Windwärts!

Text zum Thema Abenteuer

von  bluedotexec

Windwärts!

Was die Luftschiffe seit jeher wie verankert über dem Erdboden hielt, war das Fluchtgas, und die kohlebetriebenen Dampfmaschinen trieben sie vorwärts.
Es gab Bestrebungen, das Gas durch Flüssigkeiten zu ersetzen und auch den Auftrieb durch Verbrennungsmotoren zu erzeugen, ja. Doch die Verschrobenen unterlagen den Pragmatischen, so dass die einzige Möglichkeit, einen Blick auf eine blauschwarze Rauchwolke zu erhaschen, die aus einem flinken kleinen Luftgefährt floh, sich während eines Piratenüberfalls bot, und sowas kam enorm selten vor. Der Vebrennungsmotor fristete ein Nischendasein, man nutzte ihn, um Dynamomaschinen zu betreiben, wo selten Kohle geliefert wurde, oder die Versorgung damit zu teuer wurde, etwa in der schlecht erschlossenen Tundra Sibiriens oder in den Wüsten Afrikas, denn dort war flüssiger Brennstoff leichter zu bekommen.
Das Fluchtgas war ein revolutionäres Gemisch, das einst in den Athanoren und Kesseln Venedigs geboren wurde, beileibe kein Wunschkind, doch der vielleicht nützlichste Zufall, der die Menschheit je ereilte. Niemand konnte heute noch sagen, wann seine fantastische Eigenschaft, seine Dichte bei Erwärmen exponentiell zu reduzieren, entdeckt wurde, fest stand, dass es jahrzehntelang als wertloses Abfallprodukt verworfen und über die Schlote der alchemischen Werkstätten im Norden Italiens der schwarzen Wolkendecke überantwortet wurde, die dort den Himmel bedeckte, wo kühne Geister ihre mehr oder weniger wahnhaften Ideen durch den Alembik jagten.
Erst ein weitsichtiger Alchemist, ein Adept, namentlich Panaceasus Zosimus, so jedenfalls lautete sein Name seit seiner Illumination, ließ die Suche nach Geheimnissen im Festen und Flüssigen ruhen und verlegte sich auf die Gase. Und während er die Retorte kühlte, um die Zusammenhänge zwischen diesen drei Grundformen zu begreifen, stellte er fest, dass der Rotationszähler immer noch anschlug, obwohl augenscheinlich alles Gas kondensierte.
Das Fluchtgas ließ sich nicht verflüssigen. Seine Dichte lag auch bei Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt noch unter der von Luft, und beim Erwärmen sank sie um ein Vielfaches darunter. Panaceasus Zosimus wurde nach seinem Tod berühmt durch ein Bild, das ihn vor seinem Athanor zeigte, aus dem eine Wolke des herrlichen Gases strömte, durch Wärme höchst glückselig beschleunigt, und im Taumel der Begeisterung die Haare des armen wie reichen Panaceasus gen Himmel fahren ließ.
Er hatte sehr lange Haare.

