Lyrik und Macht. Eine Fabel

Fabel zum Thema Macht

von  EkkehartMittelberg

Der König der Tiere war des ewigen Herrschens müde und beschloss, sich an seinem Hofe mit einem Lyrikwettbewerb unterhalten zu lassen.

Die Nachtigall, der Dachs, das Chamäleon und der Fuchs waren in die engere Auswahl gekommen und trugen dem Löwen, der sich selbst zum Schiedsrichter ernannt hatte, ihre Gedichte vor.
Als die Lesung beendet war, sagte der Löwe: „Erklärt mir doch bitte, woran ich ein gutes Gedicht erkennen kann, damit ich ein gerechtes Urteil fälle.“

Die Nachtigall, die eine Elegie vorgestellt hatte, äußerte sich zuerst: “Entscheidend sind die Magie des Wohlklangs und der frei schwingende Rhythmus, edler König. Sie machen auch den Inhalt schön.“

Der Dachs hatte ein Sinngedicht vorgetragen, das von Freiheit und Knechtschaft handelte: Er setzte alles auf eine Karte: “Wohlklang und gefälliger Rhythmus sind nur äußerer Zierrat, mein Gebieter. In großer Lyrik geht es um den Gehalt, um die Sehnsucht nach Freiheit, der die Kunst zu dienen hat.“

Das Chamäleon hatte in einer bisher noch nicht bekannten Strophenform moderne Lyrik zu Gehör gebracht und pries deren Mehrdeutigkeit: „Wahre Kunst fordert den kreativen Partner wie Euch, Durchlaucht. Sie lässt dem Hörer die Freiheit, unter mehreren Deutungen zu wählen und es obliegt Euch, jene herauszufinden, die Eurer würdig ist.“

Der Fuchs hatte darum gebeten, statt seiner unwürdigen Verse ein Lied von einem Menschen, einem gewissen Heinrich Heine, vortragen zu dürfen, ein Regelbruch, dessen Unterhaltungswert der König zu schätzen wusste. Reineke zitierte:

An einen politischen Dichter
Heinrich Heine

Du singst wie einst Tyrtäus sang,
Von Heldenmut beseelet,
Doch hast du schlecht dein Publikum
Und deine Zeit gewählet.

Beifällig horchen sie dir zwar,
Und loben schier begeistert:
Wie edel dein Gedankenflug,
Wie du die Form bemeistert.

Sie pflegen auch beim Glase Wein
Ein Vivat dir zu bringen,
Und manchen Schlachtgesang von dir
Lautbrüllend nachzusingen.

Der Knecht singt gern ein Freiheitslied
Des Abends in der Schenke:
Das fördert die Verdauungskraft
Und würzet die Getränke.

„Nun, und woran erkenne ich ein gutes Gedicht?“ hakte der Löwe nach. „Ich hoffe untertänigst, eines vorgetragen zu haben“, schmunzelte der Fuchs

Der König legte dem Fuchs seine schwere Pranke auf den Hals, sodass dieser glaubte, sein letztes Stündlein habe geschlagen, und verkündete sein Urteil:
„Dir gebührt der Preis, mein Freund, denn du hast das Freiheitsgeschwafel deiner Vorgänger entlarvt. Diese intellektuellen Pinscher haben mich gelangweilt.“
Der Fuchs zog sich mit mehreren Verbeugungen langsam zurück und suchte dann schnell das Weite.
Danach verspeiste der Löwe genüsslich die drei anderen Poeten.
© Ekkehart Mittelberg, Oktober 2013

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Kommentare zu diesem Text

Zweifler (62)
(22.10.13)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.10.13:
Vielen Dank, Zweifler. Ja, die Lehren von Fabeln sind kompromisslos und das gefällt mir an ihnen.

 sensibelchen13 (22.10.13)
Ein trauriges Ende.

LG Helga

 Sanchina antwortete darauf am 22.10.13:
kein trauriges, sondern eher ein sehr natürlich-sinnhaftes Ende ...
obgleich: an so einem Wettbewerb nehm ich nicht teil!

