VIII

Text zum Thema Allzu Menschliches

von  bluedotexec

Ich weiß, wo Angie wohnt. Ich weiß es zumindest ungefähr. Zwanzig Minuten von hier, die kann ich zu Fuß gehen. Außerdem ist die Alternative Busfahren, und ich hasse Busfahren. Ich ziehe ein Pillenröhrchen aus dem Mantel und schlucke eine schwach dosierte Diazepam-Kapsel.
Wer weiß, was heute noch so passiert.
In der Seitenstraße gegenüber dem Hearts rempelt mich ein Halbstarker an. Er macht die ganze Zeit ein schleimiges Geräusch, das scheinbar seiner Kehle entspringt.
„Pass' doch auf, Opa!“ Ruft er.
Eines Tages, wenn die Medikamente und Drogen auch nicht mehr helfen, und meine Psychosen das Steuer über das Auto übernehmen, dann werde ich den Revolver ziehen und kleine, bleierne Freunde in all diesen Leuten verteilen. Bis dahin werde ich sie beschützen. Oder zumindest das tun, was ich mir darunter vorstelle.

Während ich durch die Straßen ziehe, um Ecken biege, mich von Laterne zu Laterne hangle, verfallen die Häuser um mich herum. Erst tauchen an Neubauten vereinzelt Graffiti auf, danach verwandeln sich die Neubauten in Nachkriegsbauten, dann in verfallene Fabrikwohngebäude. Fenster sind eingeschlagen, Türen hängen in den Angeln oder fehlen komplett. Ein Loch in einer Hauswand dient als neuer Eingang für Ratten, Junkies und Gesindel.
Wieso wohnt man hier freiwillig? Selbst Angie müsste genug Geld haben, um sich eine Wohnung etwas weiter vorne zu leisten, im Soho, wo es nicht ganz so schrecklich aussieht. In irgendeinem der nächsten drei Häuser sollte sie wohnen. Mir fällt auf, dass meine Beine mich schon wieder voran gebracht haben, ohne das mein Verstand hinterher gekommen ist. Ich kenne ihren Nachnamen nicht, genau wie ihre Hausnummer oder irgendwas, das mir jetzt weiter helfen würde. Wie finde ich ihr Appartement?
Aus dem Loch in der Wand kommt ein kleiner Junge. Er ist etwa zehn Jahre alt, schwarz und trägt zerschlissene Kleidung.
Ich hasse diese Stadt.
„Hey.“ Sagt er zu mir. Ich sehe ihn an.
Ich beginne zu starren.
„Hey.“ Sage ich.
„Suchen Sie wen?“
„Ja.“
„Wen?“
„Ein Mädchen namens Angela. Etwa so groß,“ Ich deute mit der Hand in die Luft, „blond, schlank, weiß.“
„Angel?“ Fragt er mich schüchtern.
„Genau die.“
„Ich weiß, wo sie wohnt. Meine Mum kennt sie aus dem Diner an der zweiundvierzigsten.“
„Kannst du mich zu ihrer Wohnung bringen?“
„Ja.“ Sagt er und bewegt sich nicht. Er sieht mich erwartungsvoll an und beginnt, ein bisschen zu grinsen.
Ich seufze. „Was willst du?“
„Zehn Dollar.“
„Ich bin Polizist.“
„Zwanzig Dollar, Officer.“
„Detective.“
„Fünfundzwanzig.“
Ich war noch nie besonders gut im Verhandeln. Ich hole eine Rolle Geldscheine hervor und gebe ihm das Geld.
Er sagt: „Nächstes Haus, dritter Stock, G.“
„Danke.“