Und diesem Alchemisten ist es zu verdanken, dass, als Kapitän Henry Asherton das Signal zum Lösen der Befestigungen gab und der Sichtschutz hinter ihm in die Coltesti-Schlucht glitt, der Flottacorpus der Kalina Bogdan gemächlich wie ein indischer Elefant hinter der Felskante auftauchte.
Es war, als käme ein versunkenes Schiff kieloben aus den Tiefen der Weltmeere zurück. Der silbrig-graue Körper schien der Horizont zu werden. Erst verschwand das Grün der Felder, die weithin zu sehen waren, dann das langsam dunkler werdende Blau. Riesenhaft schwebte der zweihundert Meter lange Auftriebskörper dem Himmel entgegen. Asherton trat beiseite, wie um das Schauspiel nicht zu beschmutzen, als gelte es, die Jungfräulichkeit des Aguillators so lange wie möglich zu erhalten.
Der Flottacorpus zeigte endlich auf, wo der Schatten des Ankerturms endete, den Molly sehen konnte, doch die Penumbra des Dunkels verschmolz mit den kunstvollen viktorianischen Linien, die in schwarz auf die Außenhülle gezeichnet waren, und endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, erschien das riesige Symbol der Blue Line Ferry Company, als ginge eine neue Sonne in wohligem Blau auf, einem Blau, das eine gewisse Wärme auszustrahlen schien. Was zugegebenermaßen widersinnig war, doch irgendjemand hatte hier ganze Arbeit geleistet.
Am Scheitelpunkt seiner Rundung schien sich der Auftriebskörper langsam zu entfernen, eine optische Täuschung, den titanischen Ausmaßen des Gebildes geschuldet. Der Geist der Betriebsamkeit fuhr in die Werftarbeiter, die der Kante entgegen eilten, die dort bereitliegenden Taue aufhoben und sich mit aller Macht gegen das Gewicht des Schiffes stemmten. Abgesehen vom Hauptanker hielten nur diese Männer das Schiff an Ort und Stelle, und sie würden es so lange tun, wie es dauerte, all diese Menschen an Bord des Schiffes zu bekommen.
Der Flottacorpus endete, und eine Weile sah Molly nur die zahllosen Seile, Taue, Ketten und Wanten, mit denen er davon abgehalten wurde, dem Bestreben des in seinem Inneren gebundenen Fluchtgases zu folgen, in fröhlichem Irrsinn davon zu hasten, über Luftwirbel zu springen und den Rumpf sich selbst zu überlassen. In den Wanten hingen Deckarbeiter und winkten den wartenden Passagieren fröhlich zu, riefen zotige Sprüche und deuteten, hauptsächlich der Anwesenheit der Damen gegenüber, Verbeugungen an, so gut man das eben bewerkstelligen konnte, wenn man achthundert Meter über dem Erdboden in einem Netz aus Hanfseilen hing. Die Heizer, von Kopf bis Fuß Mohrenschwarz, die Navigatoren mit ihren Multiskop-Monokeln, die Zimmerleute von der Instandhaltung in ihrer Quellippa, ihrer Kordkleidung, die Küchenbelegschaft in den weißen Jacken mit den schwarzen Knöpfen, die Zimmerbediensteten mit den Uniformen in sanftem Grün, sie alle standen an der Reling, die Hände ruhten auf dunklem, vermutlich warmen Eichenholz, bereit, ihre Arbeit in wenigen Minuten wieder aufzunehmen, sobald das letzte Frachtgut verstaut und alle untergebracht waren.
Der Rumpf tauchte auf. Viele Tonnen Kupfer, Messing und Holz, kunstvoll verdichtet auf den Raum, den das luxoriöseste Luftschiff der größten Flotte einnahm, ein Konglomerat der Superlative, die Verzierungen, die die runden Bullaugen umwanden und organische Formen annahmen, glichen den Ranken eines riesigen Rosenstrauchs, der das Schiff sanft in seinen Armen hielt, als wollte er es in den Schlaf wiegen. Die Quarzglasfenster blinzelten sanft, doch neckisch, fast herausfordernd, als ob sie gespannt wären, wer aus dieser Meute wirklich bereit war, die ganze Tragweite des Abenteuers zu erfassen, das auf sie alle wartete. Und irgendwo tief im Herzen der Kalina Bogdan legte jemand einen Hebel um, der ganze Armeen von Ventilen und Rohrverteilern neu ausrichtete, und ein Dampfstrom, der eben noch unter Hochdruck im Innern eines Kupferrohrs strömte, das die Meter bis zum Flottacorpus überbrückte, in dem es in eine endlos anmutende Schnecke, eine Heizspirale, überging, die das Fluchtgas am Tanzen hielt, änderte die Richtung und verließ das Schiff über den Dampfschornstein, um weiteres Aufsteigen zu verhindern. Das Dampfluftschiff verlangsamte seinen Anstieg, und als ob jemand es berechnet hätte, stoppte es, als das große Hauptschott an Backbord auf einer Höhe mit der Felskante der Coltesti-Schlucht stand. Einige Sekunden lang geschah gar nichts, dann senkte sich langsam die Luke herab und gab erstmals den Blick in den Bauch des Schiffs frei.

