Heimzeit (5)

Geschichte zum Thema Kinder/ Kindheit

von  Ganna

Als wir älter wurden, schauten wir uns die Filme auch nicht mehr durch die Vorführluken an, wir gingen abends nach der Nachtruhe nach Falkenberg ins Kino, manchmal auch auf den Rummel.
Während wir vordem abends Verstecken gespielt hatten oder Fußball, standen wir nun bei den Großen und schlauchten Zigaretten, um sie dann in einer heimlichen Ecke gemeinsam zu rauchen.

Von unseren Eltern befanden sich die meisten im so genannten kapitalistischen Ausland. Die Heimkinder trugen also in den meisten Fällen die begehrten Westklamotten, erhielten bei jeder Gelegenheit Pakete mit Westsüßigkeiten oder besaßen richtige, wirkliche, echte Schallplatten mit Musik von den Beatles und den Stones. Als wenn das nicht genug gewesen wäre, fuhren die Kinder in den Ferien ganz selbstverständlich nach Paris, Stockholm oder Nikosia. Die meisten von uns hatten in jungen Jahren das, wovon die Erwachsenen, die sie lehren und auf sie aufpassen mussten, vergebens träumten.

So ist es nicht verwunderlich, dass wir von den Dorfleuten beneidet wurden und sicher auch von so manch einem unserer Erzieher. Das brachte uns mitunter Probleme ein. Nicht jeder Lehrer in der Schule konnte sich immer beherrschen und bevorzugte manchmal ein Dorfkind. Wir waren sehr hellhörig, was dies betraf und hielten unerschütterlich zusammen. Besonders über einen Lehrer mussten wir uns ärgern, er benachteiligte uns offensichtlich.
Ich schrieb ein kleines Gedicht über diesen Lehrer, einen völlig harmlosen Vierzeiler, über den man heute nur lachen würde. Doch damals waren die Zeiten noch anders, die Lehrer erwarteten Respekt von den Schülern. Eine Freundin las diesen Zettel, gab ihn einer anderen und schließlich landete dieses kleine Papier auf dem Lehrertisch, dort wie zur Betonung von einem Jungen mit einer Reißzwecke befestigt.

Der Lehrer betrat den Klassenraum, erblickte den Zettel, las die Zeilen, wurde blass, nahm den Zettel und verließ den Raum. Wir waren ziemlich still und erwartungsvoll. Er kehrte mit dem Schuldirektor und noch zwei weiteren Lehrern zurück. Sie wollten nur eines, wissen, wer diesen Zettel geschrieben hatte. Ich bin vorher schon instruiert worden, auf keinen Fall etwas zu sagen und so sagte ich nichts.

Niemand der Erwachsenen kam auf die Idee zu fragen, weshalb wir der Meinung waren, ungerecht behandelt zu werden. Es ging nicht um das, was dem Vierzeiler voraus ging, sondern allein um unsere Frechheit, unseren Unwillen zu bekunden.

Wir schwiegen. Die Dorfkinder durften nach Hause gehen und wir schwiegen weiter. Sie drohten mit entsetzlichen Strafen, doch niemand sagte ein Wort. Sie sammelten unsere Hefte ein, um die Schriften abzugleichen, doch kamen sie zu keinem Ergebnis. Der Tag verging, wir durften den Raum nicht verlassen, nichts essen, nichts trinken. Niemand sagte etwas.
Abends dann mussten sie uns mit reichlichen Drohungen, - wir dürften in den Ferien nicht zu unseren Eltern fahren war eine sehr beliebte Drohung, auch, unsere Eltern müssten wegen uns ihre Arbeit im Ausland abbrechen - versehen nach Hause entlassen.
Ich war sehr beeindruckt, die ganze Gruppe hinter mich zu haben. Nun wollte auch ich meinen Teil beitragen, zur Gruppe stehen und dieser weitere Strafen ersparen und ging also zu einem Lehrer, um ihm zu sagen, ich hätte es geschrieben.

Aber das glaubten sie mir nicht. Am nächsten Tag wurden wir alle der Reihe nach einzeln verhört. Es blieb dabei, sie glaubten mir nicht und irgendwann verlief alles im Sande.

