Von Vulkanen

Essay zum Thema Kultur

von  Ephemere

„Sei vorsichtig, was Du Dir wünschst“ – dass ausgerechnet der Urheber dieses Satzes unbekannt ist, entbehrt nicht der Ironie: Bei kaum einem Wunsch ist diese Mahnung so angebracht wie bei dem, unsere Idole und Inspirationsquellen unmittelbar zu erleben – diejenigen „großen Menschen“, deren Gedanken und Taten einem in ihren Bann ziehen. Wenn wir ehrlich sind, wollen wir nicht wirklich in ihre Nähe geraten oder es ihnen gleich tun. Wir ahnen: Wir würden es nicht aushalten.

Die Menschen, die neue Kapitel aufschlagen – oder gleich schreiben –, sind ein seltsames Phänomen: Sie befruchten, schöpfen, prägen ein Genre, eine Branche, Kultur oder  Gesellschaft und sind doch ihrer nächsten Umgebung weniger ein fruchtbarer als ein gefährlicher Boden. Um sie herum gedeiht oft wenig Gesundes…Verletzte, Verratene, Verlassene, Vergessene, Devote, Gebrochene, Fatalisten, Zyniker oder Opportunisten – es sind selten die starken und schönen Gewächse, die lange Zeit in diesem Biotop existieren.

Das Klischee behandelt das abnorme Gebaren der „Großen“, das ihr Umfeld zu einem gefährlichen Millieu macht, als Exzentrik – ein Spleen, den sie wie einen teuren Mantel tragen, weil sie ihn sich leisten können. Damit missversteht man den Weg zur Größe, die Metamorphose zum Prägenden, die auf die eine oder andere Weise stets mit dem Fluch des Midas verbunden ist.

Menschen, die man „groß“ nennt, weil sie zahllose Andere inspirieren, viele Leben prägen, Neues in Gang bringen und Kräfteverhältnisse ändern, sind nicht groß durch ihre Fähigkeiten. Sie sind groß, weil sie sich auf eine davon konzentriert und sich ihr ganz verschrieben haben. Sie haben eine Berufung, eine visionäre Idee, eine bestimmte Gefühlsanspannung zum Leitmotiv ihres Lebens erkoren und in dessen Mitte eingesetzt. Fortan rücken sie weder davon ab, noch sind sie bereit, in dieser Sache Kompromisse einzugehen. Sie sind unbeirrbar darin, dass ihr Ziel das Richtige ist, dass es ihnen zukommt, ihre Vision umzusetzen, und dass sie die Fähigkeiten haben, dieser Mission nachzukommen. Das macht sie rücksichtslos.

Rücksichtslos bedeutet: Sie fühlen sich in erster Linie ihrer Sache verpflichtet und gestalten folglich ihr Leben so, dass diese optimal gedeihen kann – was auch immer dafür an Umfeld und Entscheidungen notwendig ist. Soziale Normen und Wünschbarkeiten müssen dahinter zurücktreten – womöglich lassen sie Partner und Kind zurück, wenden sich gegen einstmalige Freunde, untergraben Autoritäten, brechen Gesetze. Im Umgang wirken sie für Viele grob, kalt und treulos, weil sie alles, was der Vision nicht dient, als unwichtig aussortieren…und einen Jeden schmerzt es, aussortiert zu werden. Auch gelten sie oft als realitätsfern und verantwortungslos, weil sie sich durch Widerstände – Kritik und Geringschätzung, Unterdrückung, finanzielle oder gesundheitliche Notstände – nicht von ihrem Weg abbringen lassen, sondern bereit sind, beinahe jede Rechnung zu zahlen, die ihnen für die Verfolgung ihres Ziels ausgestellt wird.

Sie sind Radikale, ihnen ist gemeinsam, dass sie aus sich heraus leben – sie gehen nicht von dem aus, was sie an Ressourcen und Regeln vorfinden, sondern haben den Anspruch nach ihren eigenen Normen und Ansprüchen zu leben, die sie aus ihrer Berufung ableiten. Sie sehen sich damit nicht gegen die gesellschaftlichen Normen gestellt, sondern jenseits davon. Unerschütterlich in ihren Überzeugungen “Ich habe die Wahrheit, ich kenne den Weg” und “Ich habe das Recht, diese Wahrheit zu überbringen und diesen Weg zu gehen” schließen sie “Ich habe das Recht nicht über den Schaden nachzudenken, den ich dabei an mir und Anderen anrichten mag”.

