Zum Informationsgehalt antiker Sprüche

Essay zum Thema Sinn/ Sinnlosigkeit

von  loslosch

Plus dolet quam necesse est, qui ante dolet, quam necesse est (Seneca, um die Zeitenwende bis 65 n. Chr.; Epistulae morales). Mehr als nötig leidet, wer bereits leidet, bevor es nötig ist.

Seneca, ein Vielschreiber, hat mit fast innerer Logik viel Redundantes auch geschrieben, wohl nur noch übertroffen von Quintilian (ebenfalls 1. Jh. n. Chr.). Mancher leerformelhafte Satz enthält das verdächtige „allzu sehr, im Übermaß“ (lat. nimis), aussagenlogisch eine Notbremse. Ein Muster für viele: „Genuss im Übermaß schadet.“ (Seneca.) Der Informationsgehalt sinkt gegen Null; denn im Übermaß ist das den Genuss Mindernde, Umkehrende bereits angelegt. Die Frage aber, wo das Übermaß beginnt, bleibt ungeklärt. Manche antike Sentenzen vernebeln ihre Aussagenleere mit kreativer Sprache: „Seine Natur verbirgt der Böse, wenn er Gutes tut.“ (Publilius Syrus.) Eine Tautologie mit normativem Akzent. Der Hexenprozess scheint nicht fern. Partiell aussagenleere Sätze müssen nicht immer tadelnswert sein. Poesievoll geschrieben, dienen sie oft als Überleitung oder zur Einführung in ein neues Thema. Ein schönes Beispiel liefert Horaz: "Die gefasste Seele erhofft in schlechten und fürchtet in guten Tagen eine Schicksalswende." Wer mag so etwas bekritteln? Oder diesen (frei erfundenen) Satz: "Die Knospen sprießen, der Maulwurf hebt seine Hügel, der Frühling ist da." Redundanz, die nicht als störend empfunden wird. Ebenfalls nicht als störend, weil sprachliches Stilmittel, werden manche Pleonasmen empfunden, z. B. kleines Kätzchen, großer Riese. Gefährlicher als die rein tautologischen Sätze sind solche, die formal und strukturell zwar als Leerformeln daherkommen, sublim indes eine bestimmte geistige Grundhaltung verströmen, wie dieser: "Noch das elendigste Schicksal ist sicher, denn die Furcht vor einer Verschlechterung ist fern." (Ovid.) Die Armut darf sich von ihrer allerbesten Seite zeigen. Strukturell ganz ähnlich: "Jedes Übel hat auch sein Gutes." (Plinius der Ältere.) Versteckt normativ auch: "Am besten ist es, zu ertragen, was man nicht verbessern kann." (Seneca.)

In satirischem Gewand können Quasi-Tautologien durchaus ansprechend sein: "Wenn du glaubst, du bist zu nichts mehr nutze, kannst du immer noch als schlechtes Beispiel dienen." (Moderne Floskel; Quelle unbekannt.) Als Kalauer unangreifbar. Ebenso wie dieser gängige Spruch: "Erst hatte er kein Glück, dann kam auch noch Pech dazu." (Bekannte Fußballerweisheit.) Wunderbar ironisch und nur zur Hälfte aussagenleer. Würde Seneca gekalauert haben, würde dieser (leider ernst gemeinte) Spruch durchgehen: "Wer vieles versucht, hat manchmal Erfolg." Unfreiwillig komisch wirkt auf uns Heutige auch der Ausspruch des Tacitus: "Die Natur wollte, dass jedem sein Kind und seine nahen Verwandten am teuersten (!) sind." Nicht minder eine Plattitüde dieser Spruch: "Das Glück beschenkt viele, keinen genug." (Publilius Syrus.) Noch treffender jener von Quintilian: "Ein Fehler ist es überall, was im Übermaß ist."

Nach Durchsicht einer fünfstelligen Zahl lateinischer Sentenzen lässt sich ein vorläufiges Fazit ziehen: etwa 5 bis 10% der Sentenzen sind aussagenleer, z. T. mit versteckt normativem Gehalt (gängiges Muster: Armut kann sich auch schön anfühlen.) Die Quote aussagenleerer griechischer Zitate dürfte deutlich niedriger liegen. Als Vermutung: Die älteren Sentenzen waren rarer und wurden sorgfältiger ausgewählt.

