Egon Friedell

Essay zum Thema Gesellschaft/ Soziales

von  Hans

Egon Friedell und der Schmutz der Geschichte: die Kulturgeschichte der Neuzeit oder wie Geschichte konstruiert wird
In Europa beginnt die Geschichtsschreibung wie so vieles andere mit den ollen Griechen.
Von Anfang an gibt es Streit. Herodot, der als „Vater der europäischen Geschichtsschreibung“ gilt, beschreibt Ursachen und Hintergründe des großen Kriegs zwischen Griechenland und dem persischen Reich. Oft referiert er bei umstrittenen Themen die unterschiedlichen Ansichten und ebenso oft nennt er seine Quellen oder versucht sich selbst ein Bild von der Lage zu machen. Mit seinen „Historien“ betritt er Neuland und setzt Maßstäbe für künftige Werke dieser Art.
Trotzdem tadeln seine Nachfolger ( Thukydides) die unkritische und naive Haltung, mit der Herodot Geschichte darstellt. So kritisieren Spezialisten, die sich auf Überschau- und Überprüfbares beschränken, die Generalisten, die sich für alles und jedes interessieren und munter und unbefangen loslegen. Was manchmal dabei herauskommt, ist ein gut lesbarer Überblick aus einem ganz persönlichen Blickwinkel. 
Was den Anspruch und Umfang der Darstellung betrifft, steht Egon Friedell in dieser Tradition.  Seine „Kulturgeschichte der Neuzeit“ beschäftigt ihn über viele Jahre. Der beschriebene Zeitraum reicht von der Reformation bis zum Anfang des 20sten Jahrhunderts. Herausgekommen ist ein gigantisches Werk, das sich liest wie ein Krimi. Der Mann hat Stil. Es gelingt ihm sein Anliegen auf den Punkt zu bringen, und das besteht darin zu zeigen, dass Geschichte wesentlich mehr ist als Politik, wobei er diese keineswegs vernachlässigt. Das vorweg. Obwohl er einzelne Historiker schätzt, lehnt er die akademische Zunft ab. Kein Wunder, gelten doch deren Produkte bis zum heutigen Tag meist als schwer verdaulich. Wie wohltuend hebt sich dagegen die angelsächsische Tradition ab, wo sich Professoren bemühen für ein breites Publikum verständlich zu schreiben. Wenn ich weiter bedenke, wie reaktionär und obrigkeitsbesoffen die bürgerlich – nationale Geschichtsschreibung vor und nach dem 1.Weltkrieg mehrheitlich orientiert ist, erstaunt es nicht, dass Friedell, der auch als Kabarettist arbeitet, diesen engstirnigen Ideologen wenig abgewinnt. Trotz aller berechtigten Kritik bietet die mühsame Arbeit im Archiv und an den Quellen die Chance vorschnelle  Verallgemeinerungen und gefährliche Ideologien als das zu entlarven, was sie sind: Fehler. Oft geschieht das auf wenig verständliche Weise im Expertenjargon.
Schon der Titel seines Werks grenzt sich gegen die zeitüblichen Darstellungen ab, die sich meist auf politische Ereignisse beschränken und diese nationalistisch (oder rassistisch) interpretieren. Normalerweise lese ich historische Bücher in chronologischer Reihenfolge, aber nur der mittlere Band, beginnend mit dem Barockzeitalter und bis zum Empire reichend, ist in der Landesbibliothek (sie sei gepriesen) momentan ausleihbar. Es handelt sich übrigens um eine Ausgabe von 1948 (Signatur 34445/2), deren holziges Papier vergilbt ist und dem Werk einen passenden Flair verleiht, was die Widmung für Max Reinhardt unterstreicht. 