Dabei sind sie alles Andere als Zerstörer, Aufrührer oder gar Sadisten: Sie wollen Anderen nicht schaden, oft wollen sie ihnen nützen – indes gilt ihr Streben in der Regel „der Menschheit“, nicht dem einzelnen Menschen. Sie wollen auch nicht bestehende Ordnungen umstürzen, sondern etwas erschaffen – doch sie glauben an die Erhabenheit des Kreativen über das Normative. Wo bei den meisten Menschen “das tut man nicht” oder „das ist eben so“ eine Hürde wäre, gehen sie unbeirrt weiter, wenn das der Weg ist, den ihre Bestimmung ihnen weist. Sie sind überzeugt davon, dass dieser Weg von selbst zum Erfolg führt –  große Künstler interessieren sich nicht für das Publikum, große Philosophen nicht für die Philosophie, große Politiker nicht für Meinungsumfragen und große Unternehmer nicht für Marktforschung, auch wenn sie sich mitunter aus Berechnung dazu bekennen.

Sie sind auch nicht die ausbeuterischen Despoten, als die sie sich mitunter verhalten. Vielmehr sind sie wie Friedrich der Zweite der erste Diener ihrer Vision – unerbittlich gegen sich selbst und geknechteter, als sie es irgendwem Anderen zumuten. Denn sie akzeptieren, dass alle Seiten, Wünsche und Talente an ihnen, die nicht ihrer Vision dienen, dürsten und darben. Sie opfern ihren Wunsch, anerkannt, gemocht und geliebt zu werden – denn Erfüllung ist unwahrscheinlich, wenn man sich außerhalb der sozialen Kodizes bewegt. Sie setzen alles auf diese eine Karte und riskieren damit jedwede Form von Isolation. Auch die, die der Mutigsten bedarf: die Lächerlichkeit…im Glauben an ihre Vision halten sie an ihr auch noch fest, wenn man sie verlacht und für verrückt erklärt, im Vertrauen darauf, dass ihnen die Zeit rechtgeben wird.

Sie sind damit keine glücklichen Menschen, sondern stets Getriebene, Unausgeglichene, Unbefriedigte, oft Zerrissene. Was ihnen an Erfüllung möglich ist, liegt in ihrem Werk, nicht in ihnen selbst und fordert, dass sie von sich absehen – letztlich sind sie bereit, sich als das erste Opfer ihres Werks darzubieten. Tatsächlich leben die Meisten unter ihnen kürzer als ihre Zeitgenossen – konfliktreicher ohnehin.  Die andauernde Spannung, sich diese äußerste Konsequenz abzuringen, auf so Vieles zu verzichten und Widerstände und Zweifel stets neu zu überwinden, zehrt aus.

Wir hingegen – wir sind nicht groß und werden es nie sein. Unsere Künste, Pläne und Ideen werden niemals eine so prägende Wirkung entfalten, dass sie im Großen einen Diskurs, ein Genre, eine Branche, Kultur oder gar Gesellschaft ändern. Wir bleiben erträumte Helden im Reiche des „vielleicht einmal“ – denn einige von uns haben wohl genug Talent zu einer solchen Strahlkraft, manche womöglich auch die Leidenschaft und Kraft; doch keiner von uns bringt die Opferbereitschaft für diesen Weg mit. So werden wir wenig Wirkung über unseren unmittelbaren Umkreis hinaus entfalten und in diesem Sinne klein bleiben.

Doch werden wir dafür eine Hoffnung auf ein Glück nicht aufgeben müssen, die daraus geboren wird, sich selbst und andere liebevoll zu behandeln und liebevoll behandelt zu werden – sich als ein überaus begrenztes, immanentes Lebewesen zu begreifen und zu akzeptieren, statt partout Medium, Agent von etwas Transzendentem sein zu wollen.

