Eine unerwartete Erleuchtung

Kurzgeschichte zum Thema Urlaub/ Ferien

von  Bluebird

Illustration zum Text
(von Bluebird)
Während meiner Studienzeit wurde ich von Lilo, einer Mitstudentin, angesprochen: „Hör mal, Heiner, hättest du nicht Lust als Betreuer bei einer Segelfreizeit in den Niederlanden mitzumachen?“ Die Sache hörte sich interessant an und nach einigem Überlegen sagte ich zu.
  So kam es, dass ich mich etwa zwei Monate später zusammen mit vier weiteren Betreuern und dreißig Jungen und Mädchen im Alter zwischen vierzehn bis sechszehn Jahren an Bord eines Segelschiffes begab.

   Eine Woche lang ging es unter Anleitung eines erfahrenen Skippers durch das niederländische Ijsselmeer, bevor wir dann auf der Insel Terschelling an Land gingen und in einem ehemaligen Bauernhof Quartier bezogen.

Das enge Zusammenleben auf dem Schiff hatte erstaunlich gut funktioniert und auch hier an Land herrschte eine recht gute Stimmung untereinander. Wir Betreuer, drei Frauen und zwei Männer, ließen den Jugendlichen bewusst viele Freiheiten, was von ihnen in der Regel nicht ausgenutzt und mit hoher Zutraulichkeit gedankt wurde.

  Es war eine Freizeit, die wirklich allen Spaß machte. Aber natürlich blieben gewisse Reibereien, manch schlechtes Benehmen und sonderbare Verhalten nicht aus. Ich erwähne diese selbstverständliche Tatsache auch nur, damit das Folgende etwas verständlicher wird.
   Es hatte sich, sagen wir es mal so, im Laufe von achtzehn Tagen eine gewisse „Schuldenlast“ angesammelt, die aber in keiner Weise den wirklich hervorragenden Verlauf der Ferien in Frage zu stellen vermochte. Um so erstaunlicher war es dann für mich, was kurz vor Ende der Freizeit geschah.

Wir hatten einen Überschuss in unserer Ferienkasse festgestellt und uns entschieden, unsere Jugendlichen zu einem Abschiedsessen in ein Pannekoekenhaus einzuladen.

   Das wurde natürlich mit Begeisterung aufgenommen und so machten wir uns am vorletzten Tag spätnachmittags mit unseren Insel-Fahrrädern auf den Weg. Waren wir bei Sonnenschein gestartet, so hatte sich auf einmal der Himmel  ziemlich zugegezogen. Ganz offensichtlich zog eine Regenfront heran.
  Im Pannekoekenhaus wurden wir schon erwartet und nach unserem Eintritt das Schild "Gesloten" ausgehängt. Wir waren sozusagen unter uns und konnten unsere Plätze frei wählen. Wobei ich zum besseren Verständnis des Folgenden erwähnen muss, dass die Tische in einer Art "m-Form" angeordnet waren. Es gab also eine Kopfreihe mit fünf Tischen, von denen drei Querreihen abgingen.
  Dass ich mir einen Ecktisch in der Kopfreihe suchte entsprach meiner Neigung, mich in Gesellschaft an solchen Eckplätzen zu postieren. Also keineswegs der Absicht, mir einen Sonderstatus als Betreuer zu verschaffen.

   Um so verblüffter war ich, als ich kurze Zeit danach feststellte, dass wir fünf Betreuer alle an der Kopfseite saßen und die Jugendlichen an den Quertischen Platz genommen hatten. Dies entsprach in keinster Weise unserer "Philosophie" oder unserer sonst üblichen Handlungsweisen. Wir hatten bei den Mahlzeiten auf dem Schiff und im Bauernhaus immer getrennt voneinander unter den Jugendlichen gesessen.
    Als ich später Lilo darauf ansprach, sagte sie: "Ja, das hatte mich auch gewundert! Da hat wohl eine unsichtbare Hand Regie geführt."
    Wie auch immer!? Auf jeden Fall wurden nun die Bestellungen aufgenommen und wie üblich munter drauflos geplaudert. Draußen war es nun mittlerweile richtig dunkel geworden. Ein Gewitter schien sich anzubahnen. Man sah schon vereinzelte Blitze zucken, fernes Donnergrollen war hörbar. Ich ahnte dumpf, dass dies hier im Pannekoekenhaus wohl keine Zeit wie jede andere werden würde.

Irgendwann hatte nun alle einen Pannekoeken auf dem Teller vor sich liegen und das Personal hatte sich komplett zurückgezogen. Heftiger Regenschauer peitschte gegen die Scheiben des Restaurants. Ab und an erhellte ein Blitz den Raum, gefolgt von einem Donnerschlag.
   In der Querreihe, die von meinem Platz ausging, waren die Pannekoeken zuerst serviert worden, und dem entsprechend war man dort auch zuerst fertig.  Am Ende der Reihe saßen zwei der schon älteren Jungen, die sich auf einmal laut zu unterhalten begannen. Schon nach einigen Sätzen verstummten die übrigen Gespräche im Raum und alle schienen ihnen gebannt zuzuhören. Warum?

