Nordersee

Kurzgeschichte zum Thema Untergang

von  RainerMScholz

Es war 47 Grad Celsius im Schatten. Aber es gab keinen. Der Strand war flach bis zum stumpfen Horizont, glühend und schwarz, das Innere eines Backofens mit einer blinden Glühbirne, ohne Fauna und Flora , tot und lebensfeindlich und grotesk heiß. Schwarze Spiegelflächen verloren sich matt schimmernd in der Ferne, ragten wie die Vorhut von Mordor in die endlose Wüste schwarzen Schlicks.
Ralph war zu dieser Kolonne eingeteilt, weil das Amt für soziale und moralische Reintegration überhaupt keine anderen Jobs mehr zu vergeben hatte. Kieselputzen. Wollte er nicht verhungern, musste er sich im ölverkrusteten Gummikombi an der Weltenwäsche beteiligen. Immerhin wurde er versorgt im Lager und hatte ein Dach über dem Kopf, wenn auch nur aus Zeltbahnen. Die  Gummiklamotten hingen wie eine Stahlrüstung an seinem hageren Körper. Der Luftfilter auf seinem Gesicht verhinderte jede wie auch immer geartete Kommunikation mit seinen in genau definierte Abschnitte eingeteilten Kollegen, mit den armen Hunden also, die sich für Wasser und Brot ebenfalls hier verdingen mussten, fern von ihren Familien, wenn sie eine hatten, abseits jeglicher Zivilisation – es sei denn, man mochte dies alles nun als den letzten Überrest menschlicher Errungenschaften betrachten -, weit weg von allem, was sie als Individuen einmal ausgezeichnet hatte.
Die schmierige Ödnis schien mit jedem Tag zu wachsen, statt zu schrumpfen, wuchernd wie ein Krebsgeschwür, die sie letztendlich auch war. Von Zeit zu Zeit kam Ralph der Gedanke, während er seiner stumpfsinnigen Arbeit nachging, dass dieses schwarze klebrige Zeug um ihn herum lebte, atmete, dass tief in seinem Inneren ein monströses Herz pumpte, dass es Gedanken dachte, dass es ihn wahrnahm, ihn verhöhnte oder gar danach trachtete, ihn zu verschlingen, zu fressen, ihn gleichzumachen, zu einer schwarzen Masse, die einmal ein sonniger, lichtdurchfluteter Strand gewesen sein musste, mit Kinderlachen, einer klaren Brandung, dem Duft nach Sonnencreme und Grillwürstchen. Ihn zu dem zu machen, was er suchte zu beseitigen und reinzuwaschen. Tief drinnen regte sich etwas Ungeheuerliches, gegen das sie einen aussichtslosen Kampf führten, der nicht der ihre war.
Die Alten in der Kolonne sprachen manchmal abends nach Sonnenuntergang davon, in einer der ruhigen Minuten, nachdem das graue Licht vom Himmel verschwunden war und bevor die Erschöpfung zuschlug, dass es früher einmal richtiges Leben hier gegeben habe, Vögel, Fische, Sandflöhe, Algen und Wiesen und Kräuter. Alles sei in der klebrigen schwarzen Flut umgekommen, sei verhungert, erstickt und vertrocknet, bevor das Meer selbst sich aus dem Staub gemacht habe. Dann lachen sie, diese Alten. Sie können es scheinbar selbst nicht glauben. Niemand weiß genau zu sagen, was das bedeutet: ein blauer Himmel, eine grüne Wiese. Was sind Möwen? Was ist Lachen? Was ist Blau?
Ralph wusste nicht, was das war. Er kannte zerstörerische Proteinstrukturen, mikrobielle Organismen, die erst das Gummi von der Haut und dann die Haut von den Knochen fraßen, er wusste von den divergierenden neurotoxischen Angriffsmöglichkeiten diverser Kleinstlebewesen, er kannte das Schwarz und den Schlamm und darin konnte man Versinken, um nie wieder aufzutauchen. Er wusste von hoch virulenten Organismen, die wie der Schlick waren, wie das Grau im Himmel oder die Dunkelheit zu seinen Füßen.
Ralph blickte auf die sich in der Unendlichkeit verlierende Fläche schwarzen Sandes hinaus. Bis in alle Ewigkeit würde er dieses zähe tote Zeug abpumpen müssen. Auf einer geheimen, riesenhaften, unterirdischen Halde, so sagte man, würde es in etwas Klares und Reines verwandelt. Doch Ralph sah nur diesen schwarzschimmernden Moloch, der ins Gigantische wächst, die Ränder des Himmels erreicht und alles erstickt, das sich ihm in den Weg stellt. Nur manchmal, wenn er nachts erwacht, weil er schlecht geträumt hat, und hinaus geht in die pechschwarze, mondlose Dunkelheit, glaubt er in dem rußverschmierten Himmel eine aufgerissene Lücke entdecken zu können, durch die ein Stern schimmert. Dann reibt er sich schlaftrunken die Augen, sieht noch einmal zweifelnd in die Höhe, und dann legt er sich wieder hin, um einen bleiernen Schlaf zu schlafen.




© Rainer M. Scholz

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Kommentare zu diesem Text

Zweifler (62)
(29.08.13)
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 RainerMScholz meinte dazu am 30.08.13:
Ich danke sehr.
Gruß,
R.
KoKa (45)
(29.08.13)
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