Der Klavierspieler

Geschichte zum Thema Abhängigkeit

von  Muuuzi

Jeden Tag bewegte er seine rauen Finger über die glänzende, weiß- schwarze Oberfläche und spielte wundersame Melodien der Traurigkeit.  Seine Schuhe waren schmutzig und der linke hatte sogar ein Loch an der Sohle. Doch flink bewegten sie sich über die Pedale und hörten nicht auf, ehe das Lied seinen tiefsten Höhepunkt längst erreichte und zum toten Ende gelangte.

Wie ein Nashorn, das wundersam die ganze Ernte zertrümmern könnte, wenn es nur auf die Felder gelassen würde, spielte er weiter. Irgendwann stand ein Teller auf einem kleinen Tisch daneben. Er hatte niemanden kommen hören, doch das wunderte ihn nicht mehr. Er hatte eigentlich keinen Hunger. Er hatte zu viel vergessen. Schon über eine Woche trug er denselben grünlich schimmernden Anzug. Wenn er seinen Platz vor dem braunen Kasten eingenommen hat, vergaß er die Welt und die Läuse, die darauf wohnten.
Er vergaß die Noten, die Blätter und den Instinkt.
Einzig allein sein  selbsterbautes Zwangsgefängnis fesselte ihn und umhüllte seine Haut, ehe es ihn entführte und zu einem süchtigen Tanz aufforderte, der täglich stundenlang dauerte. Er schlug auf die Tasten wie Napoleon gegen sein wieherndes Pferd, das immerzu zum Weiterlaufen angetrieben wurde. Er hämmerte gegen die lautlosen Klänge, wie gegen eine eingefrorene Wand, die gerettet werden müsste, da sie sonst von der Nutzlosigkeit verschlungen werden würde und niemals mehr Schutz bieten könnte. Er sah nichts, und doch sah er die Welt der Verrückten. Er spürte nichts, und doch war ihm längst nur noch kalt.

Er schlief, wenn er eingeschlafen war, jedoch war er niemals müde. Die kleinen Gliedmaßen in seinem Körper hörten längst auf, ihn zu steuern und auf Triebe hinzuweisen. Alles war verloren in einem stocktiefen Brunnen, der vergessen hat, Wasser zu pumpen. Seine Synapsen murrten und raunzten unentwegt, während seine Finger liefen. Nichts war in seinen Gedanken, außer die sich ab bewegenden bunten Zähne, die er drückte, um in Lieder zu versinken. Alles war ein hohler Brei, der aus nichts bestand, außer seinen Tönen.

Eines Tages jedoch stand er auf und sah aus dem Fenster. Er atmete tief und das unangebissene Käsebrot lag immer noch am selben Tisch. Er sah lange hinaus und musterte die Kühe, die, wenn auch friedlich, doch nur einschläfernd immerzu nur grasten. „Ich bin keine Kuh!“

Er wusste nicht, wie laut er diesen Satz in den Raum geschrien hatte, denn er hatte bereits lange vergessen, die menschengewöhnliche Sprache zu benutzen. Sie gefiel ihm nicht und er hasste die dazugehörige Lautstärke. Seine Frau kam durch die hohe Holztür und starrte ihn mit verwirrten Falten an.

„Ich möchte gerne mein Piano verschenken!“, sagte er in das Grau des Nebels hinein, ohne sie zu beachten. „Ich muss wieder leben!“
Seit der Krieg vergangen ist, hatte er nur diesen eckigen Schrank mit den klingenden Zähnen als Freund. Er wollte seitdem keine anderen Freunde mehr, die reden konnten, anstatt zu singen. Er hasste Menschen, die nicht stumm sein konnten, wenn er es wollte. Überall sah er das Alter, die Grauenhaftigkeit und den Tod.

Doch nun verschenkte er diesen wundersamen, alten Kasten, der zufriedener und geduldiger war, als alle Psychologen zusammen. Zurück blieb bloß seine Gewissheit, dass er loslassen musste und Zeit für sein restliches Leben haben würde.

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Kommentare zu diesem Text

Laudalaudabimini (59)
(05.11.13)
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 Muuuzi meinte dazu am 05.11.13:
Die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn liegt nah beisammen. Die Grenze zwischen Berufung und Sucht auch?

Ja, das ist mir schon klar, danke trotzdem. Ich möchte hier nur nicht die herkömmlichen Wörter benutzen.

lg

 franky (05.11.13)
Hi liebe Steffi,

Hier meldet sich ein ehemaliger Klavierschläger, der deine Geschichte zwischen Genie und Wahnsinn außerordentlich gut findet. Ich Drücke dir die Daumen, dass zu dir auch mal so ein Klavierschläger in dein Haus kommt;-)

Viele liebe Grüße fliegen über die Himmelspost zu dir nach Neuseeland

Von Franky
KoKa (45)
(05.11.13)
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 EkkehartMittelberg (11.11.13)
Man fragt sich, wie es weiter geht. Er wird loslassen, und wenn er gesund wird, wird er zu dem Klavier zurückkehren und zärtlich auf ihm spielen.
Liebe Grüße
Ekki
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