Die erste Überraschung: der gebürtige Wiener mag die Preußen, besonders Friedrich den Großen, der auch als alter Fritz in die europäische Geschichte eingegangen ist. Diesen bezeichnet er, wie einige andere Persönlichkeiten als politisches Genie, der die Epoche prägt und ihr ein Gesicht gibt. Für Genies – und das betont Friedell häufig – gelten andere Maßstäbe als für gewöhnliche Menschen. Wer sie leichtfertig kritisiert, zeigt, dass er nicht versteht, worum es geht. So mag der Einmarsch des Preußenkönigs in Schlesien juristisch ein Angriffskrieg und Bruch des Völkerrechts gewesen sein. Aber so argumentieren Verlierer, die nicht einsehen können oder wollen, wie wichtig und folgerichtig dieses Vorgehen war. Die Hommage an den kleinwüchsigen Aggressor gerät zur vorbehaltlosen Huldigung, die fast peinlich anmutet, zumal sie mit brillanter Eloquenz daherkommt (fast hätte ich geschrieben schreitet). Hier geht es offensichtlich nicht um Ausgewogenheit, sondern um die ganz persönliche Sicht Friedells. Die zeigt sich auch, wenn er Philosophen betrachtet. Einwände gegen den Charakter Voltaires, der nach Meinung Friedells die französische Aufklärung in genialer Weise verkörpert, wischt er als unbedeutend zur Seite. Bei Rousseau, den er nicht mag, sieht das ganz anders aus. Ihn findet er menschlich verkommen und niederträchtig und misst sein persönliches Verhalten an seinen literarischen Ansprüchen. Das Fazit fällt vernichtend aus. Der Autor des „Emile“ fordert von den Vätern, sie sollen ihre Kinder selbst erziehen und gibt seine Kinder in ein Waisenhaus. Diesmal gilt keine Ausrede, und es gibt keine mildernden Umstände. Bemerkenswert auch die Wertung Spinozas, der vor Voltaire und Rousseau gelebt hat. Immerhin bezeichnet Friedell ihn als „vielleicht der merkwürdigste Denker, der je gelebt hat“ und beschreibt das schwierige Verhältnis zum Judentum, das schließlich zur Exkommunikation führt. Auch die Hauptgedanken seiner Werke werden skizziert, wenngleich mit Vorbehalten. „Sein Lehrgebäude errichtete Spinoza in einem sehr ungewöhnlichen und marottenhaften Stil.“ So wird jemand abgefertigt, dessen Schöpfertum und Kreativität nicht als genial gilt. Aber es kommt noch viel schlimmer. Spinoza, so schlussfolgert Friedell im Anschluss an Malebranche „war sicherlich nicht geistig normal. Es ist bekannt, daß gewisse Irrsinnige sich durch tadellose Logizität auszeichnen.“ (S. 52) Das ist furchtbar und furchtbar enttäuschend. Hier zollt Friedell dem anhaltend schlechten Ruf Spinozas einen traurigen Tribut.
Eine weitere Auffälligkeit ist seine idealistische Haltung. Stets beweist der Lauf der Geschichte, dass zuerst immer der Gedanke da war, die Idee einer Sache, die dann nahezu von selbst zu ihrer Verwirklichung drängt. Materialistische Ansichten gelten als oberflächlich und vulgär, bestenfalls geeignet als Provokation einer zur Dekadenz neigenden Epoche. Deshalb kommen die englischen Empiristen nicht gut weg und auch die Enzyklopädisten stehen unter dem Verdacht der Oberflächlichkeit. Konsequenterweise lehnt Friedell die "sogenannte“ sozialistische Geschichtsschreibung als völlig unbrauchbar ab. Die Wirtschaft spielt für die Geschichte nur eine untergeordnete Rolle. Zwar erwähnt er den Merkantilismus und beschreibt die Ideen des Liberalismus, aber die Wirtschaft muss sich mit einer Statistenrolle begnügen. (Mal gespannt, was er zu Marx schreibt.) Das erstaunt, wenn ich bedenke, welche bahnbrechenden Werke z.B. Franz Mehring kurz zuvor geschrieben hat.
