Wandersmann

Parabel

von  poena

Einem Mann hatte das Leben zwei  verschiedene Augen geschenkt.
Mit dem einen konnte er das Schöne in allen Dingen sehen. Ruinen wurden zu Schlössern, Blech zu Silber, Glasscherben funkelten gleich Edelsteinen, ein einzelner Moment versprach glückserfüllte Ewigkeit und bodenloses Dunkel wurde zu nachtblauer Tiefe, wenn er es mit diesem einen Auge betrachtete.
Mit dem anderen sah er nur Verschwommenes in der Ferne.
Verließ er sich auf dieses Auge, schien das Glück in der Entdeckung des Unbekannten in der Fremde zu liegen.

Und da sein Blick ihm nun also niemals nur das zeigte, was wirklich vor ihm lag, war der der Mann schon oft getäuscht und unglücklich und arm darüber worden, wie unverlässlich das Leben sich ihm gegenüber benahm.
Also begab er sich auf die Wanderschaft, um selbst sein Glück zu finden und Reichtum zu erlangen.

Nach langen Jahren des Suchens und Entbehrens fand der Mann am Rande einer unüberwindbaren Schlucht eine Schatzkiste, die bis unter den Deckel mit wunderbaren Dingen gefüllt war, die das Herz jedes Edelmannes erfreut hätten.
Der Mann  ließ sich ungläubig vor der Truhe nieder und drehte jedes einzelne Stückchen, das darin lag, in den Händen hin und her, um die Wahrhaftigkeit seines Fundes zu ergründen.
Das eine Auge freute sich an der Vielfalt der Farben von geschliffenen Steinen, edlen Schmuckstücken, es bemerkte den Glanz der goldenen Ketten und silbernen Reifen, das Licht der blinkenden Taler spiegelte in aller Klarheit, dass dies alles nun ihm gehörte.
Das andere Auge sah nichts davon. Es sah den zarten Nebel am Horizont, der in seiner getrübten Pastelligkeit noch viel schönere Farben und größeren Reichtum versprach, wenn man erst dahin gelangt war.

Nach Stunden der Prüfung klappte er die Truhe zu, richtete sich seufzend auf, stand ein Weilchen reglos mit erhobenem Haupte in der Abenddämmerung, den Blick starr geradeaus gerichtet.
Mit  einem Male brach ein furchtbarer Schrei aus seiner Kehle hervor. Der Mann schlug sich rasend vor Schmerz mit beiden Fäusten auf die Brust, er schluchzte und weinte und riss sich die Haare, bis er vor Erschöpfung zusammenbrach. Lange blieb er so liegen.

Als er sich getröstet hatte, trat er den Schatz mit einem beherzten Fußtritt  in den Abgrund und stolperte davon.

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Kommentare zu diesem Text


 ViktorVanHynthersin (21.06.13)
Der Schritt/Tritt ist nachvollziehbar, nur glaube ich, dass wir es hier mit dem Ewigen Wanderer zu tun haben. Gefällt mir Deine Paralbel
Herzliche Grüße
Viktor

 poena meinte dazu am 27.06.13:
vielen dank fur deine idee zum text! lg, s
ChrisJ. (44)
(21.06.13)
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 poena antwortete darauf am 27.06.13:
schön, wenn etwas ankommt bei dir! lg, s

 Isaban (21.06.13)
Das Problem beim Glück ist, dass man manchmal erst im Nachhinein wahrnimmt, das das, was einem da in die Hände fiel ein Schatz ist, dass man zu einem bestimmten Zeitpunkt glücklich war - oder dass man den passenden Menschen zum Glücklichsein schon gefunden hatte und wieder losgelassen hat. Wenn Schätze zu leicht zu finden und zu behalten wären, wären sie vermutlich nicht mehr so viel wert, was man zu einfach haben kann, wird oft sehr gering geschätzt.

Liebe Grüße

Sabine

 poena schrieb daraufhin am 27.06.13:
das ist schon ganz schön nah bei meiner interpretation, danke! lg s

 irakulani (21.06.13)
Vielleicht ist das Glück zu suchen wichtiger als es zu finden. Den Schatz zu behalten, hätte bedeutet am Ende des Weges angelangt zu sein, - und was dann?

Und was ist Glück? Edelsteine, Reichtum?

Oder vielleicht doch eher das "Unfassbare", das im Nebel liegt, dass und aber mit Hoffnung erfüllt und weiter wandern und suchen lässt?

Tolle Parabel, Poena!

L.G.
Ira

 poena äußerte darauf am 27.06.13:
ja, du stellst einige wichtige fragen zu dem text.- aber noch nicht die die ich am wesentlichen finde.. :o) lg s
baerin (53)
(22.06.13)
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 poena ergänzte dazu am 27.06.13:
ein bisschen von allem und noch eine ebene tiefer, lg s
baerin (53) meinte dazu am 27.06.13:
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 poena meinte dazu am 28.06.13:
ich finde nicht, dass der tritt in den abgrund ihn unsympathisch macht.- er verkennt einfach die lage,etwas wirklich wertvolles gefunden zu haben...er ist gewöhnt daran, dass sein schönfärbauge ihm auch hässliches und wertloses zu einem schatz macht. er ist sich einfach nur zu sicher, dass er nicht sein glück gefunden haben kann.- metaphorisch und tatsächlich betrachtet.
(Antwort korrigiert am 28.06.2013)
baerin (53) meinte dazu am 29.06.13:
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Parkplatzbizon (32)
(05.07.13)
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 poena meinte dazu am 06.07.13:
ich dankedankedanke dir, liebizonski-lu. dein verstehen und dein kommentarski bedeuten mir sehr!!!viel. und: deine geschichte, die mir gewidmet war, hab ich in der mappe der liebsten. s
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