Unser irdisches Glück ist das notwendige Klima, in dem die „großen Individuen“ im oben entworfenen Sinn fruchtbar werden können – weil es unter ihnen die Spreu vom Weizen trennt. Wahr ist: Betrachtet man die Meilensteine der Zivilisation, waren es meist die visionären Fanatiker, die den Ausschlag gegeben haben. Doch wahr ist auch: Kriege, Terror, Faschismus und Repression gehen nicht von den Ausgeglichenen und Glücklichen aus, die ihre Immanenz akzeptieren – sondern von den Unversöhnten, die nach Transzendenz auf Erden streben (und sei es um des Himmels willen). Wer sein immanentes irdisches Glück lebt, ist schwer zum Märtyrer zu gebrauchen und wird die konkrete Menschlichkeit meist über das Prinzip stellen.

So sichert die Ferne, aus der wir unseren Respekt, unsere Berührbarkeit und mitunter auch unsere Bewunderung darbieten, dass nicht allzu Viele von uns in den Ereignishorizont einer transzendenztrunkenen, weltvergessenen Lebensweise geraten, die notwendig ist für die agents provocateurs der Menschheit, doch katastrophal endet, wo sie zum Massenphänomen wird: Inspiration ja, Imitation…na ja.

Erteilen wir zuletzt einem das Wort, der die Höhen und Tiefen, die Großartigkeit wie die Entartung des fanatischen Passionswegs der eigenen Vision mit Eloquenz und Scharfsicht beschritten hat:

„Jeder Künstler weiß, wie fern vom Gefühl des Sich-gehen-lassens sein »natürlichster« Zustand ist, das freie Ordnen, Setzen, Verfügen, Gestalten in den Augenblicken der »Inspiration« – und wie streng und fein er gerade da tausendfältigen Gesetzen gehorcht, die aller Formulierung durch Begriffe gerade auf Grund ihrer Härte und Bestimmtheit spotten. Das Wesentliche, »im Himmel und auf Erden«, wie es scheint, ist, daß lange und in einer Richtung gehorcht werde: dabei kommt und kam auf die Dauer immer etwas heraus, dessentwillen es sich lohnt, auf Erden zu leben, zum Beispiel Tugend, Kunst, Musik, Tanz, Vernunft, Geistigkeit – irgend etwas Verklärendes, Raffiniertes, Tolles und Göttliches. Zugegeben, daß dabei ebenfalls unersetzbar viel an Kraft und Geist erdrückt, erstickt und verdorben werden mußte (denn hier wie überall zeigt sich »die Natur«, wie sie ist, in ihrer ganzen verschwenderischen und gleichgültigen Großartigkeit).“, schrieb Nietzsche in „Jenseits von Gut und Böse“ –  und beschrieb zugleich „die erschreckliche Gefahr“, dass solche freien Geister unter dem Druck und der Entbehrung „missrathen und entarten könnten.“

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Kommentare zu diesem Text

Jack (33)
(19.05.13)
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 Ephemere meinte dazu am 19.05.13:
Ja, aber gerade deshalb wird es so oft verwechselt und fehlinterpretiert.

 TrekanBelluvitsh (19.05.13)
Hm, du beginnst sehr gut, aber am Ende gibt es doch einige Kritikpunkte:

a) "Sie sehen sich damit nicht gegen die gesellschaftlichen Normen gestellt, sondern jenseits davon."

Das stimmt und ist dennoch sehr vereinfacht dargestellt. Denn Damit sie 'groß' werden können, so handeln, wie sie es tun (wollen) ist es immer nötig, dass sie im gesellschaftlichen System mitspielen können und damit Teil des Systems werden. Darum sind sie eben auch immer Teil ihrer Zeit, auch wenn sie sie extrem prägen. Sonst würden sie auch keine Bewunderer finden.

b) "Dabei sind sie alles Andere als Zerstörer, Aufrührer oder gar Sadisten:"

Sorry, aber das ist schlechthin Blödsinn. Jeder 'große' Künstler hat seine - zumeist toten - Hasswiderpart, der ja "sooo fürchterlich oberflächlich war und alle Ehre - ihm Gegensatz zu mir - nicht verdient hat.' Da brauchst du dir ja nur das Gebaren mancher 'Künstler' hier auf KV ansehen, die jeden guten Text als persönliche Beleidigung betrachten.
Und für die historischen 'Großen' gilt das ja nun überhaupt nicht! Europa mag von Napolens Feldzügen profitiert haben, weil so moderne, demokratische und aufgeklärte Gedanken Verbreitung fanden und diese zerstörten das ancien régime. Dabei war das, man muss es so deutlich sagen, nur ein ironischer Kollateralschaden der Geschichte. Wären die Ideale der französischen Revolution faschistisch gewesen, hätte Napoleon diese mitgebracht, denn für ihn war all das bloß Verwaltung der eroberten Gebiete.

c) "Sie sind auch nicht die ausbeuterischen Despoten, als die sie sich mitunter verhalten."

