G e g e n G i f t

Kurzgeschichte zum Thema Vergessen

von  Mootz

Nichts wird mehr sein wie zuvor, dachte sie, während sie die Zeitschrift auf Ihrem Schoß durchblätterte ohne sich die Mühe zu machen, auch nur ein Wort zu verstehen. Ihr gesamter Organismus war allein auf dieses Vergessen eingestellt, auf das sie wartete, zwischen diesen mintgrünen Krankenhauswänden, die ihr einst so beängstigend erschienen waren, behängt mit vermeintlich beruhigenden Motiven drittklassiger Künstler. Die Hoffnung darauf, dass hier der Teufelskreis durchbrochen werden könnte, in dem sie seit Jahren ihre Runden drehte, nahm ihr die Angst vor diesen kalten Räumen.

Ihre Gedanken reisten noch einmal zu dem Punkt der in direkter Verbindung stand mit der immerwährenden Schwere des Augenblicks, die bald für immer Vergangenheit sein könnte. Noch einmal blickte sie im Geist in diese Augen. Ein letztes Mal spürte sie bewusst hinein in den Schmerz der sich wie tausend kleine Blitze in ihrem Körper verteilte und in ihren Adern brannte, als wären sie gefüllt mit Säure, die sie langsam von Innen zersetzte. Sie dachte an die griechische Sage, die ihr so oft ein Bild zu dem Gefühl vermittelt hatte, erstarrt zu sein in ihrer Hoffnungslosigkeit. Auch sie hatte sich einmal zu oft umgeschaut. Bis der Blick nach vorn der Vergangenheit so sehr gleichte, dass er mit ihr verschmolz und jede Vorstellung von Zukunft verleugnete. Eine Salzsäule im Limbus. Starr und unbeweglich.

Nun war sie soweit aufzugeben. Den letzten Schritt zu tun aus dieser Zwischenwelt in der sich fortwährend alles verband mit den losen Fäden aus einer anderen Zeit, von der sie nicht einmal mehr wusste ob sie jemals Realität gewesen war. Oft hatte sie das Gefühl gehabt, sie hätte sich verheddert in diesen Verstrickungen, ihre Gehirnwindungen verknotet,  nicht fähig etwas anderes zu fühlen als diese lähmende Stille in ihrem Brustkorb, die lauter war als das Pochen ihres Herzens.

Es war verstummt in dem Moment als sie den Glauben verlor.

Die Suche danach hatte sie hierher gebracht.

In dem Moment als sie von der klinischen Studie las, dachte sie, wenn es ein Heilmittel gegen diesen Kummer geben sollte, ein Gegengift gegen die Liebe, dann wäre sie die richtige Kandidatin um dies zu beweisen. Sie zögerte keine Sekunde lang bevor sie zum Hörer griff. Alleine die Möglichkeit von dieser scheinbar unheilbaren Krankheit befreit zu werden, reichte ihr aus um es zu versuchen. Das Formular, mit dem sie sich mit den Risiken der möglichen Nebenwirkungen einverstanden erklärte, überflog sie oberflächlich. Schädigungen des Nervensystems, Erinnerungsverlust, Emotionslosigkeit, Kreislaufstillstand und alles weitere erschienen ihr bei weitem als das kleinere Übel im Vergleich zur sogenannten Gegenwart. Nichts konnte schlimmer sein als dieses Gefängnis aus Gedanken, das ihr den Blick auf die Wirklichkeit vernebelte. Nicht einmal der Tod, der ihr so oft schon näher gewesen war als das Leben.

Die Ordnationstüre ging auf und ihr Name wurde aufgerufen. Sie legte die ungelesene Zeitschrift zu den anderen als wäre es ein kleines Ritual. Zurücklegen. Aufstehen. Nicht mehr umdrehen. Schritt für Schritt Richtung Vergessen.

Gleich ist es soweit, dachte sie, dann ist nichts mehr wie zuvor und mein Leben geht wieder weiter. Endlich.

Die Krankenschwester bereitete die Infusion vor. Eine Impfung gegen ihre tiefsten Empfindungen. Es war die letzte Lösung für den Folgefehler zu dem sie geworden war, der allem um sie herum die Gültigkeit entzog.

Obwohl sie sich fern erinnerte, früher einmal Angst vor Spritzen gehabt zu haben, genoß sie den Augenblick als die Nadel ihre Haut durchbohrte und in ihre Vene eindrang. Wie schön war dieser Schmerz, dessen Ursache man klar benennen konnte. Angst? Zweifel? Das alles war einmal. In einem früheren Leben. Endlich. Gegengift.

Die Wirkung trat schnell ein. Ihre Glieder entspannten sich synchron mit ihren Gedanken. Sie spürte wie ihr Kopf unwillkürlich nach vorne fiel. Das Treiben im Behandlungszimmer wirkte fremd und surreal. Alles um sie herum rückte langsam immer weiter in die Ferne. Die Stimmen verstummten. Das erste Mal seit langer Zeit hörte sie nur ihren Herzschlag. Regelmäßig und beständig.

Es war noch da.

Die Unruhe war einer subtilen Gleichgültigkeit gewichen. Als wären die Gehirnwindungen entknotet, die Synapsen linear angeordnet. Jeder Weg gerade. Keine Abschweifungen, keine Umwege mehr.
Sie musste bewusstlos gewesen sein, denn als sie den Blick wieder heben konnte um auf die Uhr zu schauen, war bereits über eine Stunde vergagenen. Langsam kam sie wieder zu sich. Etwas war anders. Sie spürte nichts mehr. Es hatte funktioniert.

Sie suchte die Erleichterung in ihren untoten Gefühlen. Doch sie konnte sie nicht finden. Nur grenzenlose Leere war von ihr übriggeblieben. Und in ihr widerhallte das Pochen ihres Herzens. Eigentlich müsste mich das verstören, hörte sie sich denken. Die Bedeutungslosigkeit war zu mächtig. Die Säure neutralisiert.
Sie spürte nichts. Nichts, außer dem Impuls zu beten. Doch sie wusste nicht, zu wem.

Nicht alles hatte sich verändert.

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