„Meine hochverehrten Damen und Herren.“ Der Kapitän war wieder an das Pult getreten. „Dieses Schiff wird für die nächsten Wochen unser aller Zuhause sein. Respektieren wir es. Wir werden bis nach Italien ohne einen Stopp fliegen, in Antignano werden wir das erste Mal Kohle auffüllen. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass wir dort nicht wie gewohnt anlanden werden, denn Antignano liegt fast auf Meereshöhe und bietet uns keinen Lufthafen. Doch die Kalina Bogdan ist schwimmfähig und wird im Wasser des Mittelmeers landen. Genug!“ Unterbrach er sich selbst, „Wir wollen an Bord gehen. Das Personal wird Ihnen helfen, Ihre Zimmer zu finden. Ich möchte dennoch zur wohlbedachten Eile aufrufen, um unsere geschätzten Werftarbeiter zu entlasten.“ Mit einer Armbewegung schloss er sie in seine Rede ein.
„Wir sehen uns in dreißig Minuten an Deck!“
Plötzlich erwachte Molly aus ihrer Trance. Es war, als hätte sie den Anblick des aufsteigenden Luftschiffs in einem ganzen Leben gesehen. Die Worte des Kapitäns in Ihrem Ohr nachhallend, hob Sie ihren Rucksack vom Boden auf, umklammerte das Ticket, das ihr den Zugang ermöglichen würde, und trat auf den Zugang zu.
Eine Schlange bildete sich. Vor ihr stand der beleibte kleine Mann, der so ungeduldig und ohne jeden Sinn für das, was er gerade miterleben durfte, neben ihr gestanden hat, stand jetzt vor ihr und trat von einem Bein aufs andere, doch – zu Mollys Erleichterung – ohne ein Wort des Leidens oder der Unruhe seinen Lippen entwischen zu lassen.
Als sie sich bückte, um ihren Rucksack aufzuheben, stieß sie rückwärts mit der hinter ihr stehenden Person zusammen. Sie drehte sich um. Dort stand eine Dame von beeindruckender Größe, mit blonden, in der Manier der Schweißer zurückgebundenen Haaren. Über ihrer Schulter hing eine Lederjacke, sie hielt eine kleine Tasche, ebenfalls aus Leder, in der linken Hand, kaum groß genug für mehr als zwei Paar Hemden und Hosen, und einen weißen, zusammengeschobenen Sonnenschirm in der Rechten. Die beiden in vornehmen weißen Handschühchen steckenden Hände schienen zu zittern, obschon kaum merklich. Molly bemerkte die unter der Seide hervortretenden Fingerknöchel.
„Verzeihung.“ stieß sie schüchtern hervor.
„Wie bitte?“ Fragte die Dame mit brüchiger Stimme und räusperte sich.
„Ich sagte Verzeihung.“
„Oh, ach das. Keine Sorge, kleine Lady.“ Dann sah sie zweifelnd auf das Luftschiff, das majästetisch in seiner Warteposition verharrte, und fügte hinzu: „Mir ist noch nichts passiert.“
„Haben Sie Flugangst?“ Molly richtete sich wieder auf und schwang den Sack auf ihren Rücken.
„Nur auf Luftschiffen.“
„Wieso gerade auf Luftschiffen?“
„Ich stamme aus dem Norden der Ukraine. Ich bin es gewöhnt, den Motor vor mir zu haben und den Auftrieb an den Seiten. Agrarflugzeuge, du verstehst?“
Mollys Blick zuckte. Tatsächlich, die Dame trug zu ihrer vornehmen seidenen Abendgarderobe eine stabile Arbeitskorsage mit Schlaufen zur Befestigung von Werkzeug, und die Jacke über ihrer Schulter war, so erkannte sie nun, eine Fliegerjacke.
„Sie sind Pilotin?“
„Und Bäuerin, Melkmädchen, Stallbursche – alles in einem.“
Molly setzte zu einer Antwort an, doch sie wurde unterbrochen.
„Vorlautes kleines Balg. Lass' die Dame in Ruhe!“
Besagte Dame reagierte mit einer trocken hochgezogenen Augenbraue und sah über Mollys Kopf hinweg. Diese drehte sich um. Der kleine Dicke hatte dem Schiff den Rücken zugewandt und sah mit arrogantem Blick auf sie hinab.
„Und Sie sind?“ Fragte die Dame kühl.
„P.L. Norrington der Name!“ Sagte er zackig. Molly riss überrascht die Augen auf.
„Norrington wie in 'Potato Norrington'?“ Hakte die bisher namenlose Frau nach.
„Ganz recht. Norringtons Kartoffeln. Beliefert ganz Mitteleuropa mit Erdäpfeln.“
„Ja,“ seufzte sie. „So sehen Sie aus. Wie jemand, der nach Knollen gräbt.“
P.L. Norrington blieb die Spucke weg.
„Ich kenne Leute wie Sie. Alle vom gleichen Schlag, und die gleichen Ideen im Kopf. Beziehungsweise den gleichen Mangel daran. Ich hatte 10 Morgen Kartoffeläcker, doch die ausländischen waren billiger.“
Molly grinste.
„Was grinst du so?“ Blaffte er sie an.
„Sie grinst Ihretwegen, Mister Norrington, und die Gründe dafür sind wohl nicht von der Hand zu weisen. Jetzt sehen Sie besser wieder in die richtige Richtung, sonst stürzen Sie womöglich in die Coltesti-Schlucht.“ Sie zog erneut beide Augenbrauen hoch, diesmal mehr fordernd denn belustigt.
Norrington hob demonstrativ die Hände und drehte sich um.
Vereinzelt brandete Gelächter unter den Umstehenden auf.