Dasselbe. Nicht selten kommen die 'Großen' wie ein verrückter James-Bond-Bösewicht daher, denen es oft je nicht nur um Geld/Macht geht, sondern um die Errichtung einer 'neuen Weltordnung'.
Ähnlich verhält es sich mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Vielen Menschen erscheint sie heute menschenverachtend und willkürlich. Und das war sie auch, aber dennoch war ihr Auslöser eine aberwitzige Idee des Deutschtums - die die Nazis nicht erfunden haben, die es schon vor ihnen in der Gesellschaft gab(damit: siehe a)), aber sie haben sie auf ihre zerstörerische Spitze getrieben.

d) "Wir hingegen – wir sind nicht groß und werden es nie sein."

Nun, dieser Satz scheint soweit zu stimmen, ist jedoch eigentlich nur ein Allgemeinplatz, weil es hier um die Quantität und nicht die Qualität geht. Ob diese oder jene nun zurecht 'Große' genannt werden, soll einmal dahingestellt bleiben, aber die nächsten warten ja schon in der Masse, um, weil das was sie tun gerade gesellschaftlich opportun ist, 'groß' zu werden.


Und nicht dass du mich jetzt falsch verstehst. Ich finde deinen Essay sehr lesenswert!

 Ephemere antwortete darauf am 04.06.13:
Vielen Dank für die Auseinandersetzung mit dem Essay - für das Lob, noch mehr aber für die Kritik.

Zu den Punkten:

a) Dass sie im Kontext ihrer Normen agieren müssen, um erfolgreich zu sein, ist - wie für jeden Menschen - unbestreitbar. Dass sie sich jenseits davon empfinden bedeutet nicht, dass sie sie nicht gelegentlich zu ihrem Nutzen anwenden können. Oft jedoch sind sie darin nicht sonderlich geschickt und wollen es zumal nicht sein, sondern geben eben nichts auf die Bewunderer im Heute bzw. in der Masse und bauen vielmehr auf die Leuchtturmwirkung bei Wenigen oder darauf, dass ihre Sache in der Zukunft Gehör finden wird...Sokrates wurde zum Tode verurteilt, van Gogh verlacht, Strawinski wurde für "Sacre du Printemps" ausgebuht und geschlagen, Nietzsche war ein Ausgestoßener, Jesus wurde ans Kreuz genagelt (wenn man die Historizität glaubt), etc. - die "Größe" wurde ihnen erst im Nachhinein zugesprochen, zu Lebzeiten hätten sie nur die Wenigsten "groß" genannt. Und die Bewunderer ex post bewunderten sie nicht zuletzt WEGEN dieser Weigerung, ihre Überzeugungen für den Markt zurechtzustutzen.

b) Ich sagte nicht, dass sie nicht quälen, aufrühren oder zerstören --- sondern dass sie keine Zerstörer, Aufrührer oder Sadisten sind. Das ist ein großer Unterschied: Zerstörung, Qual, Revolution sind ihren Mittel zu ihrem Zweck, dem sie ihr Leben gewidmet haben und der ihnen fast alle Mittel heiligt. Sie sind ihnen nicht Selbstzweck...sie haben an der Zerstörung keine Freude, sondern am Schaffen, meinen aber, etwas Bestehendes zerstören zu müssen, um ihrem Neuen Raum zu machen. In Charakter wie Wirkung sind das verschiedene Paradigmen...ihnen geht es um die Freiheit ZU etwas, nicht um die Freiheit VON etwas. Dass man sich um ZU etwas Bestimmten frei zu sein, VON vielen Dingen - womöglich auch lautstark und gewaltsam - befreien muss, ist dann lediglich "Kollateralschaden". Und ich glaube nicht an die Notwendigkeit einer Dialektik ("Hasswiderpart")...oft war das mehr der Einsamkeit der Großen geschuldet (ein obsessiver Hass, eine andauernde Fehde, ist besser als niemanden zum Kommunizieren zu haben) als dass es für ihr Werk wirklich nötig gewesen wäre. Und "große Künstler" in den Foren- und Kommentardiskussionen von kV zu suchen war nicht Dein Ernst, oder?