Ich trete in den Hausflur. Die Fenster sind so dreckig, dass das Licht nur gedämpft eindringt, aber einige der Scheiben sind löchrig, und es zeigen sich Strahlen in dem Staub, den meine Schritte aufwirbeln. Godrays. So sehr ich mich auch bemühe, keine lauten Geräusche zu verursachen, meine Stiefel stampfen trotzdem auf der Treppe, und die Stufen knarzen, egal wie weit ich am Rand gehe. Dritter Stock, G.
Ich klopfe an die Tür. Nichts regt sich. Ich klopfe fester und die Tür bewegt sich. Dem Schloss fehlt der Sperrriegel, deswegen bleibt die Tür nur zu, wenn man sie abschließt. Ich trete ein. „Hallo?“ Rufe ich in den Raum. Ein Rascheln aus der Küche erklingt.
Auch hier ist das Licht schummrig, dreckig, der Raum erscheint doppelt so unordentlich und halb so eingerichtet, wie er wirklich ist.
Auch bei Leuchtstofflampenlicht wäre er alles andere als wohnlich. Das Sofa steht schief, weil die Füße auf einer Seite fehlen, der Fernseher entstammt einem anderen Jahrhundert, und die Küche, die mit im Wohnzimmer untergebracht ist, ist komplett mit einer klebrigen Mischung aus Staub und verspritztem Bratenfett bedeckt. Im Waschbecken stapelt sich benutztes Geschirr, am Deckel eines Topfes sammeln sich Maden, das Spülwasser ist mit einer flaumigen Schicht Schimmel von fröhlicher Färbung bedeckt.
„Ist jemand zuhause?“ Rufe ich. „Angie?“
Keine Antwort. Eine Ratte zeigt sich unter dem Ofen und verschwindet sofort wieder. Sie scheint hier zu wohnen.
Ich gehe zurück zum Sofa. Gegenüber ist die einzige Tür in diesem Raum. Das muss das Schlafzimmer sein. Ich stoße sie auf. Der Raum ist ebenfalls leer. Seine Einrichtung besteht aus einem Bett, einem kleinen Schrank und einer Leselampe. Neben dem Futon stapeln sich Bücher, ich sehe den Stapel durch. Eco, Hemmingway, Alighieri.
Seltsame Lektüre für eine Stripperin, denke ich. Anscheinend träumt hier jemand von einem schöneren Leben.
Andererseits ist es schwer, das nicht zu tun, angesichts der Zustände, die in diesem Appartement herrschen, denke ich. Selbst bei mir zuhause ist es ordentlicher, und ich habe eine Wand voller Zeitungsausschnitte des letzten Jahrzehnts.
Ich gehe wieder zurück zur Eingangstür. Links von mir ist noch eine Tür, die mir eben noch nicht aufgefallen ist. Das muss das Badezimmer sein. Ich schiebe vorsichtig die Tür auf. Das Licht brennt.
„Angie?“
Keine Antwort. Ich öffne die Tür weiter und stecke den Kopf hindurch.
„Hallo?“
Niemand zu sehen. Ich trete ein. Das Badezimmer stellt einen schwindelerregenden Kontrast zum Rest der Wohnung dar. Auf der Ablage vor dem Spiegel ist eine Armee von Schminkutensilien in Reih' und Glied aufgebaut. Die Keramik ist blütenweiß geputzt, auf dem Boden liegt kein Staubkorn, der Duschvorhang ist scheinbar frisch gewaschen, alle verchromten Teile glänzen wie neu eingebaut.
Der Duschvorhang ist zugezogen. Ich ziehe ihn beiseite.
Angie.
Sie liegt in der Badewanne, trägt noch die Arbeitskleidung vom letzten Abend. Sie ist durchnässt, aber halb getrocknet, am Boden der Wanne sammelt sich eine Mischung aus Wasser und Glitzerstaub, ihr Arm liegt auf dem Wasserhahn.
Eine Mischung aus Schaum und Blut quillt aus ihrem halb geöffneten Mund. Es grenzt an Perversion, so zu denken, aber ihr Gesichtsausdruck erinnert stark an die Form von Laszivität, die sie auch auf der Bühne, an der Stange, wie einen Schutzschild vor ihrem Antlitz her trägt.
Ich fasse mit einem Gefühl vollkommener Überflüssigkeit an ihren Hals. Die Schlagader liegt starr, unbeweglich, fernab von jedem Rhythmus in ihrem Bett aus menschlichem Gewebe. Mir wird schlecht. Ich bekomme Kopfschmerzen.
Ich gehe langsam rückwärts, in die Richtung, in der ich die Tür vermute. Mein Schwindel wird langsam, aber stetig schlimmer, und meine Hand bewegt sich langsam in Richtung Mobiltelefon.
Ich drücke auf Wahlwiederholung. Noch vor James' Begrüßung beginne ich zu sprechen.
„Ich habe eine Leiche.“
Seine Antwort ist eher zynischer Natur. Ich suche in meiner Hosentasche nach der Packung mit Imipramin.
„In niemandes Keller. In Hell's Kitchen. Ich schicke dir die Adresse gleich per SMS. Schick' auch Lockwood, ich glaube, das hier wird ihn interessieren. Ich werde jetzt auflegen, sonst muss ich kotzen.“
Es ist nicht die Leiche selbst, die auf mich so brechreizerregend wirkt. Meine Kopfschmerzen schwellen zu einer ausgewachsenen Migräne an. Ich bin kurz davor, den Tatort zu verunreinigen, doch noch gelingt es mir, meinen Mageninhalt bei mir zu behalten.
Ich stürze durch die Tür, den Hausflur hinunter und durch die Holztür zurück auf die Straße, um gierig die schmutzige, aber kühle Morgenluft einzusaugen.
Ich schreibe James die SMS.
Oh, wie mich diese Stadt ankotzt.

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