Die Beiden hatten  Claudia, die offizielle Leiterin unseres Teams, auf`s Korn genommen. Und dies auf eine ziemlich üble Weise. Sie plauderten nämlich über ihre menschlichen Schwächen, Unzulänglichkeiten und Fehler so beiläufig und selbstverständlich, wie man über das Wetter spricht. Sprachen dabei "Tatsachen" aus, die man  zwar beim Anderen erkennt, aber über die man normalerweise wohlweislich und nachsichtig schweigt.
    Ich  blickte angesichts dieses infamen Geschehens verstohlen zu Claudia hinüber, die aber so tat, als ob sie einzig und alleine mit dem Verzehr  ihres Pannekoeken beschäftigt wäre. Mir war klar, wie ihr zumute sein musste, aber sie versuchte  Haltung ob des üblen Spiels, dass da mit ihr getrieben wurde, zu bewahren.
      Schließlich beendeten die Beiden ihren Dialog, ohne auch nur ein einziges lobendes oder wertschätzendes Wort – und dazu hätte es wahrlich genug Anlass gegeben – ihrer ätzenden, verletzenden Kritik beigefügt zu haben. Einen Moment lang herrschte eine ungläubige, gespannte Stille im Raum. Draußen tobte das Gewitter ungebremst weiter.

Aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen gab es ob des gerade geschehenen Vorgangs keine Reaktion im Raum. Alle schwiegen. Vielleicht weil sie erwarteten, dass Claudia sich zur Wehr setzen würde. Sie sagte aber nichts. Was die beiden Jungs offensichtlich ermutigte, ihr infames Spiel fortzusetzen.
   Dieses Mal nahmen sie Birgit, die direkt neben Claudia saß, auf`s Korn. Und wieder sprachen sie im ironischen Plauderton genau ihre Schwächen und wunden Punkte an, die zwar jeder kannte, aber der normale Anstand einem verbietet so etwas auszusprechen. Wie schon bei Claudia gab es auch dieses Mal kein einziges lobendes Wort.
    Erneut gab es keine Reaktion, als wenn allen der Mund kollektiv verschlossen worden wäre. Draußen tobte das Unwetter mit unverminderter Wucht weiter. Gelegentlich wurde der halbdunkle Raum durch einen Blitz  grell erleuchtet, was dem Ganzen einen leicht gespenstischen Eindruck verlieh.
    Nach einer kleinen Pause ging es dann weiter. Die Beiden nahmen sich nun Lilo vor. Auch an ihr ließen sie kein gutes Haar und auch hier keine Reaktion. Niemand sagte etwas. Dann kam der neben Lilo sitzende Frank an die Reihe. Der gleiche Vorgang! Die Beiden sprachen in übler Weise seine Schwächen und wunden Punkte an, alle schwiegen und draußen tobte das Unwetter.

Nun entstand eine längere Pause. Offensichtlich überlegten die Beiden, ob sie über den letzten verbliebenen Betreuer auch noch zu Gericht sitzen sollten. Vielleicht ahnten sie, dass es mit mir nicht so glatt laufen würde wie mit den anderen Vier.
   Dann plötzlich sagte der eine von den Beiden: „Ach ja, da ist noch der Heiner. Den sollten wir nicht vergessen. Der hat sich zwar an den Rand gesetzt, aber  er steht ja ansonsten auch ganz gerne mal im Mittelpunkt. Besonders bei den Mädels!“

  Er hatte gerade mit der Nennung eines weiteren wunden Punktes begonnen, aber weiter kam er nicht. Ich hatte mein Besteck beiseite gelegt und sagte nun in scharfem Ton zu ihm: „Du und dein Kumpel, ihr habt jetzt  Sendepause! Ansonsten lernt ihr mich mal kennen, und zwar richtig!“ Als ich dann das Wort „Nazi“ vernahm, brachen bei mir alle Dämme.  Ich sprang auf und donnerte sie an: „Noch ein einziges Wort, und ihr sitzt beide morgen im Zug Richtung Heimat!“

Zu meiner Erleichterung schwiegen die Beiden betroffen. Was mich aber in keinster Weise besänftigte. Zu schwer lasteten ihre hämischen „Abrechnungen“ noch in der Luft. Ohne mich jetzt in Einzelheiten zu ergehen, es ging auf die beiden ein wahres „Donnerwetter“ hernieder. Als ich geendet und mich wieder gesetzt hatte, waren die Beiden sichtlich geschockt. Wer Wind sät, wird Sturm ernten ..., hatte ich irgendwo mal gelesen.
  Ich aß nun stoisch an meinem Pannekoeken weiter, ohne noch einmal aufzublicken. Im Raum herrschte eine unheimliche Stille, auch alle anderen schienen unter Schock zu stehen. Nur gelegentliche leise Schneidegeräusche waren zu vernehmen. Offensichtlich hatte das Gewitter draußen aufgehört. Passt ja , dachte ich und fragte mich gleichzeitig, ob ich nicht doch etwas zu weit gegangen war.
 