c) s.o. - das mit dem "verrückten Bond-Bösewicht", oder vielleicht eher dem "Joker" aus Batman stimmt gerade bei politischen "Großen" nicht selten, doch auch hier: Es geht nicht um den Rausch an der Macht, sondern die asketische Opferbereitschaft für das Ideal...Fanatismus statt Geilheit, eher Che Guevara und Steve Jobs oder als Nero und BCG-Matrix. Dass dabei aber ebenso Fürchterliches herauskommen kann, sei nicht bezweifelt.

d) Im Gegenteil, es geht hier um die Qualität, nicht die Quantität: Um den Fanatismus, alles auf eine Karte zu setzen, alles einer Begabung, einer Vision unterzuordnen. Dazu sind die Meisten nicht bereit - und das wiederum ist es, das die Großen groß macht (während zum Glück andersherum noch lange nicht jeder Fanatiker und "Visionär" groß wird).

Lieben Gruß

Jan
(Antwort korrigiert am 04.06.2013)

 TrekanBelluvitsh schrieb daraufhin am 04.06.13:
Habe deine Antwort mit Spannung gelesen. Werde dir darauf noch einmal antworten - aber nicht heute, weil ich im Augenblick mich nicht entsprechend fühle...

 TrekanBelluvitsh äußerte darauf am 30.06.13:
"zu Lebzeiten hätten sie nur die Wenigsten "groß" genannt."
Jein. Vielleicht galten zu Lebzeiten einige nicht den meisten als 'groß' - wobei man immer berücksichtigen muss, dass es jahrtausendelang für Nichtkönige schwer war überhaupt bekannt zu werden, weil die entsprechenden Kommunikationsmöglichkeiten fehlten -, aber sie hatten doch fast immer eine (mehr oder weniger) kleine, treue, ja, fast fanatische Anhängerschaft.

Spätere Bewunderer tun aber in der Regel eines: Sie verzerren das Bild des bewunderten Menschen. So ist es z.B. heute fast unmöglich, den Menschen Jesus hinter all den Mythen und Legenden zu erkennen und - gewollt oder nicht gewollt - damit geht auch ein nicht unerheblicher Teil dessen, was er dachte, tat und wollte verloren. Im Ergebnis wird er 'groß' gemacht, damit andere in seinem Fahrwasser sich auch groß fühlen können.

" Ich sagte nicht, dass sie nicht quälen, aufrühren oder zerstören --- sondern dass sie keine Zerstörer, Aufrührer oder Sadisten sind. Das ist ein großer Unterschied: Zerstörung, Qual, Revolution sind ihren Mittel zu ihrem Zweck, dem sie ihr Leben gewidmet haben und der ihnen fast alle Mittel heiligt.
Das ist eine extrem positivistische Deutung menschlichen Handelns, die auch der aufklärerischen Ethik, mithin aller Ethik widerspricht. Und genau da liegt der Fuchs im Salz. Denn wenn diese Großen behaupten, dass sie keine Zerstörer sind, aber de facto zerstören, weil es ihre 'Vision' bzw. deren Umsetzung ihnen - und nur ihnen. Wenn andere so handeln fallen Worte wie: Verbrecher, Terroristen, Mörder etc. - das erlaubt, dann stellen sie sich über alle anderen Menschen. Und ein Gottkomplex hat immer teuflische Folgen.

Ich hatte einmal eine Hörspiel auf einer LP "Mickybold und die Ritter der Tafelrunde" in der ein Drache sagte: "Gesetze! Ich kenne keine Gesetze. Ich mache mir meine Gesetzte selber. Aber auch daran halte ich mich nicht!" Das ist a) absurd und b) macht es diese 'Großen' unberechenbar für jeden, der nur zufällig in ihre Nähe kommt. Zu behaupten, sie wären keine Zerstörer ist dann fast schon einen autistische Behauptung.