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Fast alle Kinder aus dem Heim besaßen die begehrten Jeans, die es im Osten nicht zu kaufen gab. Es war daher verboten, sie in der Schule anzuziehen. Auch hassten es die Erwachsenen, wenn unsere Jungen karierte Hemden anzogen. Heute weiß ich nicht mehr, was der Grund dafür gewesen sein könnte. Es scheint mir so abwegig, dass mir einfach keiner dazu einfällt. Doch diese Tatsache musste die Jungs immer mal wieder dazu provozieren, sich abzusprechen und alle mit Jeans und karierten Hemden in der Schule zu erscheinen. Damit die Erzieher das nicht verhindern konnten, stopften sie ihre Sachen in die Schulmappen und zogen sich auf dem Schulweg um. Die Lehrer waren dann sehr erbost und es gab Aussprachen, deren Sinn ich nicht wirklich verstand.

Mit 13 begann ich, stundenlange Streifzüge durch den Wald zu unternehmen, alleine. Kein anderes Kind hatte Interesse, mich zu begleiten, der Wald an sich schien ihnen zu langweilig. Mich beeindruckten die riesengroßen Buchen, die so still und würdevoll dort standen, der weiche moosbedeckte Boden, in den meine Füße einsanken beim Gehen und eine Stille, die durch die Anwesenheit der Bäume zu etwas Besonderem wurde.
Zur selben Zeit entdeckte ich die Kiesgrube als einen guten Platz, um gefahrlos Feuer zu machen. Sie lag etwas abseits vom Dorf, man konnte sie nicht einsehen, so dass die Flammen nicht bemerkt werden konnten und gleich hinter ihr lag der Wald, aus dem man sich mit Holz versorgen konnte.

Zu meinem ersten Feuer konnte ich meine Freundin Siegrid überreden, indem ich ihr vorschwärmte, wie toll es wäre, in der Glut gebackene Kartoffeln zu essen.  Allerdings hatte ich keine Ahnung, wie viel Holz man für eine ordentliche Glut benötigen würde, wie lange Holz überhaupt brennt usw. Infolgedessen brannte das Feuer schneller runter als erwartet. Es war schon zu dunkel, um weiteres Holz aus dem Wald zu holen und Taschenlampen hatten wir nicht. Um das Feuer noch länger am Leben zu halten, gaben wir zuerst unsere Strümpfe, und dann nach und nach alle unsere Sachen, die wir unter Hose und Pullover trugen ins Feuer. Dies passierte mir aber nur das erste Mal.

Und dann geschah am 15. Oktober 1966 etwas Furchtbare. Einer von den Großen wurde an einem Fensterkreuz erhängt aufgefunden. Noch einen Tag vorher sah ich ihn lachend über den Hof gehen. Er war ganz in weiß gekleidet und hielt ein Paket von seinen Eltern in den Händen. Es war sein 18. Geburtstag. Hinterher schien mir, er feierte diesen Tag wie einen Abschied.
Wir standen in der warmen Herbstsonne auf dem Hof und redeten miteinander. Niemand dachte daran, uns in die Schule zu schicken. Wir rückten alle noch ein Stück weiter zusammen, als könnte uns dies vor den Unwägbarkeiten des Lebens schützen.
Jeder suchte nach einer Erklärung, nach einem Sinn oder einer Ursache. Aber niemand fand eine Rechtfertigung für seinen Tod. Ein Abschiedsbrief wurde nicht gefunden. Streit hatte es nicht gegeben. Kein Ereignis, das auf solch eine Tat hindeuten könnte. Es war der freundliche, unproblematische Jugendliche gewesen.
Seine Eltern kamen und ich stellte mir vor, wie schrecklich es für sie sein musste. Dieser Tag hat sich mir tief ins Gedächtnis eingegraben, dass ich heute noch am 15. Oktober an diesen Jungen denke.

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Zwischen den Heimkindern und den Dorfkinder gab es so etwas wie eine unsichtbare Wand. Obwohl wir alle in eine Klasse gingen, hatten wir keinen Kontakt über die Schule hinaus und keine Freundschaften entstanden zwischen uns. Als wir nach den Sommerferien im Jahr 1966 vor Schulbeginn auf dem Schulhof standen, kam Rita, eines der Dorfmädchen auf mich zu und fragte, ob ich mich neben sie setzen wolle. Das war ein ungewöhnliches Ansinnen. Niemand von uns saß neben einem Dorfkind und keines der Dorfkinder kam jemals ins Heim. Natürlich war ich erstaunt, sagte aber zu. So viel Interesse von dieser Seite wunderte mich, da musste es doch einen Grund geben. Es war der Beginn einer langen Freundschaft, die auch noch währte, als ich längst nicht mehr im Heim wohnte und hielt, als ich schon längst keinen Kontakt mehr zu einem der Heimkinder hatte.