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 22.10.13:
Merci, Helga und Sanchina. Das traurige Ende ist das Ende derer, die sich traumtänzerisch mit der Macht einlassen.
LG
Ekki

 TrekanBelluvitsh (22.10.13)
"Doch hast du schlecht dein Publikum
Und deine Zeit gewählet."
Böse Falle. Dann muss man halt wie der Fuchs die Regeln ein wenig interpretieren. Und schon hüpft man vergnügt seiner Wege...

Auf der anderen Seite: Ein Dichterwettkampf bei einem gelangweilten König? Das kann nur in den Magen gehen!
(Kommentar korrigiert am 22.10.2013)

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 22.10.13:
Gracias, Trekan. Könige sind meistens gelangweilt, wenn man ihnen geistreich kommen will. Sie erwarten die schnörkellose Bestätigung, der Klügste zu sein.

 SapphoSonne (22.10.13)
Nun ja, was haben wir für ein Glück, scheint mir.
Zwar sind die Kritiken nicht immer schmeichelhaft, aber gefressen wurde m.E. noch niemand deswegen.
LG Sappho

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 22.10.13:
Grazie, Sappho, ja, es ist eine Tatsache, dass noch niemand gefressen wurde. Aber gelegentlich scheint der Eine oder die Andere etwas angefressen zu sein. )
LG
Ekki

 susidie (22.10.13)
Und die Moral von der Geschicht...?
Lege schnell den Stift aus der Hand, versenke alle anderen schreiberischen Hilfsmittel im Nirwana und suche das Weite.

Oder: Take it easy und dich und deine Ansprüche nicht zu ernst.

Gut gebrüllt, Löwe. Mit einem Lächeln gehe ich jetzt in den Tag. Machtlos grüßt dich Su :)

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.10.13:
Merci, Susi, ich hoffe, dass kein kritischer Geist den Stift aus der Hand legt. Sollte er wirklich verschlungen werden, kann er die Macht von innen zersetzen. ) Aber wenn er sich und seine Ansprüche etwas weniger ernst nähme, sollte es mir recht sein.
LG
Ekki
MarieM (55)
(22.10.13)
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SchorschD (78) meinte dazu am 22.10.13:
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.10.13:
Besten Dank, Marie. "Lyrikindustie": Chapeau, da ist dir ein Volltreffer gelungen. Gleichwohl denke ich, dass wir trotz oder wegen des Internets, mit dem viel Schund und Mittelmäßiges verbreitet wird, noch niemals zuvor eine solche lebendige Fülle von Lyrikformen und so interessante Experimente mit diesem Genre hatten wie heute.
Liebe Grüße
Ekki

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.10.13:
Lieber SchorschD, wenn dir außer dem Inhalt die Komposition der Fabel gefällt, freut mich das, weil sie durch die Kombination mit dem Heine-Gedicht tatsächlich etwas vom gängigen Typus des Genre Fabel abweicht.
LG
Ekki
MarieM (55) meinte dazu am 22.10.13:
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.10.13:
@MarieM: "Insgesamt war ich beim Lesen der Kommentare angenehm überrascht, wie viele unterschiedliche Interpretationen deine Fabel zulässt. LG (22.10.2013)"

Danke, dass du noch einmal darauf verwiesen hast, Marie. Um die unterschiedlichen Interpretationen ging es mir. Wenn du Fabeln von Äsop bis Lessing liest, sind die relativ langweilig, weil aus einer einlinigen Handlung eine Lehre abgeleitet wird und das war's dann. Etwas übertrieben formuliert: Hast du ein Fabel von denen gelesen, kennst du alle. Ich denke aber, dass man die Struktur der Fabel beibehalten und sie dennoch mehrdeutig erzählen kann.
chichi† (80)
(22.10.13)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.10.13:
Vielen Dank, Gerda. Dein Lob ist mir Ansporn.
LG
Ekki

 sandfarben (22.10.13)
kann nix mehr sagen, war das chamäleon....
:-))))