"Es geht nicht um den Rausch an der Macht(...)
Auch das: Sehr optimistisch. Natürlich geht es auch um Macht. Sie ist nur so lange Mittel zum Zweck, solange man sie nicht hat. Kaum ein Mächtiger gibt sie freiwillig ab, behauptet, er habe ja noch 'Großes' vor. Und wir haben uns daran so gewöhnt, dass wir es nicht verstanden haben, als Papst Benedikt XVI. - nicht damit wir uns falsch verstehen: Ich war schon kein Fan von ihm, als er noch der Ratzinger war, der alte Großinquisitor - abdankte. Wäre er nicht der Papst und damit eine 'heilige' Figur gewesen, er hätte nur Unverständnis und Kopfschütteln geerntet.

"alles einer Begabung, einer Vision unterzuordnen."
Das mag ein Teil des Bildes seien und die 'Großen' mögen sich auch gerne so sehen und es verbreiten, aber es entspricht nicht der Wahrheit. Ab einer gewissen 'Größe' sind sie gezwungen mit den gesellschaftlichen Eliten bzw. denjenigen, die sie brauchen (oder:die sich von ihnen benutzen lassen) zu kooperieren. Man denke hier wieder nur an Jesus und sein: "Gebe dem Kaiser, was des Kaisers ist." Einstein war für den Bau der Atombombe und war damit auf der Linie der militärischen Denker und ein Adolf Hitler wäre ohne einen Teil der rechtskonservativen Elite mit seiner NSdAP im Sumpf der Bedeutungslosigkeit untergegangen. Und nach der 'Machtergreifung' wendete er sich gegen den revolutionären Teil seiner Bewegung und ließ ihn mit Hilfe von politisch-gesellschaftlichen Stützen, hier: Reichswehr, ausschalten. Ganz nebenbei: Durch Mord, sprich: Zerstörung.

 Ephemere ergänzte dazu am 09.09.13:
Danke für Deine spannende Replik! Hierzu:
- Verzerren des Bildes: unbedingt, deshalb soll der Essay auch dazu anregen, das Gefährliche an diesen "Großen" zu sehen...und mit "gefährlich" meine ich durchaus auch "hässlich" und in gewisser Hinsicht "krank" und nicht nur das verruchte "verboten" aus Sonnenallee. Man darf das nicht heroisieren, sondern muss versuchen, Beiden Seiten der Medaille möglichst nüchtern Rechnung zu tragen (womöglich daher mit weniger Pathos als in meinem Essay). Nebenbei sei angemerkt, dass sich gerade Jesus nicht unbedingt als Beispiel für diese Verzerrung, das Bild, das den Abgebildeten überwuchert und auffrisst, eignet - denn seine Historizität, ob es jemals einen konkreten, einzelnen Menschen hinter dem Bild gab ist durchaus umstritten.

- "extrem positivistische Deutung". Keineswegs - ich bin der Meinung, dass ich in dem Essay deutlich genug gemacht habe, dass die Risiken für die Gesellschaft nicht die Sadisten, Zerstörer etc. sind...das sind Spinner, die schnell als solche gesehen werden und die daher selten größere Gefolgschaft erreichen, sondern: "Kriege, Terror, Faschismus und Repression gehen [aus] von den Unversöhnten, die nach Transzendenz auf Erden streben" und denen dafür der Zweck jedes Mittel heiligt, inklusive derer, die man oben genannten Gruppen zuordnen würde. Denn sie können mit ihrer Vision, Besessenheit, mit dem, was über sie selbst hinausgeht (oder hinauszugehen scheint) bezirzen, überzeugen, Wirkmächtigkeit entfalten - auch in einer Demokratie. Eine Gesellschaft kann sich nur wenige von ihnen leisten und muss ihnen viele Versöhnte, Geerdete entgegenstellen, sonst versinkt sie in Extremismus jeder Art. Zugleich sind es aber diese Vulkane, die eine Gesellschaft provozieren, an- und aufstacheln, aufmischen - und ihr damit ermöglichen, neue Sichtweisen zu integrieren, neuen Umweltbedingungen Rechnung zu tragen.

