Flusen (eine Verwandlung)

Kurzgeschichte zum Thema Gabe

von  Ephemere

Als ich zum ersten Mal blaue Flusen in meinem Bauchnabel fand, maß ich dem Phänomen keine besondere Bedeutung bei. Es war spät nachts und ich war kurz davor, unter die Dusche zu steigen um mich dann dem Schlaf anheim zu geben. Ich dachte folglich noch nichteinmal darüber nach, sondern begnügte mich mit der ad-hoc Hypothese, dass die wollige Substanz von meinem T-Shirt stammen müsse.

Erst als ich die nächsten Abende immer wieder, zunächst beiläufig, dann mit wachsendem Staunen, die gleiche fusselige Entdeckung machte, wurde mein wissenschaftliches Interesse geweckt, das jedem Tier – insbesondere einem mit akademischen Titel – innewohnt, und ich beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen.

Ersteinmal ging ich meinem Bauchnabel auf den Grund und reinigte penibel auch noch den letzten Winkel – wobei ein schwarzes Körnchen nicht weichen wollte und mich zum aufgeben zwang. Dann begann meine experimentelle Anordnung: Zum Testen der T-Shirt Hypothese trug ich fortan jeden Tag ein Shirt anderer Farbe – bloß nie mehr blaue.

Als das Resultat unverändert blieb und der Umfang der Materialablagerungen noch zunahm, verwarf ich die Annahme. Allerdings verfügte ich über keine alternative Erklärung und um vollends auszuschließen, dass Baumwollabrieb in den Resten meines pränatalen Versorgungskanals landete, trug ich nur noch Kunststoffhemden.

Doch auch dieser Wechsel tat dem Flusenwuchs keinen Abbruch – im Gegenteil, die Wollbäusche, die aus meinem Nabel quollen, begannen die Hemden auszubeulen.

Da akzeptierte ich schließlich das Unfassbare: In meinem Nabel...wuchs...eine wollene Substanz, über deren Natur und chemische Eigenschaften ich mir im Unklaren war.

Abhilfe schaffte nach mehreren ratlosen Hautärzten und Internisten erst ein Besuch im biologischen Forschungszentrum. Die Forscher kamen – reichlich verblüfft – zu dem Schluss, dass das Flausengemenge eine bisher unbekannte biologische Substanz war, die in ihren Eigenschaften im Wesentlichen Baumwolle glich, sich von jener allerdings durch ihre außergewöhnliche Reißfestigkeit unterschied und zudem von Röntgenstrahlen nicht durchdrungen werden konnte.

Dies brachte mir das ungebetene Interesse des Militärs ein. Aufmerksame Herren in teuren, aber unauffälligen Sakkos quartierten sich gegen meinen Willen in meiner Plattenbauwohnung ein und dokumentierten gewissenhaft Geschwindigkeit und Volumen der Wucherungen, weshalb ich kaum noch alleine auf die Toilette gehen konnte.

Die abfallenden Materialproben verschwanden in silbernen Koffern und wurden in Bundeswehrlabors verfrachtet. Man könne mir nicht sagen, was man damit anstelle oder weshalb, aber versicherte mir, dass ich meinem Vaterland einen immensen Dienst erweise. Ich sei von nun an ein Interessenobjekt der nationalen Sicherheit und würde es sicher verstehen, dass ich daher das Land nicht mehr verlassen dürfte und einen Sensor implantiert bekäme, der meinen Aufenthaltsort an den diensthabenden Agenten meldet – codiert, selbstverständlich, ich müsse mir keine Sorgen über die Datensicherheit machen.

Ich verließ das Haus jedoch ohnehin kaum noch, da die Fäden, die sich aus meinem Nabel ergossen, inzwischen bis zu meinen Knöcheln reichten und ich Angst hatte, darüber zu stolpern.


Anmerkung von Ephemere:

von 2007

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