Leben

Prosagedicht zum Thema Leben

von  unangepasste

ist Balancieren über ein Seil,
gespannt über einen Abgrund.
Jeden Tag läuft sie darüber,
die Arme ausgestreckt wie Flügel,
um das Kippen mit einem Hauch an Freiheit,
den sie ihr geben,
zu verhindern.

Wird sie durchkommen in dieser Welt
aus Wolkenkratzerbauenden und Neonlicht,
aus Plastikmenschen,
die in dem Gelb der Lampen glänzen
wie golden angemalt,

fragt sie sich,
fragt sie ihr Inneres,
fragt sie schweigend.

Eines Tages,
wenn sie das nächste Mal fällt
und ihre Augen
verbotene, verfluchte Feuchte zeigen,
wenn sie sich nicht mehr halten kann
auf jener dünnen Schnur,
dann darf sie
nicht vergessen,
die Maske
an das Seil zu knoten,
damit es aussieht,
als schwebe sie noch
dort
im Neonlicht.

Denn die Welt will
Neonscheinmädchen
ohne Tränen.


Anmerkung von unangepasste:

2004

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Kommentare zu diesem Text

janna (66)
(09.05.13)
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 unangepasste meinte dazu am 09.05.13:
Vielen Dank für deinen Kommentar und die Vorschläge.
"Leben" hatte ich in der ersten Zeile ursprünglich sogar weggelassen, ich hatte es allerdings wieder aufgenommen, da hier noch ein bisschen was zwischen Titel und Textbeginn steht. Vielleicht streiche ich es wieder (muss mal ausprobieren, wie es optisch wirkt).
Zu dem "wie": ich glaube, ohne ist in der Tat schöner.
Den Satz mit den Tränen muss ich mir noch mal anschauen.
Grünling (22) antwortete darauf am 09.05.13:
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 Dieter Wal (18.10.13)
"die Arme ausgestreckt wie Flügel,"

geflügelter Arme

:)

Super Metapher: "verbotene, verfluchte Feuchte", "Neonscheinmädchen" auch. Hörte früher gelegentlich von meiner Mutter: "Ein Indianer weint nicht"! (Immerhin sagte sie dabei nicht (Aber dachte?): "Ein deutscher Junge weint nicht". Dass auch Mädchen möglichst keine Tränen zeigen sollen, wäre mir neu. Als strategische Tränen ist es natürlich richtig. Aber niemand würde so etwas ernsthaft in Frage stellen oder kritisch erwähnen. Wer kann schon sagen, ob oder welche Strategie hinter Tränen weiblicher Menschen steckt? Mädchen dürfen weinen! So.
(Kommentar korrigiert am 18.10.2013)

 unangepasste schrieb daraufhin am 18.10.13:
Danke. Muss ich mir mit wacherem Kopf noch überlegen
Auch wenn meine Fassung ein Vergleich ist und deine unmittelbarer, bin ich mir nicht sicher, ob die Änderung das Bild im Leser intensiviert.

Ob Mädchen weinen dürfen - ich glaube, in der Gesellschaft sind Tränen allgemein verflucht. Es wird erwartet, dass jeder nach außen Stärke zeigt und auf eine bestimmte Weise funktioniert.
(Antwort korrigiert am 19.10.2013)

 Dieter Wal äußerte darauf am 18.10.13:
Bitte. Intensiviert nicht. Ist nur sprachökonomischer.

 Dieter Wal ergänzte dazu am 18.10.13:
Anfangs ließ mich das Bild an das Nietzche-Bonmot denken: Der Mensch balanciert auf einem Seil zwischen Tier und Übermensch. Das hinderte, mich tiefer auf den Text einzulassen. Deine Verwendung ist, glaub ich, frei von Nietzsche. Unser Kopfkino kann als falsch bemessene Brillen auf unseren Nasen sitzen und uns am klaren Sehen hindern.

 unangepasste meinte dazu am 19.10.13:
Daran hatte ich beim Schreiben ganz und gar nicht gedacht. Bezogen war es hauptsächlich auf die Gesellschaft / Berufswelt, in der man sich nur behaupten kann, wenn man keine Schwächen zeigt.
Paula (63)
(09.05.14)
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 unangepasste meinte dazu am 10.05.14:
Hallo Paula, danke, freut mich, dass das Bild Eindruck hinterlässt.
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