Jeden Morgen zog Rita als erstes einen großen roten Apfel aus ihrer Schulmappe und legte diesen vor mich hin, ein ganzes Schuljahr lang. Später, als die Äpfel der langen winterlichen Lagerung wegen etwas müde waren, entschuldigte sie sich dafür. Wir Heimkinder wurden gut versorgt, soweit es die öffentliche Versorgungslage zuließ. Jedoch gab es selten Obst bei uns, was ich sehr vermisste.
Diese vielen roten Äpfel stehen wie ein Symbol in meinem Leben. Ich bin dem Mädchen Rita bis heute dankbar und immer wieder, wenn es mir schlecht ging, erinnerte ich mich an die vielen geschenkten Äpfel.

Rita und ich verbrachten unsere Unterrichtsstunden damit zu lernen, in Spiegelschrift zu schreiben, nachdem wir verschiedene Geheimschriften ausprobiert hatten. In Zeiten, in denen wir uns nicht unterhalten konnten, schrieben wir uns Briefe über all die interessanten Themen, die in diesem Alter im Vordergrund des Interesses stehen, über Jungen, die wir gerade „doof“ oder „süß“ fanden.
Wir begannen Gedichte zu schreiben und bewunderten uns gegenseitig dafür. Doch ihre waren in der Tat viel schöner als die meinen, wie ich es später immer wieder erkennen musste.
Aber wir unternahmen auch gemeinsam Streifzüge nach der Schule, in den Wald, zur Russenkaserne und  ich nahm sie mit in die Kiesgrube und weite sie in die Kunst des Feuermachens ein.

Ritas Eltern wohnten in einem eigenen Haus, das von einem großen Garten umgeben war. Sie hatten nach dem Krieg zwei Waisenkinder aufgenommen und anschließend mehrere eigene Kinder bekommen. Diese schliefen alle in Doppelstockbetten in einem sehr kleinen Raum. Es gab noch eine Küche, ein Wohnzimmer und das Zimmer der Eltern. In der Veranda reparierte ihr Vater Radios für die Leute im Dorf.

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Später als ich schon längst wieder in Berlin lebte, besuchte ich sie in den Ferien. Im hinteren Teil des Gartens stand eine kleine Laube. In dieser durften wir wohnen. So waren wir unabhängig und völlig ohne Aufsicht.
Diese Laube war sehr klein. Es fanden gerade zwei Betten darin Platz, zwischen die uns ihr Vater ein großes Radio stellte. Diese Radios waren aus Holz und wenn wir sie zu voller Lautstärke aufdrehten, vibrierte nicht nur das Holz des Radios, sondern die auch die Wände der Hütte.

An der hinteren Wand stand ein kleiner Ofen, den wir im Winter bis zum Rand mit Holz füllten, damit wir es schön warm hatten, wenn wir von unseren Ausflügen heimkamen. Ich war 14, als ich das erste Mal eine richtige Kneipe von innen sah, gefüllt mit Bäuerleins, die sich nach der Arbeit, noch in Arbeitsklamotten, dort auf ein Bier – meistens waren es wohl mehrere - trafen. Sie freuten sich sehr über unsere Anwesenheit und niemand wollte es versäumen, mit uns zu tanzen und uns Schnaps auszugeben. So trugen wir erheblich zu ihrem Spaß bei, aber auch zu unserem und erkundeten die Wirkung von Alkohol.

Verbrachten wir die Abende nicht in der Kneipe, besorgten wir uns im Dorfkonsum eine Flasche „Kavalier“. Das war der wahrscheinlich billigste Wein, den ich je trank. Natürlich hätte uns die Verkäuferin diesen niemals geben dürfen, doch sie wollte wahrscheinlich allen Unannehmlichkeiten aus dem Weg gehen oder hatte sie gar Verständnis?
Danach saßen wir auf unseren Betten, schlürften das Getränk, das uns wie Kohlensäure in die Adern fuhr und hörten „Schlager der Woche“ oder andere verbotene Sender.

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