Mit Deiner Bemerkung "b) macht es diese 'Großen' unberechenbar für jeden, der nur zufällig in ihre Nähe kommt. Zu behaupten, sie wären keine Zerstörer ist dann fast schon einen autistische Behauptung." triffst Du den Nagel auf den Kopf, aber ziehst m.E. den falschen Schluss: Denn BEIDES stimmt: gerade weil sie keine Zerstörer (um des Zerstörens Willen) sind, sind sie unberechenbar...sie segnen und fluchen, sähen und sengen, sind WILLKÜRLICH (freilich nicht aus Sicht dessen, der ihr Leitmotiv, ihre Vision, ihren Fluch kennt oder gar teilt...aus deren Sicht sind sie überaus konsequent). Der Zerstörer, der Sadist, ist geradezu ermüdend berechenbar - und daher in der Regel recht gut einzuhegen.

- "es geht nicht um den Rausch an der Macht": Du schreibst "natürlich geht es auch um Macht" und hast damit natürlich recht. Der Schlüssel ist das "AUCH". Das habe und hätte ich nie bestritten. Man kann auch sagen "es geht nur um Macht", aber das ist eine Frage der Definition. Ich meinte - und das hast Du ja auch so verstanden - dass es nicht um die Macht geht, als Selbstzweck willkürlich zu sein und sich an ihrer Ausübung aufzugeilen, sondern um die Macht geht, etwas umsetzen, zu gestalten, auch gegen Widerstände (und darin eisern konsequent zu sein, auch sich selbst gegenüber). Macht als Mittel ist gewünscht, nicht Macht als Aphrodisiakum. Die Grenzen sind zweifelsohne fließend. Indes kann man mit einigem Recht behaupten, dass überhaupt der Größenwahn, sich eine Vision zuzubillen, deren man sich selbst und alle anderen unterwerfen will, in deren Dienst man etwas (um)formen möchte, lediglich eine Verkleidung, eine Sublimierung eines Willens zur Macht ist. Dann landet man allerdings schnell in Nietzsche/Schopenhauerischen Macht- oder Freud/Reichschen Triebbegriffen, die so weitgehend sind, dass sie eine feinere Distinktion in unserem Zusammenhang kaum ermöglichen.

- alles einer Vision unterordnen: kein Widerspruch m.E. , vielmehr schrieb ich: "Große Künstler interessieren sich nicht für das Publikum, große Philosophen nicht für die Philosophie, große Politiker nicht für Meinungsumfragen und große Unternehmer nicht für Marktforschung, auch wenn sie sich mitunter aus Berechnung dazu bekennen." Womöglich hätte ich das noch weiter ausführen sollen, denn: ja, Du hast Recht - wenn sie sich aus Berechnung dazu bekennen, fügen sie sich doch zumindest auf Zeit in bestehende Ordnungen ein bzw. finden sich damit ab...zwar mit innerer Erhebung über sie und mit dem Ziel, sie zu überwinden, doch in der Regel überwuchert die Institution den Einzelnen, bevor er sie verändern kann. Insofern ist das vielleicht der blinde Fleck vieler "Großer": Dieser Selbstbetrug, solche Allianzen nur auf Zeit und um ihres eigenen Ziels willen zu schließen, währen sie indessen in einer Weise Tanzbär und Erfüllungsgehilfe der Ordnungen werden, die sie eigentlich nur "von innen heraus" benutzen wollten.

 TrekanBelluvitsh meinte dazu am 28.10.13:
Ich möchte nur noch zu einem kleinen Teil Stellung beziehen:
(...) dass die Risiken für die Gesellschaft nicht die Sadisten, Zerstörer etc. sind...
Einige Überlegungen in der jüngsten Vergangenheit und auch z.B. das Lesen der Himmler-Bio von Peter Longerich oder das Beschäftigen mit forensischer Psychologie und Psychologie im Allgemeinen hat meine persönliche Sicht der Dinge noch einmal dahin radikalisiert (oder: noch einmal misanthropiert), dass wir von ein sehr großen Menge von Menschen umgeben sind, die auf der Kippe stehen.

Damit meine ich, dass die nur von gesellschaftlichen Regeln und Konventionen und Gesetzen daran gehindert werden, als Zerstörer aufzutreten oder ihrem Sadismus freien Lauf zu lassen (Ich bin zu wenig Psychologe um einen genauen Trennstrich ziehen zu können, aber es scheint mir doch ein bedeutender Unterschied zwischen Zerstörern und Sadisten zu bestehen. Sprich: Alle Sadisten sind (potentielle) Zerstörer, aber nicht alle Zerstörer sind Sadisten). Aggressivität und der Hass auf ihre Feinde - eine Gruppe die sie zumeist vollkommen willkürlich definieren - ist für ihr eigenes Selbstbild konstituierend und sie setzen das nur nicht in Taten um, weil sie a.) eben von gesellschaftlichen Konventionen daran gehindert werden, b.) einfach zu feig dazu sind.

