Heureka, ich hab's!

Short Story zum Thema Fiktion

von  IngeWrobel

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Es war ein wunderschöner Tag. Prof. Dr. Oswald Hähnel setze sich wohlgemut in sein Auto, um die ihm vorgegebene Strecke zu fahren. Heute, bei diesem Wetter, machte die Tätigkeit als Verkehrsexperte Spaß. Der Wissenschaftler sollte heute einem außergewöhlichen Unfall-Phänomen auf die Spur kommen. Diese Fahrt wich insofern von seinen üblichen Gutachter-Fahrten ab, als die Wettersituation so viel angenehmer war als üblich. Das war das Besondere an dieser Untersuchung  und Bedingung für die Ausführung: ein Wetterchen, bei dem man sich wünschte, Cabrio zu fahren.

Mit seiner älteren aber nicht unkomfortablen Limousine fädelte sich Dr. Hähnel in die BAB-Zufahrt ein. Ab jetzt achtete er auf die Kilometer-Angaben am rechten Rand des Begrenzungsstreifens. Sein Auftrag lautete, herauszufinden, warum es an einer bestimmten Stelle immer wieder zu Unfällen mit tödlichem Ausgang kam, für die die Verkehrspolizei keine logische Erklärung hatte.

Die Wetterlage lieferte kein Indiz – es sei denn, dadurch, dass laut Bericht das Wetter jedesmal zum Autofahren geradezu einlud. Es gab auch keine Baustellen in diesem Bereich. Die umfassende Statistik, die dem Gutachter zur Verfügung gestellt worden war, gab keinen Aufschluss. Nun war es an der Zeit, durch Abfahren der Strecke die Praxis ins Spiel zu bringen. Manchmal waren die Straßen zum Beispiel seitlich falsch überhöht. Dann konnte ein zu schnell fahrendes Auto aus der Kurve geschleudert werden, und der Fahrer verlor die Kontrolle über sein Fahrzeug.

Der Professor war informiert genug, um alle Möglichkeiten zu kennen. In seinen Vorlesungen, die er über Verkehrsrecht an der Universität hielt, war das gesamte theoretische Spektrum behandelt worden. Und Hähnel war versiert genug, die unbekannten praktischen Umstände zu erkennen, zu analysieren und klar zu beschreiben.

Auf dem Beifahrersitz lag ein Klemmbrett mit Papier, daneben verschiedenfarbige Stifte. Am Armaturenbrett hatte er direkt vor sich ein Mikrophon installiert, das mit einem Aufnahmegerät verbunden war. Bei seinen Gutachterfahrten wurde diese Anlage stets sofort aktiviert. Eine praktische Sache, denn manchmal konnte seine Sekretärin das Diktat des Wissenschaftlers direkt vom Band in das Protokoll übernehmen.

Oswald Hähnel nähert sich der bewussten Stelle. Leise aber deutlich spricht er in das Mikrophon. Keinerlei Besonderheiten. Vor ihm folgt die Straße einer langgezogenen Klothoide, was die Gefahr für ein Auto, aus der Kurve geschleudert zu werden, reduziert. Weit und breit ist kein anderes Fahrzeug zu sehen. Das Wetter ist wie im Bilderbuch.

Ein Sonnenstrahl trifft ihn, blendet kurz. „Heute ist ein guter Tag zum Sterben!“ jubelt es in ihm. Er fühlt sich glücklich, ja – selig. Nichts spürt er, außer dieser wohligen Geborgenheit, dieser ihn ganz umfassenden Wärme. Federleicht scheint sein Körper, entmaterialisiert und ... schwebend, schwebend, höher – lustvoll.

Bei der polizeilichen Aufnahme des Unfalls findet ein Beamter etwas entfernt vom  schrottreifen Wagen ein unversehrtes Klemmbrett. Auf dem Blatt stehen, in schwungvoll roter Schrift, die Worte: „Heureka, ich hab’s!“
Dieselben Worte sind als Letztes auf dem Band zu hören, das ebenfalls, wie durch ein Wunder, unbeschädigt blieb. Seine Sekretärin wird später dazu sagen, die  Stimme ihres Chefs nie so begeistert, ja euphorisch,  gehört zu haben, wie bei diesen drei Wörtern.

