Paul, das Flügelwesen (gekürzte Fassung)

Erzählung zum Thema Schreiben

von  tulpenrot

Paul, das Fügelwesen
gekürzt

In diesem Fall hatte ich mich getäuscht. Es begann damit, dass ich das zartflügelige Wesen da vor mir auf dem Tisch schon gar nicht richtig einschätzen konnte. War es eine gemeine Stubenfliege oder eine Heuschrecke? Die Farbe und die Proportionen sprachen für eine Fliege, die angelegten Flügel, die langen aufgestellten Hinterbeine und sein leises Zirpen für eine Heuschrecke. Doch es war ein winziges Wesen,, viel zu klein für eine Fliege und erst recht viel zu klein für eine Heuschrecke. Ich wollte es eigentlich gar nicht beachten, sondern mit einem Tuch verscheuchen. Stattdessen nannte ich es Paul.

Paul und ich lebten nun schon eine ganze Weile mit einander. Es war gemütlich warm in meiner Wohnung auch im Winter, ich sorgte für genügend Nahrung und Wasser und war darauf bedacht, ihm keinen Schaden zuzufügen. Alle Stolpersteine räumte ich aus dem Weg, legte auf dem Fensterbrett in einem Blumenuntertopf einen kleinen Garten mit Kräutern an, darin sprang das kleine Krabbelwesen geschickt umher, manchmal so ausgiebig, dass die feinen Kräuter ganz niedergetreten waren, und ich lüftete regelmäßig. Ich spannte einen Seidenfaden zwischen den Fensterrahmen, auf dem es balancieren konnte, baute ein Röhrensystem aus Makkaroni-nudeln, damit es sich verstecken konnte. Ich ließ es auf den Saiten meiner Geige spazieren und leise zupfen. Es sollte für Paul ein Abenteuer sein, bei mir zu wohnen.

Eines Tages saß Paul auf der Fensterbank neben seinem Garten. Er sah viel mehr zusammengefaltet als sonst aus und beim näheren Betrachten entdeckte ich, dass er an seinen Flügeln nagte. Das konnte nicht gut sein, dachte ich. Er kann ja keine Musik mehr machen und das Fliegen und Segeln in den Lüften bleibt ihm versagt.
„Paul, was ist los?“, fragte ich besorgt.
„Ich fühle mich unglücklich“, antwortete er. „Ich finde mich nicht hübsch genug. Und ich denke, ich bin unnütz.“
Was sollte ich antworten? Wie zeigt man einem Krabbelwesen wie Paul, was sein Leben wert ist?
„Für mich bist du der schönste und liebste Paul“, antwortete ich.
Er schaute mich zweifelnd an. Anscheinend genügte diese Antwort nicht. Deshalb redete ich schnell weiter, hob all seine Vorzüge hervor, lobte seine akrobatischen Kunstfertigkeiten und sagte, dass es mir Freude bereitete, wenn er musizierte.
Es dauerte einen ganzen Tag, bis er sein Tief überwand. Eine lange Zeit für ein Flügelwesen wie Paul.

Danach jedoch entwickelte er sich prächtig. Die Spinnen im Raum scharten sich bewundernd um ihn und bauten ihm Netze, damit er bei seinen akrobatischen Übungen nicht zu Fall käme. Die Fliegen umtänzelten ihn und teilten mit ihm ihr Naschwerk. Die Ameisen bauten ihm einen Schlafplatz aus feinsten Ästchen und Laub. Paul hatte es gut.

Eines Tages kam Trude, meine Freundin zu Besuch. Sie hatte viel zu erzählen und Paul wurde neugierig. Er setzte sich auf ihr Ohrläppchen, um besser hören zu können.
Das war gefährlich und ich erschrak.
„Weg da, Paul!“ schrie ich.
Trude hatte auch schon die Hand gehoben und schlug nach Paul, um ihn zu verjagen. Sie wunderte sich.
„Mit wem redest du?“, fragte sie mich besorgt?
Natürlich war es mir peinlich zu gestehen, dass ich mit einem Krabbeltier redete und so log ich: „Ach, mir fiel gerade das letzte Theaterstück ein, das ich vorige Woche sah.  Da kam eine Stelle vor, wo eine Schauspielerin rief „Weg da, Paul“. Es war eine gefährliche Situation.“ Sie sah mich etwas ungläubig an. Doch ich schaute sie so ernsthaft und überzeugend an, wie ich nur konnte. Und um weitere Fragen abzuwenden, fragte ich sie schnell nach ihrem Vater.

Das war ein guter Einfall, denn meine Freundin begann ausführlich von allem zu erzählen, was ihr alternder Vater nun machte, seitdem er allein war. Und welche Mühe sie mit ihm hatte. Immer öfter sei er unzufrieden und traurig, immer häufiger müsse sie seine Einkäufe erledigen, weil er zu schwach wurde, und weil er menschenscheu wurde, musste sie ihm Gesellschaft leisten, seine Musik hören, seine Filme anschauen oder seine Bücher lesen. Er hatte sie ganz für sich in Anspruch genommen. Ein eigenes Leben sei fast nicht mehr möglich. Ich wunderte mich, dass meine Freundin das mit sich machen ließ, aber ich wusste ihr auch keinen Rat zu geben und hörte nur zu. Auch Paul spitzte interessiert seine Ohren, falls er welche hatte.

