Blindes Vertrauen

Anekdote zum Thema Vertrauen

von  Bluebird

Es war der vorletzte Tag des Seminars. Wir hatten drei wunderbare Tage in dem abgeschieden gelegenen Tagungshaus verbracht und es war so etwas wie ein Gruppengefühl entstanden. Man hatte schon darüber gesprochen, auch nach der Beendigung der Zeit weiter in Kontakt zu bleiben.

Robert und Gerda, die beiden leitenden Sozialpädagogen, hatten uns in das bekannte Vertrauensspiel eingewiesen. Eine Person lässt sich „blind“ fallen, eine andere muss sie auffangen. „Das soll das Vertrauen der Gruppe und der Einzelnen zueinander stärken,“  hatte Gerda gesagt. Und Robert hatte genickt und hinzugefügt: „Echtes Vertrauen muss durch Erfahrung erst erworben werden!“

Drei Durchgänge waren schon durchlaufen und es hatten sich wieder sechs neue Paare gebildet. Ich hatte gerade Annette in meine Arme fallen lassen, als auf einmal ein Krachen und ein schriller Schmerzensschrei durch den Raum gellte. Sofort blickten alle Augenpaare in die Richtung. Lydia, eine junge Studentin, lag auf dem Boden und wand sich. Gerd, ein etwa fünfzig Jahre alter Handwerker, stand mit verschränkten Arme seitlich davon und blickte auf sie herab.

Gerda stürzte in die Richtung der Beiden, beugte sich über die weinende Lydia, nahm sie in die Arme. Gleichzeitig blickte sie zu Gerd hoch: „Sag mal, spinnst du?“ Der Angesprochene stand trotzig blickend da, sagte aber nichts.

Später am Abend in der Gruppenrunde, ohne Gerd, sagte Robert: „Nach dem Vorgefallenen sahen wir uns gezwungen, Gerd sofort nach Hause zu schicken. Er ist inzwischen abgereist. Aber er hat noch etwas gesagt, was ich hier noch in die Runde geben möchte.“ Alle blickten ihn erwartungsvoll an. Er hat gesagt: „Vertrauen ist immer auch ein Risiko. Und manchmal wird es halt auch enttäuscht. Vielleicht war das ja eine wichtige Lektion für Lydia. Überbringt ihr bitte meine Entschuldigung!“

Einige  Moment lang herrschte Schweigen im Raum. Dann sagte Lydia: „Na ja, ich habe mir zwar weh getan, aber es ist ja nicht wirklich etwas passiert.“ Wieder Schweigen. Dann sagte Holger: „Hm, vielleicht war das ja nicht nur eine Lektion für Lydia. Vielleicht war es ja eine für uns alle. Man sollte nicht jedem blind vertrauen!“


Anmerkung von Bluebird:

Sollte jemand mal in eine ähnliche "Spielsituation" geraten, bitte nicht den "Gerd" machen. Man kann sich dabei auch ernsthaft verletzen.

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Frühere bzw. ältere Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (30.06.13)
Den letzten Absatz kannst Du wirklich komplett weglassen, wir Leser sind nicht doof und können selbst denken, da muss man nicht noch was vorkauen!
Aber trotzdem gerne gelesen!

 Bluebird meinte dazu am 30.06.13:
Ja, danke, Dieter!

In dem fall war es mir wichtig, die "Lektion" doch noch einmal zu benennen. Das ich die LeserInnen für "doof" halte, denke ich nicht. Aber die Geschichte wäre in meinen Augen ansonsten einfach nicht "rund" gewesen.
(Antwort korrigiert am 30.06.2013)

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 30.06.13:
Nun, dann behält das Ganze eine oberlehrerhaft-moralsaure Note.
Nichts für ungut, aber man könnte glauben, Du seist Lehrer, die wollen ja immer so einen pädagogischen Mehrwert...

 Bluebird schrieb daraufhin am 30.06.13:
Das ist gar nicht so falsch "getippt". In der Tat spielt das "Lehren" eine gewisse Rolle in meinem Leben. Das könnte für Andere manchmal durchaus "nervig" sein ... schon möglich.

Andererseits, wenn jemand mich in guter Weise (be-) lehrt, höre ich auch selber zu. Hängt halt vom Interesse und der Qualität des "Gelehrten" ab.
p.s In meiner anderen Anekdote "Die versteckte Pointe" habe ich übrigens keine Erklärung beigefügt -D
(Antwort korrigiert am 30.06.2013)
Graeculus (69) äußerte darauf am 30.06.13:
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 HarryStraight (26.05.16)
Man lernt doch gerade durch das Aufgefangen werden, dass es nicht immer so ist.

Die Anekdote hat mir gefallen, auch wenn es inhaltlich natürlich schrecklich ist. Es waren bestimmt alle sehr erschüttert darüber.

Ich verstehe das so, dass der Mann sie nicht auffangen WOLLTE, ist das richtig?
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