Der Sachbearbeiter der Polizei, der das Gutachten bei dem Professor in Auftrag gegeben hatte, überprüft den neuen Bericht und entdeckt die Übereinstimmung:
Wie bei den vorangegangenen Unfällen an dieser Stelle fehlt jeder Hinweis auf die Unfallursache. Nie gab es Augenzeugen. Immer war das Unfallauto offenbar zu diesem Zeitpunkt das einzige auf diesem Streckenabschnitt.

Jedes Mal ist der Wagen zu einem kleinen Schrotthäuflein verbrannt, und von dem Fahrer fehlt jede Spur.

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Kommentare zu diesem Text


 Cassandra (27.07.13)
*schluckicon*

Ging mir so nahe und hab ich so nachempfinden können.

LG

 IngeWrobel meinte dazu am 27.07.13:
... gut so! *lach*

Liebe Grüße
Inge

 franky (27.07.13)
Hi liebe Inge,

Ein blitz sauberer Bericht, an dessen Wahrheitstreue man nie eine Sekunde zweifelt. Klar und perfekt geschrieben.

Herzliche Grüße

Von Franky

 IngeWrobel antwortete darauf am 27.07.13:
Guten Morgen, lieber Franky!

Eigenartigerweise gibt es hier bei kV nicht die eindeutige Möglichkeit, eine Science Fiction auch so zu benennen. Das ist vielleicht von Nachteil, weil es den Leser nicht "vorbereitet". Andererseits sind die meisten meiner Kurzgeschichten so geschrieben, dass sich erst ganz am Ende des Textes das Genre offenbart, der Überraschungseffekt ist also gewollt.

Mein erster Versuch, die KVler mit meinen gewöhnungsbedürftigen Kurzgeschichten anzusprechen, ist gescheitert. Es gab nur eine Stimme dazu mit einem sprachlichen Hinweis, der auch hilfreich war - aber zur (in diesem Fall auch fiktiven) Story selbst gab es keine Kritik.

Meine Prosa ist ziemlich anders, als meine Gedichte - wobei ich ja auch in der Kurzform sehr unterschiedlich schreibe. Ich wollte und will einfach mal testen, ob ich in dieser Community für immer in der Schublade "gereimte Gedichte" feststecke ...

Deine Reaktion, lieber Franky, zeigt mir, dass es doch wohl auch bei kV flexible Leser gibt, die sich mit meinen Prosawerken anfreunden können. Darüber freue ich mich - und selbst, wenn Du der Einzige bleibst, dem dieser Text gefällt, werde ich ihn nicht wieder, wie seinen Vorgänger, gleich löschen.

Ich danke für das Lob und schicke Dir liebe, nicht zu heiße, Sonnengrüße!
Inge : )

 larala (27.07.13)
Gute Story. Jetzt muss ich wiederkommen. :)

 IngeWrobel schrieb daraufhin am 27.07.13:
Fein! Und ich greife nochmal in meine Prosa-Kiste. Welches Genre darf's denn sein?
Bis dann ...
liebe Grüße!

 larala äußerte darauf am 27.07.13:
Och, 'Fiktion' wäre schon sehr okay! :)
Liebe Grüße zurück!

 IngeWrobel ergänzte dazu am 27.07.13:
... gern! ...

: )

 Regina (26.04.19)
Die Autobahn-Loreley? LG Gina

 IngeWrobel meinte dazu am 26.04.19:
WOW! So weit hat die Autorin gar nicht spekuliert.
Dabei ist es naheliegend: Was die Sirenen für den segelnden / fahrenden (sagt man ja auch bei Schiffen) Odysseus, ist die Loreley für unseren Prof. Hähnel! *lach*
Ich bin selbst schon im Auto auf der Autobahn in sanfter, langgezogener Kurve um die Loreley herumgefahren. Was ein Glück, dass ich auf dem Beifahrersitz saß!
... und außerdem bin ich eine Hetero-Frau!

Danke für Deine Worte und die Empfehlung
und liebe Grüße zurück
Inge
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