Die französische Revolution wird nicht nur abgelehnt, Friedell zieht sie geradezu in den Schmutz. Was er über Marat schreibt, ist nicht nur indiskutabel, sondern diskreditiert geradezu sein Urteilsvermögen. Mit Schaum vor dem Mund steigert er sich in hemmungslosen Hass. Es fehlt nicht viel, und er würde behaupten, dass Marat, der ja bekanntlich von Charlotte Corday in der Badewanne erstochen (dabei hat er doch angeblich ein Hygieneproblem) wird, diesen Mord nicht verdient hat. Auch Robespierre und Danton kommen nicht gut weg. All das mag auch ein Problem der Legitimation sein. Wann hat ein Volk ein Recht zur Revolution, und schon gar das französische?  Möglicherweise ist das eine schwierige, auf jeden Fall eine berechtigte Frage. Friedell stellt sie nicht ernsthaft, sondern misst vorsätzlich mit zweierlei Maß. Seine Großzügigkeit, was widersprüchliches Verhalten betrifft und sein Einfühlungsvermögen gegenüber den Genies oder solchen, die er dafür hält, sucht man hier vergebens. Die Versäumnisse, Fehler und Rücksichtslosigkeiten des Königs und des Adels, die jahrhundertelangen Ungerechtigkeiten, die zu dieser beispiellosen Eruption führen, gelten nicht einmal als mildernde Umstände. Die Dummheit und Verwahrlosung des Volkes – er spricht mehrmals abschätzig von Pöbel – werden nicht als ohnmächtige Hilflosigkeit in Betracht gezogen, die sich in Rohheit und grober Blutrünstigkeit ausleben. Auch der hinterhältige Verrat und die Treulosigkeit und Blödheit des Königs zählen nicht. Mit anderen Worten: es handelt sich nicht um eine kritische Ablehnung der Revolution, sondern um plumpe Demagogie, die mich fatal an die reaktionäre Attitude von Joseph Freiherr von Eichendorff erinnert (so z.B. in seinem Pamphlet „Schloß Dürande“, das im Gewand der Novelle gegen die Revolution geifert). Hier zeigen sich deutlich die Scheuklappen, die dem Geschichtsschreiber durch seine Epoche und Milieu angelegt sind. So entsteht selektive Wahrnehmung.
Einfühlsam schildert Friedell die Epoche und Persönlichkeit Ludwigs des XIV. Hier fühlt er sich in seinem Element. Der sogenannte Sonnenkönig bietet ihm und seiner Anschauung eine ähnlich ideale Projektionsfläche wie andere von ihm geschätzte „große Männer“, die die Geschichte angeblich machen. Das liest sich kurzweilig, beschreibt indes nur die Fassade. Das Erfrischende besteht darin, dass er dies sogar erkennt und zugibt, sich aber dann wieder der Inszenierung zuwendet. Live is a cabaret oder the show must go on?
Oder liegen die Ursachen der Revolution nicht in der glanzvollen und maßlosen Hofhaltung von Versailles, wodurch die Staatsfinanzen ruiniert und an den Rand des Bankrotts geraten?
Es wird erwähnt, dass der französische König sich nie wäscht und auch keineswegs täglich (gar mehrfach) die Zähne putzt. Er bevorzugt Parfum und Puder, was Friedell aber keineswegs zu „Bewertungen“ hinreißt, wie  gegenüber Marat, den er als Schmutzfink diffamiert. Schließlich verkörpert der eine den französischen Absolutismus, der andere war „nur“ ein Revolutionär. Aber es ist mehr als ein Zufall, dass die riesige Schlossanlage ohne Sanitäranlagen gebaut wird. Weder Bäder noch Toiletten gibt es, die menschlichen Hygienebedürfnisse finden keine architektonische Berücksichtigung. Die Römer waren offenbar in dieser Hinsicht schon mehrere Jahrhunderte zuvor weiter.
Der barocke Glanz der Epoche blendet den Schmutz und die Scheiße aus, in der Revolution werden sie auf die Straße geschwemmt. Erst der große Napoleon entsorgt die Geschichte von dem Unrat und schafft klare Verhältnisse, zumindest das, was Friedell darunter versteht.