Als sie weg war, meinte Paul: „Pass bloß auf, dass du nicht einmal so wirst wie dieser Vater. Ich habe keine Lust, mich um dich zu kümmern.“
Das fand ich seltsam, schließlich war er ja nur ein Krabbeltier und niemals hatte ich daran gedacht, dass er im Alter einmal für mich sorgen müsste. Das war ja nun wirklich übertrieben. Aber der drohende Unterton verletzte mich.
„Na, das werden wir ja sehen. Bis dahin ist noch gewaltig viel Zeit“, antwortete ich gereizt.
Wie erwartet, kam es anders.

Eines Tages lag Paul ermattet und mit ausgestreckten Beinen neben einer Blumenvase. Er atmete kaum noch. Vorsichtig kitzelte ich ihn im Nacken mit einer Daunenfeder, die ich aus meinem Winteranorak gezogen hatte.
„Paul, was ist los?“, fragte ich besorgt.
Er öffnete mühsam seine Augen und jammerte: „Mir ist so schlecht.“
Ich öffnete das Fenster und fächelte ihm frische Luft zu.
„Wird es besser?“
„Nein“, krächzte er und fiel in eine tiefe Ohnmacht.
Mir wurde ganz bang. Wie hilft man nur einem Krabbeltier? Ich fühlte mich hilflos.

Da kam eine Ameise vorbei. Sie sah, dass mit Paul etwas nicht stimmte und begann seine Füße mit Ameisensäure einzureiben. Es stank ganz säuerlich in meinem Wohnzimmer.
„Weg hier!“ kommandierte eine fette Spinne, die wohl aus ihrem Netz von oben an der Zimmerecke alles längst beobachtet hatte.
„Er muss ins Krankenhaus.“
Sie hatte eine spinnenwebfeine Schleppe dabei, legte den bewusstlosen Paul hinein und vier Fliegen klebten sich die Enden der Schleppe an ihre Leiber, hoben sie zusammen mit Paul auf und flogen mit ihm aus dem Fenster.
„Wo ist dieses Krankenhaus? Wo kann ich Paul besuchen?“, rief ich angstvoll hinterher.
„Im Gebüsch bei den Bahnschienen, zweiter Ast rechts!“, riefen sie mir im Wegfliegen noch zu.

Gleich nach dem Frühstück ging ich los. An den Bahngleisen entlang gab es ganz lange Heckenreihen. Wo aber war das Krankenhaus? So viel ich auch suchte, ich fand es nicht. Am Nachmittag nach einem ausgiebigen Mittagsschlaf machte ich mich wieder auf den Weg, diesmal in der entgegengesetzten Richtung. Wieder ohne Erfolg. Seltsamerweise blieb auch die Spinne weg und die Fliegen waren ebenfalls nicht mehr zu sehen. Es war alles rätselhaft.

Auch am nächsten und übernächsten Tag veränderte sich nichts: Paul, die Spinne, die Ameisen und die Fliegen blieben verschwunden. Ich säuberte die Wohnung, fegte die Spinnenetze weg, saugte die Krümel auf, warf das kleine Gärtlein in den Kompost, wischte die Ameisensäure vom Tisch und nahm traurig Abschied von meinen feingliedrigen Gesellschaftern. Eigentlich waren sie ja nur lästig gewesen, beruhigte ich mich.

Am vierten Tag entdeckte ich in einer Ecke meines Arbeitszimmers ein winziges Stückchen Papier. Ich wollte es gerade in den Papierkorb werfen, da sah ich, dass darauf mit kleinsten Buchstaben etwas geschrieben stand. Ich musste eine Lupe nehmen, um es lesen zu können.
„Liebe Irene“, stand darauf. „Gräme dich nicht länger. Du wirst mich und die anderen nicht finden. Es musste so kommen. Das ist der Lauf der Welt. Aber ich habe dir etwas zurück gelassen. Jedes Mal, wenn du einen Fetzen Papier findest, wirst du darauf eine kurze Geschichte finden, die ich dir aufgeschrieben habe. Wirf es also nicht weg, sondern lies es! Manchmal wird es nur ein kleiner Gedanke sein, manchmal nur zwei Worte oder vier. Mach etwas daraus, und du wirst viel Freude haben und Freunde gewinnen, die dir ebenbürtig sind. Und keine Krabbeltiere wie wir. Dann wirst du glücklich sein. Das wünsche ich dir. Danke für alles. Dein Paul.“

Ich war gerührt.
Was waren meine kläglichen Versuche, ihm Gutes zu tun im Vergleich zu dem, was er sich für mich ausgedacht hatte, und was nun vor mir lag? All die vielen Möglichkeiten, solche Zettelchen zu finden, all die vielen Einfälle, die darauf standen!

Das war also Paul. Ich sagte ja schon: Ich hatte mich getäuscht


Anmerkung von tulpenrot:

verachte nicht die kleinen Anfänge und die unscheinbaren Gelegenheiten, die dich beflügeln

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