Etwa zwanzig Minuten später war Molly an der Reihe, die Schwelle zu übertreten. Sie warf einen letzten Blick zurück auf die Lufthafengebäude, die dort standen.
Irgendwo, weit, weit dahinter stand zwischen den Feldern am Rande eines kleinen Buchenhains ein Haus. Es war hübsch, mit einer eigenen Dynamodampfmaschine, Blumenkränzen in den Fenstern, einem Jägerzaun, der den blumenreichen Vorgarten umgrenzte, und im Hinterhof eine große Werkstatt voller Rohre, Leitungen, Werkzeug und Arbeitsgerät, und irgendwo hinter der Werkstatt, auf einem kleinen Hügel, lag ein Stein. Er war etwa so groß wie drei Köpfe, und darauf hatte jemand mit Händen, die geschickt genug waren, um den fragilen Mechanismus eines Resonatorquarztaktgebers auseinander zu nehmen und wieder zusammen zu setzen, aber zu ungeübt um Umgang mit Hammer und Meißel, zwei Zahlen und den Namen 'Hank O'Connell' eingraviert.
Und vielleicht saß Großvater Hank irgendwo auf einer Wolke, einem Feld oder am Steuer eines kleinen Fährdienstluftschiffs, das bis in alle Ewigkeit gleichmütig seinen Dienst verrichtete, und sah in diesem Moment hinab auf die Stelling der Kalina Bogdan, wo seine Enkeltochter nun stand und plötzlich etwas weniger sicher war, ob sie eines Tages am Steuer eines solchen Aguillators stand.
Dann drehte sie sich um und verschwand im Dunkel des Schiffsbauchs.

„Schließt die Luke!“ Rief der Kapitän über die Reling. Er stand darauf und hielt sich mit einer Hand in den Wanten fest, augenscheinlich frei von jeder Höhenangst. „Was immer Sie, meine Damen und Herren, jetzt noch vergessen haben, lassen Sie es los. Alles Erdgebundene ist nutzlos in der Grenzenlosigkeit des Himmels. Was Sie brauchen, werden Sie hier finden, und was Sie nicht an Bord finden, brauchen Sie vermutlich auch nicht. Das erste Abendessen an Bord findet um acht Uhr, in zwei Stunden, statt. Richten Sie sich bis dahin in ihren Kabinen ein, und zögern Sie nicht, sich von unserem versierten Personal dabei helfen zu lassen.“ Dann hob er den Blick wieder der Werft entgegen und rief: „An die Debardeure: Lasst die Leinen fahren!“
„An die Heizer: Gebt Kohle!“
„Navigatoren: Kurs auf Antignano!“
Allen Passagieren war klar, dass diese Befehle einer Kette von Offizieren folgten, bis sie von denen, an die sie gerichtet waren, ausgeführt wurden, doch für den Moment war der Kapitän in seiner Funktion als Stellvertreter der Crew das Luftschiff selbst. Und dann, zu Mollys ekstatischem Glück, rief er das Wort, das der Tradition nach als das letzte Wort auf einem Luftschiff mit Bodenkontakt galten:
„Windwärts!“


Anmerkung von bluedotexec:

Charaktere! Hark!

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