Die Inversion des Glücks

Erörterung zum Thema Ideologie

von  loslosch

Itaque, si felicissimum est non nasci, proximum est, puto, brevi aetate defunctos cito in integrum restitui (Seneca, um die Zeitenwende bis 65 n. Chr.; Ad Marciam de consolatione). Wenn es also das größte Glück ist, nicht geboren zu werden, so, denke ich, ist es das nächstgrößte, dass die Verblichenen nach kurzer Lebenszeit schnell in die Vollendung (das Ganze, Vollkommene) zurückversetzt werden.

Ohne Kontext und isoliert betrachtet, mutet der Textauszug wie modernistischer Nonsens an. Aus der Hypothese des Urzustandes (Nirvana) als dem größten Glück ließe sich als nächstbester Zustand allerlei Beliebiges herleiten. Hier hat Seneca wohl die Endphase der ewigen Glückseligkeit im Sucher und nähert sich damit der christlichen Ideenwelt an.

Rührt von daher seine eher geringe Scheu vor dem Selbstmord, in den ihn Nero zuletzt getrieben hatte? Jedenfalls haftet dieser stoischen, naturphilosophischen Grundhaltung auch etwas Fatalistisches an. Das Bipolare von ewiger Glückseligkeit hier und Nihilismus dort fällt im Letzten wie in eines zusammen. Eine Analogie aus der politischen Ideologiekritik (rechte Leute von links versus linke Leute von rechts - nach René König) drängt sich auf. Im Äußersten nähern sich die Extreme einander an - wie die wandelnden Protagonisten, die auf einer Kugel in entgegengesetzte Richtungen losmarschiert waren.

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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (23.07.13)
Wenn wir in die Vollendung zurückversetzt werden, hört sich das für mich doch sehr religiös an. Jede Menge Leute, Christen, Moslems, Juden, Hindus undwasweißichnichtwernochalles würden ihm da sicherlich zustimmen.

Doch was ist, wenn die Vollendung gar nicht so vollendete ist? Vielleicht musste/muss Seneca in eben diesem Zustand ja karthagische Sauflieder mitgrölen.
Wir werden es nie erfahren...
oder besser:
Wir werden es erfahren aber nicht weitersagen können...

In diesem Sinne:  Nur Hannibal konnte die Alpen überqueren.[/quote]

 loslosch meinte dazu am 23.07.13:
wusstest du, dass nur ein einziger elefant die alpenquerung überlebt hat? es waren afrikan. elefanten, viel schwerer zu zähmen als indische. mit kriegselefanten konnte man die gegnerische phalanx aufbrechen. krieger wurden zertrampelt.

 TrekanBelluvitsh antwortete darauf am 23.07.13:
Das es nur ein Elefant überlebt hat, wusste ich. Aber das Entscheidende war ja, dass die Römer es sich nicht vorstellen, nicht denken konnten, das Hannibal die Alpen überqueren würde.

Und was immer man von Seneca halten mag, denken konnte er. Er hätte einen fabelhaften Heerführer abgegeben... und hätte so auch die Chance gehabt, der Vollendung sehr viel öfter sehr viel näher zu kommen...

 loslosch schrieb daraufhin am 23.07.13:
alter grantler.

 Bergmann (23.07.13)
Wenn es ein großes Glück ist zu sterben, dann wäre ja eine Wiederholung dieses Glücks eine grandiose Sache! Am besten, wir würden das immer schon vorher wissen, dann könnten wir uns darauf freuen - und das würde die Härte des Lebens mildern. - So gelangen wir mit Seneca, wenn man seinen Gedanken konsequent weiterführt, zu christlichen Auffassungen.

Aber es sind eben nur theoretische Gedanken. Vielleicht gut so. Denn die Vorfreude kann sich leicht verwandeln in Höllenqual ...

 loslosch äußerte darauf am 23.07.13:
schau mal unten, kommi von graeculus, die zitate bei sophokles u. a. grandios!

 Bergmann ergänzte dazu am 23.07.13:
Da wächst zusammen, was zusammen gehört. Ein zweiter Loslosch, daraus wird ein Überloslosch ...

 loslosch meinte dazu am 23.07.13:
shocking ...!
Graeculus (69)
(23.07.13)
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 loslosch meinte dazu am 23.07.13:
als hintergrund zur marcia-trostschrift: sie hatte ihren sohn verloren.

finde ich auch was im renzo tosi? ziff-nr würde hinreichen. und vllt. ein zitat beim komödiendichter sophokles, hier für alle lesbar einzublenden.

inversion des glücks auch unter aphos aus der antike, s. 188 f. lo
Graeculus (69) meinte dazu am 23.07.13:
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Graeculus (69) meinte dazu am 23.07.13:
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 loslosch meinte dazu am 23.07.13:
danke. ich muss das zweimal lesen!

 loslosch meinte dazu am 23.07.13:
deutung: die mühen des tages brachten die pessimistische sicht hervor.

gibt es nicht dieses zitat:

"Max Kalbeck verwendet dieselbe Formulierung - unabhängig vom Original - in seiner deutschen Übersetzung von Christoph Willibald Glucks Oper Orpheus und Eurydike. Dort verflucht sich Orpheus in seiner Arie Ach, ich habe sie verloren wegen seiner Schuld an Eurydikes Tod und singt:

„Wär, o wär ich nie geboren,
Weh, dass ich auf Erden bin!“ (wiki)?

im faust von JWG und im NT. iwo bei ödipus kommt dieser verzweiflungsschrei auch vor.

 EkkehartMittelberg (23.07.13)
Nicht geboren zu werden als Glück, der Gedanke ist mir bei den Stoikern, für die Glück ja durch sittliches Verhalten machbar ist, vorher noch nicht begegnet. Ich weiß auch nicht, was die christliche Moralphilosophie dazu sagt.
Den zweiten Teil des Zitats würde ich auch als Annäherung an das Christentum vertehen.

 loslosch meinte dazu am 23.07.13:
diese denkwürdige passage steht in den aphos, s. 188. das wirkt so fremd und ohne bezug. graeculus verweist auf den pessimistischen zweig griech. philosophie. wir kriegen noch boden unter die füße. - und ich dachte, ich hätte was originelles ausgegraben.

 loslosch meinte dazu am 23.07.13:
@ekki: schau dir die zitate von graeculus oben an. erstaunlich.
Graeculus (69) meinte dazu am 23.07.13:
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 loslosch meinte dazu am 23.07.13:
im mittelalter gabs ja fälschungen. beinah hätte man den seneca selig gesprochen. mich hätte es gefreut.
Graeculus (69) meinte dazu am 23.07.13:
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 loslosch meinte dazu am 23.07.13:
du hast recht. wer schreiben konnte, gehörte der bildungsschicht an. und diese schicht lag nahe der oberschicht - damals. die klage über den niedergang des vertrauens. aber dennoch: extrem pessimistisch. das gabs auch im barock (30-jähriger krieg).

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.07.13:
@loslosch; Seligsprechung Senecas: Schade, dass es nicht dazu kam. Er hätte Leben in den Himmel gebracht und die Engel mit Paradoxa infiziert.

 loslosch meinte dazu am 23.07.13:
ja, in paradoxa war er stark. obwohl cicero eine buchrolle vollschrieb über die "paradoxa stoicorum".
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