Geschichtenhändler

Aphorismus zum Thema Literatur

von  Ephemere

Romanciers sind keine Dichter, sondern Dealer. Wo der Minnesänger das Reale verklärt, liefern sie der Menschheit das Irreale, nach dem sie lechzt: Schemata, Kausalität, Projektionsfläche - ihre Fluchten.

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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (13.01.19)
Einspruch: Schemata und Kausalitäten gibt es im Irrationalen wie im Realen. Nur weil sich auf den ersten Blick Ursache und Folge sich dem Beobachter/Leser nicht offenbaren, heißt das nicht, dass jene nicht da sind.
Oder: Auch die Irrationalität folgt einer Inneren Rationalität. Und das Reale kennt unzählige Irrationalitäten.

 Ephemere meinte dazu am 20.01.19:
Die Aussage ist doch gerade, dass Schemata, Kausalitäten etc. in der Regel Fiktionen sind, mindestens aber fausthgrobe Vereinfachungen, der Erzählbarkeit halber. Und insbesondere unsere Romane sind in der Regel in erster Linie kreativ darin, die Welt schlüssiger und verständlicher zu dichten, als sie ist bzw uns sonst erscheint.

 TrekanBelluvitsh antwortete darauf am 21.01.19:
Nein. Die Welt soll nicht schlüssiger werden. Mag sein, dass dem ein oder anderen das so erscheint. Das liegt aber in der Regel daran, dass ein Roman sich auf ein Thema konzentriert und wir und unserem täglichen Leben in der Regel mit mehreren Themen gleichzeitig konfrontiert werden. Das ist aus Gründen der Dramaturgie nötig. Denn ein ständiger Hin- und Herspringen zwischen Themen würde kein Leser auf Dauer akzeptieren.

Aber ja: Wer das in einem Kunstwerk - denn dabei handelt es sich bei Romanen und Erzählungen - nicht akzeptieren kann, der sollte die Hände von ihnen lassen.

 Ephemere schrieb daraufhin am 21.01.19:
Du würdest also sagen, dass der Roman die vorhandene, doch verborgene Kausalität der sozialen Welt lediglich mit den Mitteln der Kunst sichtbar macht?

 TrekanBelluvitsh äußerte darauf am 21.01.19:
Das trifft es.

Das, was ich beschrieben habe, möchte ich dir an einem Stück "Wirklichkeit" verdeutlichen. Ich habe in einer Dokumentation über Serienmörder einmal einen Fallanalytiker sagen hören, dass ein Serienmörder ja nicht 24 Stunden am Tag ein Serienmörder ist (d.h. als Serienmörder tätig ist). In einem Krimi - und auch in dieser Dokumentation - liegt der Schwerpunkt der Betrachtung natürlich auf der "Tätigkeit als Serienmörder".

Dabei ist ja nicht zu leugnen, dass dieser Mensch auch anders ist/sein kann. Auf der anderen Seite ist z.B. das Hobby, das er mit Liebe betreibt, für die Gesellschaft ja nicht relevant und wird darum auch nicht wahrgenommen, bzw. weckt kein öffentliches Interesse.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist das von dir zurecht verwendete Wort "Kunst". Kunst und Kultur ist - zumindest für mich - immer eine Reflexion auf das Leben. Es ist niemals das Leben selbst.

Und in der Kunst funktionieren viele Dinge anders. Sterben bedeutet z.B. oft nicht physisches Sterben, sondern das brechen mit der eigenen Vergangenheit und ein Neuanfang. Viel verstehen das falsch, romantisch-düstere Charaktere oft mit fatalem Ausgang.

Du bis ja selbst Musiker. In deiner Musik bedienst du dich ja sicherlich auch an Bilder, Metapher, Betonungen und Verkürzungen, ja, sogar, Auslassungen (die jedoch oft aus dem Zusammenhang deutlich werden). Das nimmt der Musik dann meiner Ansicht nach jedoch nicht ihre Relevanz, bzw. ist ein Grund, ihr keine Relevanz zuzuschreiben. Allerdings muss ich als Hörer bereit sein, mich auf diesem Ausschnitt, den du mir als Musiker anbietest, zuzulassen, thematisch und in der Einsicht, dass es ein Ausschnitt ist.

Die Wissenschaft funktioniert eigentlich ähnlich. Aus der Menge von viele Klein- und sogar Kleinststudien ergibt sich das Gesamtbild. Und wenn die Klein- und Kleinststudien nicht repräsentativ waren, ändert sich das Gesamtbild. Das die Klein- und Kleinststudien inkorrekt waren, muss das jedoch nicht unbedingt bedeuten.

 Ephemere ergänzte dazu am 21.01.19:
Ich habe auch nie sagen wollen, dass das Fiktive, die Geschichte nicht relevant sei. Im Gegenteil. Es ist für mich nur ein anderer, komplementärer Modus - achtsame Beschreibung und Verklärung eines real existierenden Details, um ihm zu huldigen, wo also das Detail, der Einzelne ALS er/es selbst besungen werden soll vs. Erzählen von Kausalität, Kreieren von Schemata, also letztlich immer Verkürzung und Abstraktion, bei der das Detail, der Einzelne FÜR etwas steht. Wir können nicht ohne beide Modi. Im Gegenteil: Alles, was wir "Erkenntnis" nennen, hat mit dem intimen, unmittelbaren "erkennen" der Bibel nichts mehr zu tun, sondern fußt komplett auf unserer Fähigkeit, Abstraktionen, Kausalitäten, Spannungsbögen zu erzählen, von der Immanenz zur Transzendenz zu schreiten.

 TrekanBelluvitsh meinte dazu am 22.01.19:
Ja. Ohne Abstraktionsvermögen geht es nicht. Da kann man nichts werden... außer vielleicht US-Präsident...
;-)

 Lala (20.01.19)
Verstehe nicht, warum der Dichter oder Minnesänger besser wegkommt, als der Romancier? Dieser Aphorismus verschließt mir mehr, als er mir offenbart. Wahrscheinlich bin ich Romancier.

Cool.

 Ephemere meinte dazu am 20.01.19:
Der Dichter und der Minnesänger beziehen sich in der Regel auf etwas Reales (wenn auch nicht ohne Projektion), dem sie huldigen und dessen Sein sie deshalb möglichst gerecht werden wollen - zudem liefern sie Momentaufnahmen. Kurzum: sie wollen Momente, Seiendes verewigen, nicht Geschichten erzählen. Jede Geschichte ist eine Fiktion. Jede Fiktion ist eine Lüge. Ohne Lügen kommen wir übrigens nicht miteinander aus. Gesellschaft ist aufgebaut auf Geschichten.
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