Es mochte vielleicht zwei Minuten so vergangen sein, als ich auf einmal spürte, dass mich ein helles Licht zu blenden begann. Als wenn plötzlich jemand in dem halbdunklen Raum einen Scheinwerfer auf mich gerichtet hätte. Irritiert versuchte ich vorsichtig, ohne meine Kopf zu heben, die Quelle auszumachen.
  Schnell wurde die Ursache klar. Durch eines der Fenster fiel ein heller Sonnenstrahl, der nur mich, wirklich nur mich, in ein gleißend-helles Licht tauchte. Ich war so geblendet, dass ich noch nicht einmal den Pannekoeken vor mir richtig erkennen konnte. Gleichzeitig ahnte ich, dass es jeder im Raum diesen ungewöhnlichen Vorgang mitbekam. Was mochten sie denken? Mir jedenfalls  war völlig klar, dass dies kein Zufall war, sondern etwas zu bedeuten hatte.
  Plötzlich sagte die Jüngste und Keckste für alle hörbar: „Seht mal! Der Heiner ist  erleuchtet!“ Was bei allen ein spontanes, befreiendes Lachen auslöste. Und auch ich musste lachen. Auf einmal setzte wieder fröhliches Geplauder ein und eines der älteren und angesehenen Mädels sagte laut: „Der Heiner hat vollkommen Recht gehabt!“ Damit war auch diese Sache entschieden.
    Als wir das Pannekoekenhaus verließen, schien wieder die Sonne. So schnell wie das Gewitter gekommen war, so schnell hatte es sich auch wieder verzogen. Typisch Insel!
 
Das „Gewitter“ im Restaurant schien sich nicht weiter im Gemüt der Jugendlichen festgesetzt zu haben. Jedenfalls schienen sie recht guter Dinge zu sein und waren sehr freundlich zu mir, wie ich erleichtert feststellte. Vielleicht hatte es tatsächlich so etwas wie eine reinigende Wirkung gehabt.
    Mich allerdings beschäftigte der ganze Vorgang aber noch eine ganze Weile. Wie war es zu der seltsamen Sitzordnung gekommen, wieso hatten sich die anderen vier Betreuer nicht gewehrt und vor allen Dingen: Was hatte es mit jener seltsamen „Erleuchtung“ auf sich?
    Je länger ich darüber nachdachte, kam ich zu der Überzeugung,  dass dies alles wirklich kein Zufall gewesen sein konnte. Es war, als ob ein unsichtbarer Regisseur eine Theaterszene inszeniert hätte und alles hatte so kommen müssenl, wie es gekommen ist. Selbst das Gewitter hatte zu dem „Stück“ gepasst! Seltsam, dachte ich, wirklich sehr seltsam!

Etwas irritiert war ich allerdings, als Frank, der andere männliche Betreuer, mich fragte: „ Wieso hast du dich denn so aufgeregt?“ Ich schaute ihn verwundert an und sagte: „Die Frage ist doch wohl eher, warum ihr euch nicht aufgeregt habt angesichts dieser Dreistigkeiten?“ Woraufhin er meinte, dass man Kritik auch mal aushalten können müsste. Ich schüttelte und sagte: „Das sehe ich in diesem Fall aber etwas anders.“
    Mit dem Jugendlichen, dem mich als „Nazi“ beschimpft hatte, trank ich am nächsten Abend in einer Inselkneipe ein Bier. Er entschuldigte sich bei mir und sagte, er wüsste auch nicht, was da am Vortage mit ihm los gewesen sei. Und dass meine „Standpauke“ völlig in Ordnung gewesen sei.
    Der andere Jugendliche schien seinen Groll gegen mich nicht so leicht überwinden zu können. Er mied mich die nächsten zwei Tage. Aber am Tag der Abreise hielt er mir sein Adressbuch hin, so dass ich mich, wie etliche Andere, darin verewigen konnte.

So habe ich bis zum heutigen Tage jene Segel- und Inselfreizeit in wirklich guter Erinnerung behalten. Und jene „Erleuchtung“ im Pannekoekenhaus gehört sicherlich zu den besonderen Momenten in meinem Leben. Einige Jahre später begriff ich, dass mir hier schon ein „Wink mit dem Zaunpfahl“ gegeben worden war.


Anmerkung von Bluebird:

Eine autobiografische Geschichte aus den 80iger Jahren

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