So konstruiert er sein Geschichtsbild. Er sucht den Glanz und die Genies und findet sie auch und gerade in der Kultur. Vielleicht schafft er so ein Gegengewicht zur Dürftigkeit und Schäbigkeit, die er als das Charakteristikum seiner Epoche empfindet. Seine Beschäftigung mit der Antike und da vor allem mit den Geheimnissen Ägyptens könnte ein weiteres Indiz dafür sein. Der Preis, den er für sein Anliegen zahlt, ist hoch. Er beschönigt und glättet, misst oft mit zweierlei Maß und wertet Vorgänge und Menschen nach willkürlichen Vorlieben. Mitunter wirkt das arrogant, auf jeden Fall ist es ungerecht, zumal sich die Betroffenen nicht wehren können. Sie sind den Wertungen der Jetztigen ausgeliefert. Aber es kommt noch schlimmer: Friedell schwimmt im Strom der bürgerlichen Trends des ausgehenden 19.ten Jahrhunderts. Nationalismus und Rassismus prägen sein Denken. Konsequenterweise reiht er sich im 1.Weltkrieg in die „Phalanx“ der patriotischen Kriegshetzer ein und beteiligt sich als Schreibtischtäter ( fürwahr oft die Kühnsten) an der Herstellung wüster Kriegspropanganda. Ulrich Weinzierl bringt das in seinem Nachwort auf den Punkt: „ Wäre der Verfasser kein Nazi-Opfer jüdischer Herkunft gewesen, sondern ein Mitglied der Reichsschrifttumskammer, würde wohl jede Neuauflage in deutschen Landen für heftiges Rauschen in den politisch korrekten Gefilden des Blätterwalds sorgen….Und der Jude Friedell war, mit Verlaub, ein kämpferischer Antisemit.“ (S. 1778) Von daher ist es verständlich, dass er die Politik der Nazis mit zunehmender Ernüchterung beobachtet. Das haben auch andere getan, nicht zuletzt der berühmte Heidegger, der lange sympathisierte, ehe er sich in den Schmollwinkel zurückzog. Diese Option fehlt Friedell. Zunehmend verzweifelt versinkt der große Stilist in Mutlosigkeit und Resignation. Vom schlechten Gewissen geplagt, verharrt er in Wien bis zum Einmarsch der Nazitruppen. Längst hat er den Charakter des Regimes durchschaut, und weiß, was ihn erwartet. Trotzdem bleibt er, bis sein Schicksal ihn ereilt. Ist das stoisch? Gar tragisch? Wenigstens folgerichtig ? Oder dumm ? Vielleicht mehreres davon gleichzeitig. Lassen sich die letzten Sätze seines großen Werks verstehen als die Sehnsucht nach einem Dritten Reich, das seinen Weg findet, abseits des Bolschewismus und Amerikanismus, Ideologien, die er beide vehement ablehnt. Was würde die Psychoanalyse sagen, über die er – im Gefolge von Karl Kraus und anderer Wiener seiner Epoche so hart urteilt ?  Warum soll man sowas lesen ?
Zunächst einmal: es macht Spass. Die zahllosen gelungenen Formulierungen, geistreichen Anekdoten und überraschenden Einsichten bereichern und erweitern den Horizont. Das Werk ist ein großer Wurf, das die Traditionen mehrerer europäischer Länder über einen großen Zeitraum zusammendenkt. Das geht nicht, ohne grobe Vereinfachungen und eine gewisse Voreingenommenheit. Wie bei jedem Marathon zeigen sich auf der Strecke mehr als einmal persönliche Schwächen und Unzulänglichkeiten. Nicht nur der Autor, auch der Leser muss sie bewältigen. Aber Egon Friedell macht uns das leicht.
Abschließend noch was zur Biographie. 1938 ist Friedell, der in Wien lebt, 60 Jahre alt. Als Jude tritt er schon früh zum Protestantismus über (eine merkwürdige Formulierung, wie mir gerade auffällt). Ihm ist klar, was es für ihn bedeutet, als Nazideutschland in Österreich einmarschiert. Als ihn 2 SA-ler besuchen – „noch“ nicht, um ihn „abzuholen“, stürzt er sich aus dem Fenster des 3.ten Stockwerks. Angeblich ruft er noch beim Fallen Passanten zu, sie sollen zur Seite treten, damit sie unverletzt bleiben. Auch ganz zum Schluss, als er sich selbst richtet, will er niemandem schaden außer sich selbst. Wie von selbst stellen sich die „üblichen“ Fragen: warum ist er nicht geflohen ? Das Geld und die Möglichkeit dazu hatte er im Gegensatz zu vielen anderen. 
So endet im 20sten Jahrhundert das Leben des Mannes, der eine „Kulturgeschichte der Neuzeit“ geschrieben hat.
Unter dem Titel „Vom Schaltwerk der Gedanken“ gibt es vom Diogenes-Verlag eine Auswahl seiner Essays. In seinem Nachwort, dem Versuch einer Würdigung, sieht ihn Wolfgang Lorenz als dramatischen Denker und meint: „Man kann ihm schwerlich widersprechen.“ (S. 674) Doch ! Man muss es sogar. Aber wenn man es tut, stellt man fest: es ist gar nicht schlimm.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

LottaManguetti (59)
(23.07.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Graeculus (69)
(23.07.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram