Trüffelschweinereien

Kurzgeschichte zum Thema Erinnerung

von  LotharAtzert

Auf keinen Fall möchte man als ehemaliger Werbegrafiker aus freien Stücken Werbung für ein Produkt machen - man weiß um das Infame von Lobpreisungen aus der Industrie aus erster Hand! Doch keine Regel ohne Ausnahme - bei Schokolade nämlich kommt stets nur eine Schweizer Firma ... nicht lang auf den Tisch, am besten gleich in den Mund.
Ja, die Marke ist zugegebenermaßen etwas teurer und eigentlich kann ich mir Luxus garnicht mehr leisten, seit der Verweigerungshaltung gegenüber Offiziellem, aber ... mmmh, dieser Geschmack feinster Kakaomasse, wie das auf der Zunge zerfließt und ... wenn man - aufgrund besagter Verweigerung - schon kein Weibchen mehr für's große Verführungsspiel gewinnt, das den Speichelfluß zum Amazonas anschwellen läßt, der den Regenwald ... ich verliere mich schon zu Beginn in einem Seitenarm zur Freude der Moskitoschwärme ... muß Kakaomasse halt ab und zu herhalten - ist immer noch günstiger, als die orale Befriedigung etwa im Bordell.
Aber wie komm ich jetzt darauf? Wieso stehe ich im Supermarkt am Süßigkeitenregal und es läuft mir ein kalter Schauer den Rücken herunter, just in dem Moment, wo mein Blick auf eine Trüffel-Schokolade der Edel-Marke fällt? Was verbinde ich mit diesem an sich harmlosen Wort "Trüffel?"
Ein kleiner Junge rempelt mich an, die Mutter aufgeregt hinterher: "Was hab' ich dir heute Morgen erst gesagt...?"
Mir will scheinen, es ist nicht ursächlich der seltene, feinköstliche Speisepilz und auch nicht das Schwein, das ihn ausgräbt - wiewohl mir auch die Kombination suspekt ist, überhaupt alles, was irgendwie an das Wort Trüffel erinnert. "Rüffel" zum Beispiel - da fehlt bloß ein Buchstabe! Auch den Rum mag ich nicht, bloß weil es Rum-Trüffel gibt. Das ist seit Jahr und Tag so: ich mag diesen verdammte Klang "Trüffel" nicht und auch alles real Trüffelige kommt mir nie auf den Tisch. Ähnlich erging es mir lange mit eingeschrumpelten Trauben - Rosinen, Sultaninen. Korinthen etc.. Vor allem, wenn sie im Käsekuchen wieder künstlich aufquellen - pfui deiwel! Und eine Frau, die Trüffel und Rosinen genösse, das ging garnicht. Es gab Zeiten, da erwog ich ernsthaft, mich den Radikalen oder Rebellen anzuschließen - Trüffelkiller gegen Korinthenkacker, sowas in der Art ...
Und dann plötzlich kommt es mir ... wie ein Schlag in die Fresse, viele Jahrzehnte liegt es zurück, hat sich all die Jahre im Keller verborgen gehalten, geduckt, wie so vieles und hat vielleicht garnicht mehr damit gerechnet, daß es eines Tages doch wieder ans Licht kommt. Alle Geschehnisse haben ihren Grund in etwas Verdrängtem, schlagen wie Pflanzen Wurzeln, um verborgen im Dunkeln sich zu erhalten. Und es obliegt dem Einzelnen, das zu entdecken, um die im Stoff gefangengehaltene Energie zu befreien, damit sie wieder bewußt ge- und verfügt werden kann. Sonst predigt man irgendwann Haß oder tötet äußere Feinde.
Es war etwa in meinem fünften oder sechsten Lebensjahr, zwei Tage vor Muttertag, wie heute, da war ich bei einem Freund, Klaus hieß er wohl. Dieser Klaus hatte eine Modelleisenbahn, doch das langweilte mich schnell, der Bahn hinterher zu schauen, wie sie in einem Oval herum fuhr, durch ein kleines Viadukt hindurch und immer und immer wieder dasselbe. Man konnte höchstens eine Brücke oder das Viadukt verrücken - das fand ich einfach nur verrückt, sowas sinnflaches öfters, als einmal zu tun.
Dieses Fahren auf Schienen "schien" überhaupt sehr vielen Jungs zu gefallen - vielleicht als Vorbereitung auf die spätere "Lauf-Bahn", die keine Freiheiten, keine "Kunst" mehr gestattete, bloß ewiges Befahren auf offiziellem Geleis. Mir war das, wie gesagt, zu einengend. Ich wollte frei schweifen, hierhin, dorthin, wie's mir gefiel, vielleicht auch nur schwafeln, sei's drum, Hauptsache frei meinen Weg selbst bestimmen. Abseits ausgetretener Pfade, schon damals ...
Klaus gab sich Mühe, Spielzeug und Spiele zu finden, zu erfinden, die uns beiden gefielen, allein es wurde nix, weil ich ja das war, was man als Einzelgänger oder Eigenbrötler bezeichnet. Mit Plastik-Soldaten Krieg spielen - oder auch aus Blei, was es vereinzelt noch gab - fand ich noch dämlicher, als mit Autos zu brummen, oder Kartenspiele, wie Mau-Mau oder schwarzer Peter und zum malen oder anderen musischen Dingen wiederum hatte Klaus keinerlei Böcke - sprich keinen inneren Zugang. Gern hätte ich ihn auf das sonderbare Wesen des Eigenbrötlers aufmerksam gemacht, dieses Bild des sein eigen' Brot backenden Bäckers, da ich die Heilkraft in verschiedenen Ur-Bildern einigermaßen schon als Kind spürte. Aus den Bildern wuchs sozusagen, im Falle des Pflegens das Eigenbrotgetreide, das zu Mehl gemahlen für das dient, was man gern nach dem Backen mit Seinesgleichen genießt. Doch das interessierte ihn absolut garnicht.
Unsere Eltern waren befreundet - nur deshalb kamen wir zusammen, nur die Zusammenkünfte blieben aus dem eben genannten Grund fruchtlos.
Bis auf dieses eine mal... wo ihm plötzlich einfiel ... und jetzt fiel es mir auch wieder ein ... daß seine Mutter, Mariechen Burgold, Rumtrüffel gemacht habe, mit hochprozentigem Jamaika-Rum und wir die eigentlich aufessen könnten - da bekam auch ich ein Glitzern in die Augen und wir schritten nach kurzem Abwägen entschlossen zur Tat. Klaus holte die Dose, die uns eine Piraten-Schatztruhe dünkte, aus ihrem Versteck in der Küche und ... aaahhh, welcher Duft schon beim Öffnen, mmmh welche Vorfreude überfiel die Skrupel, die wir bis zu diesem Moment vielleicht noch hatten. Und schon siegte die Gier über die Vorfreude, die ewig unbefriedigte und wir ergriffen die Leckerchen!
Oh und wie sie auf der Zunge dahinschmolzen, die rund zwei Dutzend Dinger, der Rum aus dem Palmenland, der Kakao, die Kugelgestalt, Atom für Atom ... ins Träumen, ins Tropfen, ins Schweben, ja, das war Genuß pur - wobei Klaus doch nicht ganz wohl war, denn er ahnte natürlich, daß er dafür Dresche bezieheh würde. Egal, wir verdrängten's einfach. Dabei trennte uns nur noch eben ein Wimpernschlag von der Auswirkung.
Da, mitten im Schwelgen, wurde die Tür aufgerissen und sein Vater stand im Rahmen, ein bulliger, vierschrötiger Kleiderschrank mit einem blutigen Etwas in der Hand, genauer: einem soeben geschlachteten, ausgenommenen Tier, zusammen mit dem noch bluttriefenden Schlachtermesser.
Auf unsere ungläubig entsetzten Blicke hin beschied er sogleich, daß es sich um Pünktchen, ihre Katze handele, die es übermorgen als Muttertagsbraten gäbe. Die Zeiten wären halt schlecht ...
Und da geschah es - die arme Pünktchen! - daß mir der Mageninhalt in Sekundenschnelle hochkam, während zur selben Zeit Herrn Burgolds Blick auf die leere Trüffeldose fiel, was die Situation augenblicklich zum Eskalieren brachte. Wie von Sinnen brüllte er: "Was hab' ich dir heute Morgen erst gesagt?"
Er schnappte sich seinen angstvoll aufschreienden Sohn, drosch unter Vorhaltung des Frevels auf ihn ein, indessen ich verzweifelt die Hand vor den Mund presste, was nur kurzfristig half, um sich dann aber laut gurgelnd mitten in die Küche zu ergießen. Das heißt, die Hälfte etwa ging zu Boden, traf durch Hochspritzen die Schuhe aller Beteiligten - für die andere Hälfte der Kotze grabschte ich reflexartig nach der Dose, um wenigstens einen Teil des Inhaltes wieder zurück zu erstatten.
Das alles hatte ich völlig vergessen, weil wir beharrlich diese Schmach verschwiegen, der Klaus und ich. Ohne Absprache, schnell ins Unterbewußte verdrängt und Deckel drauf. Es waren mit der Geschichte ja keinerlei Lorbeeren zu ernten. Wir hatten uns vielleicht mit Rum, aber keineswegs mit Ruhm bekleckert und so ging dann jeder seines Weges, nachdem ich damals rausflog, ohne das Erbrochene aufgewischt und die Dose gereinigt zu haben (- was Klaus wohl als zusätzliche Strafe hat machen müssen!) Er ging in die Politik, der Vater folgte dem Braten hinterher und ich .... naja, ich stehe eben vor dem Regal und ... verstehe jetzt ein wenig die Abneigung gegen Trüffel. Der Teufel meidet bekanntlich aus ähnlichen Gründen das Weihwasser. Und wie immer, nehme ich wieder vorsorglich die 60 prozentige LINDOR-Extradunkel. Man weiß nie, welche Leichen noch alles im Keller rumoren ...

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