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.10.13:
Etwas anderes hätte ich von dir auch nicht erwartet, Christa. ))
Vielen Dank
LG
Ekki

 Didi.Costaire (22.10.13)
Demoralisierend, aber gut geschrieben.
Liebe Grüße, Dirk

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.10.13:
Vielen Dank, Didi. Auf den ersten Blick demoralisierend. Aber ich hoffe, dass sich die Richtigen trotzig zeigen.
Liebe Grüße
Ekki
LottaManguetti (59)
(22.10.13)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.10.13:
Grazie especiale, Lotta, fast jeder, ob eitel oder nicht, freut sich über Lob. Das gilt auch für mich. Aber ich habe mich besonders darüber gefreut, dass du die Mehrdeutigkeit dieser Fabel erkannt hast. Die offensichtliche Lehre bietet sich an: Wer mit der Macht speisen will, muss einen langen Löffel haben. Doch es wären noch andere Deutungen möglich.
Liebe Gruß zurück
Ekki
Anne (56)
(22.10.13)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.10.13:
DANKE, Anne. du, das meine ich jetztg ernst. Bei deiner Lyrik könnte mancher arrogante König innehalten. Ganz einfach deswegen, weil sie nie besserwisserisch und ambitiös wirkt.
Nachdenkliche Grüße
Ekki
Anne (56) meinte dazu am 22.10.13:
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 loslosch (22.10.13)
gut, es ist eine fabel. aber der löwe, quasi der chef in der manege, bezieht den freiheitlichen impetus nicht auf sich. sonst wärs meister reineke in der tat schlecht ergangen.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.10.13:
Danke, Lothar, man kann es so deuten wie du. Ich interpretiere die letzte zusammenfassende Strophe des Heine-Gedichts so: Die konsumierenden Knechte singen folgenlose Freiheitslieder. Solange das so ist, kann die unerschütterte Macht milde lächeln. Reineke vermittelt also dem König ein Gefühl der Sicherheit. Deswegen der Preis für ihn.
Graeculus (69)
(22.10.13)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.10.13:
Aber Graeculus, die satirische Fabel "diskreditiert" Lyrik doch nicht wirklich. Sie zeigt die Arroganz der Macht im Umgang mit Kritik jeglicher Art: "Freiheitsgeschwafel", "Pinscher".....
Aber Fragen sind selten falsch. Vielen Dank dafür.
LG
Ekki
Pocahontas (54)
(23.10.13)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.10.13:
Liebe Sigi, besten Dank für deine kluge, gründliche Interpretation. Ich habe mich nach ihrer Lektüre gefragt, wie ich selbst meine Fabel deuten würde und dabei festgestellt, dass wir uns nur in Nuancen unterscheiden: Die größte Anmaßung verkörpert natürlich der König, er repräsentiert die Arroganz der Macht, die nicht bereit ist, sich mit den Argumenten der ersten drei Tiere auseinanderzusetzen, und er täuscht souveräne Langeweile vor, fürchtet in Wirklichkeit aber die Lyrik als Ausdruck gedanklicher Freiheit. Der Fuchs wird verschont, weil er den König beruhigt mit dem Verweis darauf, dass Freiheitslyrik von den Knechten konsumiert wird und deshalb scheinbar keine wirkliche Gefahr darstellt. (Sie ist es doch, weil die Untertanen des Königs nicht nur aus Knechten bestehen und konsumierende Knechte zu Mitläufern revolutionären Denkens werden können.)
Die Frage ist, warum der absolute Herrscher die Nachtigall, den Dachs und das Chamäleon frisst. Ihre vergleichsweise geringere Arroganz wird sehr hart bestraft.
Ich stelle mir den Herrscher so vor, dass er zwei Motive hat. Erstens mag er wie fast alle Herrschenden die aus seiner Sicht schwafelnden Intellektuellen prinzipiell nicht und zweitens statuiert er ein gründliches Exempel mit der Vernichtung aufkeimender Freiheitsgelüste. Der Löwe weiß, dass es in der Regel Künstler sind, die sie wecken und befördern.
Herzliche Grüße
Ekki
(Antwort korrigiert am 23.10.2013)

