Kennst Du den Geruch von frisch gemähtem Rasen?

Anekdote zum Thema Vergangenheit und Zukunft

von  bratmiez

Illustration zum Text
(von bratmiez)
Kennst Du den Geruch von frischgemähtem Rasen?

An jeder Ecke kann man den hier vernehmen. Diese Stadt ist ein Käfig. Bin auf ihren Straßen, wie ein eingesperrter Tiger, auf- und abstolziert. Vorbei an den kleinen Geschäften ... vorbei am Haus mit den tausend Augen ... vorbei an der alten Kirche ... und an einem der wenigen Spielplätze blieb ich stehen!

Leute drängeln sich hastig an mir vorbei. Eine Schar Menschenfleisch - alle gleich, nur riechen tun sie verschieden. Ein Martinshorn ... Dopplereffekt ... für einen Augenblick schrecke ich hoch und drehe mich zur Seite. Irgendwem hat es wieder erwischt. (meistens ist es das Herz!)

Die kleine Holzbank vor der Schaukel ist mit Laub bedeckt. Jahrelang saß hier keiner mehr. Ihr ehemals leuchtendes Blau blättert unbeachtet von der Lehne. Eine Gruppe von Jugendlichen, welche ihre Sozialstunden abarbeiten müssen, verantstalten ein Wettrennen mit den städtischen Rasenmähern im Park. Und da ist er wieder - der Geruch ... Du weißt schon?! Früher hab ich ihn geliebt, damals, als es den Sommer noch gab und Kinderlachen durch jede Ecke dieser Stadt wirbelte. Heute ist das anders. Mir tränen die Augen, ja, mein Körper wehrt sich dagegen.

Ich schaue hinauf in die Baumkronen. Nebenan auf der Straße hält der Müllwagen. Wurde auch Zeit - nach zwei Monaten Streik fährt er heute das erste Mal wieder. Murat, der Gemüsemann, steckt sich eine dieser kleinen Zigarillos an und schickt mir ein Lächeln in den Park. Nein, ich habe ihn nicht gesehen. Mein Blick vertieft sich in den alten Ästen der Kastanienbäume. Aber ich weiß, daß er da steht. Er steht immer da und raucht und lächelt.

Ein Meisenpaar schaut fragend zu mir herunter. Ich kann ihnen keine Antwort geben.
"Mami, Mami, bitte!!!" quengelt es plötzlich von links. "Jetzt nicht!" erwidert eine genervte Frauenstimme. "Nur einmal, bitte!" ... Dopplereffekt!
Als ich mich umsah, konnte ich sie nur noch von hinten sehen. Frau Schubert mit ihrer kleinen Sarah (gerade mal 3 Jahre alt). Jeder kennt sie hier. Es gibt nicht viele Familien mit Kindern in dieser verfluchten Stadt. Das fällt auf.

Wilder Efeu rankt durch die Sprossen des Klettergerüstes. Auch jenes war mal bunt angemalt.
Es ist verdammt kalt geworden. Seltsam, daß sie noch den Rasen pflegen, wo sie doch sonst über alles Gras wachsen lassen!

"Ist hier noch Platz?" ertönt eine warme Stimme. Murat ist es, der sein Geschäft gerade geschlossen hat. Ich nicke. Keine Ahnung was ich mit ihm sprechen soll? Und somit sitzen wir schweigend nebeneinander und rauchen seine dunklen Zigaretten.

Vor drei Jahren saßen wir schon einmal hier. Sie waren alle noch da ... es war Sommer!
Nichts ist schöner, als ein Kinderlachen! Hach, und wie sie quiekten und kicherten!!!
Seine zwei Mädchen und seine Frau hat er bei einem Autounfall verloren. Ne grausame Geschichte. Er dachte wohl dasselbe in jenem Moment. Das Meisenpaar gesellt sich zu uns. Sie nehmen auf der Schaukel platz.

"Mami, Mami!" können wir erneut von weitem hören. Wir drehen uns um, jedoch da ist nix, niemand. Frau Schubert wählte wohl bewußt einen anderen Heimweg. Wenn sie nach Hause kommt, wird sie wohl schnell noch ne Pizza aufwärmen und sich zu ihrem neuen Freund aufs Sofa gesellen. Und so hart wie das jetzt klingt: Gäbe es für die kleine Sarah kein Kindergeld, wäre die Kleine wohl längst schon irgendwo anders.
Diese Stadt ist nicht mehr meine Heimat. Die Ratten verließen das sinkende Schiff.

"Laß uns klettern gehen!" grinst mich Murat von der Seite an. Er nimmt meine Hand und zerrt mich zu dem verwilderten Gerüst. Ganz langsam betrete ich die erste Sprosse, und immer schneller werden meine Schritte, weil ich wieder diesen Geruch vernehme. Wir setzen uns auf den obersten Rand und lächeln in den Sonnenuntergang, den wir uns allerdings nur vorstellen, weil an diesem Ort, die Sonne weder auf- noch untergeht.

Die zwei kleinen Meisen stecken ihre Köpfe ins Gefieder, der Himmel legt seinen schweren dunklen Mantel über den Park und Murat singt mir ein Lied mit warmer, herzlicher Stimme. Ich weiß nicht mehr, ob es Traum oder Realität ist, aber plötzlich weht ein wilder Wind durch meine Haare. Ich öffne die Augen und sehe IHN.

Der Junge mit der blauen Strickmütze!

Er verscheucht die zwei Meisen und setzt sich rotzfrech auf die Schaukel.
Dann beginnt er sein alltägliches Ritual.
Und vor und zurück ... und vooooor ... und zurüüück ... und höher ... höööööher!
Dabei beobachtet er uns und schreit mit einem herzerreißenden Lachen:

" ICH KANN FLIEEEEGEN!!! "

Stunden später bin ich aufgewacht. Motorenlärm dröhnt in meinen Ohren. Das Klettergerüst hängt an einem dieser Baugeräte, die mit provokanter frischer gelber Farbe gestrichen sind.
Der Bürgermeister steht mit seinem falschen Grinsen vor ein paar Kameras und hält provisorisch einen Spaten in der Hand.

"Verschwinden Sie hier. Das ist eine Baustelle!" fönt mich einer von der Seite an.
Murat steht vor seinem Laden und raucht. Diesmal jedoch ist etwas anders.
Er hat das Lächeln verloren! Ich stehe auf, gehe wortlos die Straße entlang.
Vorbei an der alten Kirche ... vorbei am Haus mit den tausend Augen ... vorbei an den kleinen Geschäften ... und am Bahnhof bleibe ich stehen!

... und ich setz mich in die Eisenbahn und steige erst dann wieder aus, wenn ich eine Stadt gefunden habe - irgendeine Stadt, in der es noch ein Kinderlachen gibt!

... und der Junge, mit der blauen Strickmütze, folgt mir bis ins hinterste Abteil. Er drückt seine kleinen Hände an die Fensterscheibe, schaut mich mit großen hoffnungsvollen Augen an und schreit:

"WIR KÖNNTEN FLIEGEN!!!"

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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (24.04.13)
Hoffnungslosigkeit. Von Menschen gemacht. Beängstigend gut eingefangen.
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