Flüsse im Fluss

Gedanke zum Thema Ich

von  Ephemere

Tragisch: Das Verblassen der Dinge.

Furchtbar für das "Ich": Immer nur ein "jetzt gerade" zu sein.

Was wir früher erlebt und gelernt haben, wirkt in uns fort, doch die Erlebnisse selbst werden blass, entrücken ins Vergessen.

Das "es war" wird unsicher, lückenhaft.

Wir müssen erkennen: Man kann nichts von dem Leben, das man "hatte", behalten oder konservieren. Lediglich wie eine Diavorführung kann man sich mitunter Schnappschüsse ansehen - verzerrt durch den Projektor der Gründe, aus denen wir uns erinnern.

Das Gestern ist wohl in uns präsent - doch wird es nicht, häufig zufällig, als Erinnerung wachgerufen, sind wir uns seiner nicht bewusst. Die Erinnerung selbst ist nicht mehr als ein Traum, dem wir den Abglanz vergangener "Wirklichkeit" beimessen.

Und wie aus einem Traum erwacht stehen wir im Jetzt: Vergessen haben wir, wer wir waren, was unser Leben war, entglitten ist es uns.

War, ist es dann also unser Leben? Sind wir...wir?

Ja, jedoch immer nur im Moment.

Ist dass Ich dann überhaupt eine gültige Hypothese? Sind wir im Kern nicht etwas deutlich Wenigeres, als wir meinen, dessen Form lediglich Reflexion und Camera Obscura des Jetzt ist?

Haben wir das Recht, von unserer Vergangenheit als "Ich" zu sprechen, nicht nur in dem Maße, in dem wir von unseren Träumen als "Ich" sprechen?

Das Leben als Geschichte, als Gesamtwerk ist eine Lüge. Es bleibt Improvisationskunst im Fluss - und Versuche, festzuhalten, sind zum Scheitern verurteilt.

Wenn sich unser Leben und unsere Realität, Erinnerung, Erzählung mit dem Fluss verändert, wie weit gehören sie uns und wie weit gibt es ein "uns", dem sie gehören könnten?

Eine seltsame Mischform sind wir - aus Subjekt, das im Strom der Zeit durchs Nichtwissen und Vergessen navigiert, verblassende Leuchtspurstraßen hinterlassend, und Objekt, transparentes, dem das Stück Augenblick, das durch es hindurch scheint, seine Farbe gibt.

Wir sind selbst bewegte transparente Substanzen, die ihre Farben durch den Moment bekommen, ohne sie wie eine Leinwand sicher halten zu können.


Anmerkung von Ephemere:

von 2006

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Kommentare zu diesem Text


 unangepasste (03.09.13)
Ich mag den Text. Was du über Erinnerung und Gegenwart sagst, habe ich auch schon oft so ähnlich gedacht.
Trotzdem kann sich die Vergangenheit als zweite Farbe in die Farbe des Momentes mischen, auch wenn sie manchmal wie abgespalten von dem gegenwärtigen Selbst erscheint.

 Ephemere meinte dazu am 03.09.13:
Das ist sehr wahr und schön ausgedrückt. Ich habe dazu 2007 das Gedicht  Criteria geschrieben, das in unser Lied  Mountains of Nothing eingeflossen ist.
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