Zu b.): Aber nur weil sie das sind, heißt das nicht, dass sie nicht davon träumen. Der Wiener forensische Psychologe Thomas Müller hat einmal (sinngemäß) gesagt: "Man wacht nicht morgens auf und ist ein Serienmörder."
Was er damit meint ist, dass diejenigen, die solche Taten begehen, sie zuvor schon vielfach in Gedanken durchgespielt haben.

Allerdings denke ich, dass ein solches Verhalten nicht allein auf 'Große' beschränkt ist. Mit anderen Worten: Wir sind von jede Menge Himmlers da draußen umgeben... und wenn man Kommentare mancher User aufmerksam liest, auch hier auf KV.

 Ephemere meinte dazu am 28.10.13:
Dass sehe ich genauso, deswegen ist es essentiell wichtig für eine jede Gesellschaft, dass es in der Dialektik zwischen Bewahrern und Aufrührern, von Normen geleiteten Menschen und solchen, die sich jensetis der Normen stellen, stets mehr Bewahrer und Normengeleitete gibt.

Es braucht die Empörer, die Agents Provocateurs, die Normen in Frage stellen und die Möglichkeiten anderer oder neuer Regeln und Lebensweisen aufzeigen, weil sonst eine Gesellschaft in ihrem Konservativismus bräsig wird und an mangelnder Anpassungsfähigkeit scheitert. Es ist auch nötig, dass sie in ihrer Konsequenz rücksichtslos sind, sonst wird jede Utopie und jeder Widerstand schon im Keim assimiliert.

Doch hätten solche - von "Vulkanen", die wirklich fruchtbare Erde hinterlassen, bis zu Schmalspurhimmlern, die eher Mitglied der Droogs sein könnten - über längere Zeit eine Gestaltungsmehrheit, würde alles in unkalkulierbarer Willkür und Exzessen versinken; bald wäre dann von einer Gesellschaft nur noch desintegrierte Anarchie oder ein riesiges Gulag übrig.

 TrekanBelluvitsh meinte dazu am 30.10.13:
"ist es essentiell wichtig für eine jede Gesellschaft, dass es(...) stets mehr Bewahrer und Normengeleitete gibt.
Es braucht die Empörer, die Agents Provocateurs, die Normen in Frage stellen und die Möglichkeiten anderer oder neuer Regeln und Lebensweisen aufzeigen,
Das kann man nicht stark genug betonen. Gesellschaft muss sich bewegen, aber von einer gefestigten Basis aus. Man hat in Deutschland vielleicht manchmal den Eindruck, dass sich hier nichts oder nur viel zu wenig und zu wenig bewegt. Aber Veränderungen haben dann die beste Möglichkeit sich durchzusetzen, wenn sie auf Dauer viele Menschen mitnehmen. Allerdings führt das dazu , dass es  Fortschritt nur in kleinen Dosen gibt und leider nicht im Supermarkt.

Aber, ganz gleich wie man zu ihnen steht, ist die Entstehung der Piratenpartei und gutes und auch beruhigendes Beispiel für das Politische in unserer Gesellschaft, denn sie konnten entstehen und wachsen (und wieder in sich zusammenfallen, was eben mit ihrer sehr begrenzten Programmatik zusammenhängt) ohne das religiöse, politische oder sonstige Spinner gewaltsam gegen sie vorgingen. Ich denke, dass zeigt eine grundsätzliche Bereitschaft zur Veränderung - der natürlich der menschlich Drang des Bewahren-wollen ganz erheblich entgegen steht.

Don't get me wrong, es gibt vieles, was mich an diesem Land ärgert, aber ich denke, die Gesellschaft und politische Kultur in den allermeisten Ländern der Welt ist da keine Alternative. Also kann man - jeder in seinem Bereich - den Mund aufmachen und muss hoffen - und sich darauf einstellen, das diese Hoffnungen in der Regel enttäuscht werden! Kleine Dosen halt...
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