 Dieter Wal meinte dazu am 23.10.13:
Der König frisst sie als Ausdruck seiner Machtvermehrung. Wer etw. in sich aufnimmt, gewinnt (die Kraft der Gefressenen) dazu.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.10.13:
Ein interessanter Aspekt, Dieter. Ich habe daran nicht gedacht, aber auch diese Deutung befindet sich im Einklang mit dem Text.

 Dieter Wal meinte dazu am 23.10.13:
Falls Orpheus tatsächlich als historische Persönlichkeit von den Mänaden zerrissen und gefressen worden sein sollte, was ich für möglich halte, hat es einen vergleichbaren Hintergrund: Es ging den Mänaden bei Homophagie des Orpheus um das Vernichten eines in Orpheus konkurrierenden Religionserneuerers für Apollon, was mit dem dionysischen Kult unvereinbar war. Das Fressen des Orpheus ergab einen umso stärkeren Kult für Dionysos.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.10.13:
Auch dies wusste ich nicht, Dieter, und bin um eine wichtige Erkenntnis reicher.

 Dieter Wal (23.10.13)
Vor allem durch die Bildgewalt des speziell in moderner Werbung gern verwendeten Chamäleons wirkt deine Fabel antik und modern zugleich. Ich find sie sehr schön! Du postet plötzlich lauter Perlen, Ekki. Ungeheuerlich! :))

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.10.13:
Lieber Dieter, du lobst mich sehr. Das macht mich innerlich frei und gibt mir Sicherheit. Ich weiß aber um die Gefahr des Lobs, weil es satt und bequem machen kann. Ich versuche mir dessen immer bewusst zu sein.
Beste Grüße
Ekki

 irakulani (23.10.13)
Für mich ist eine der Lehren, die ich aus dieser Fabel ziehe, lieber Ekki, dass gerade in der Lyrik Regeln keine Macht ausüben sollten. (Ausnahme sind die Regeln, die sich der Dichter selbst gibt, für die Gestaltung seines Werkes).

Ich halte es mit Robert Gernhardt, der in seinem Buchtitel "Was das Gedicht alles kann: Alles" bereits die Antwort, die er für gut befunden hat, gab.

Herzliche Grüße,
Ira

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.10.13:
Ja, Ira, das stimmt. Die Lyrik, vor dem Sturm und Drang noch durch Regeln gebunden, hat sich zu einem wirklich freien Genre entwickelt. Es gelten also nur noch die Regeln, die sich der Dichter selbst gibt. Wenn er zum Beispiel sein Werk mit Jamben beginnen lässt, darf er nicht ungestraft in den Trochaeus wechseln, es sei denn, er will damit eine Kernaussage pointieren. Aber wie du schon sagst: Das sind selbst gewählte Regeln.
Grazie und herzliche Grüße
Ekki

 TassoTuwas (25.10.13)
Ekki, da wird mir der Stift schwer.
In eine so leicht und unterhaltsame daher kommende fabulierte Geschichte, so viel Nachdenkenswertes und Gescheites zu verpacken, ist größes Können!!
Herzliche Grüße TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 25.10.13:
Hast du es gehört, Tasso: "Flopp!". Das war der Korken von dem Freudesekt.
Das erste Glas trinke ich auf dich.
t.t.
Ekki

 Dieter Wal (01.11.13)
Je öfter ich die Fabel lese: Wir sollten alle mehr für Mächtige schreiben. Bringt Spaß. :)

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 01.11.13:
Danke, Dieter. Die meisten Fabeln sind eindimensional. Ich habe versucht, diese davon zu befreien. Das scheint gelungen zu sein.
LG
Ekki
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