Lassen wir zum Schluss Albert Einstein zu Wort kommen. Er war kein ausgewiesener Wissenschaftstheoretiker, vermochte aber jeder Fachdebatte seinen Stempel aufzudrücken: „Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit. Mathematische Theorien über die Wirklichkeit sind immer ungesichert - wenn sie gesichert sind, handelt es sich nicht um die Wirklichkeit." (Festvortrag, gehalten an der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 27. Januar 1921.) Alles Reale ist ungewiss, aber interessant. Alle Leerformeln sind wahr, aber uninteressant. (Oder sollten es sein, mit Ausnahme ästhetisch wirkender Transformationen!)

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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (30.11.13)
Es ist gleichgültig was man sagt, Hauptsache man sagt etwas. Und so mancher hoch geschätzte Künstler vergangener Tage, würde im Ansehen seiner VerehrerInnen doch sehr leiden, würde er heute leben. Denn gibt es irgendwelche Zweifel daran, dass ein Goethe heute nicht in allen Talkshows sitze würde?

Da erinnere ich mich doch gern an ein altes MAD-Heft, in dem (sinngemäß) folgender Ratschlag stand: "Stellen sie an den Anfang ihrer Sätze immer 'Goethe hat gesagt...'. Niemand wird ihnen widersprechen, denn keine Sau kann wissen, was der so alles von sich gegeben hat. Oder wenn sie sich doch zu unsicher sind, benutzen sie die Formel: 'Goethe hätte gesagt.... So sind sie immer auf der sichern Seite."

In diesem Sinne:
Goethe hätte gesagt: Shalom, Moin Moin oder Grüß Gott... oder so ähnlich...
(Kommentar korrigiert am 30.11.2013)

 loslosch meinte dazu am 30.11.13:
indiskret gefragt: wie kamst du an das alte MAD-heft?

"Es ist gleichgültig was man sagt, Hauptsache man sagt etwas." daran dachte ich heute früh beim gespräch von journalisten im wdr5. thema: hubschrauber-absturz. fast inhaltsleer. aber das merkt ja keiner!

 TrekanBelluvitsh antwortete darauf am 30.11.13:
Früher - vor 30 Jahren oder so - waren mein Bruder und ich echte MAD-Fans. Wir haben fast alles gelesen bzw. besessen (keine Ahnung, ob er die noch hat). Und wie man sieht: Es hat sich gelohnt, denn wenigstes ein wenig ist hängengeblieben.

 Bergmann (30.11.13)
Ein gewisses Pendant bildet die Äußerung eines SPD-Delegierten zum Koalitionsvertrag:

Weniger ist immerhin noch mehr als nichts.

:-)

 loslosch schrieb daraufhin am 30.11.13:
die umkehrung: 3 x 0 ess 0 bliev 0. nach lehrer welsch.
Menschenkind (29)
(30.11.13)
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 loslosch äußerte darauf am 30.11.13:
hä?

 Möllerkies (30.11.13)
Es ist amüsant zu sehen, dass die Einwände, die du erhebst, tendenziell auch auf deine Ausführungen zutreffen. Denn bei inflationärem Gebrauch der Etiketten „tautologisch“ und „inhaltsleer“ wird auch die Feststellung, diese oder jene Sentenz sei tautologisch oder inhaltsleer, immer weniger aussagekräftig. Im Extremfall: Wenn alle Sentenzen tautologisch sind, ist auch die Feststellung, eine bestimmte Sentenz sei tautologisch, tautologisch.

 loslosch ergänzte dazu am 30.11.13:
auf welche meiner ausführungen?

ich sprach von 5 bis 10% aussagenleere antike sprüche. in meinem text habe ich nur diese vorgestellt, sogar sprachliche tautologien fallweise gelobt. der extremfall existiert nicht, sorry.

 Möllerkies meinte dazu am 30.11.13:
Naja, nehmen wir den Satz "Genuss im Übermaß schadet". Der Satz besagt, dass Genuss, der ein bestimmtes Maß überschreitet, schädlich ist. Und wenn das auch keine ganz neue Einsicht ist (wie auch, wenn Seneca sie schon hatte), so doch eine, die bisweilen  Schlagzeilen macht.
(Antwort korrigiert am 30.11.2013)

 loslosch meinte dazu am 30.11.13:
dicht dran, aber nicht gelöst!

"denn im Übermaß ist das den Genuss Mindernde, Umkehrende bereits angelegt."

wo beginnt das übermaß? der gewöhnliche verbraucher mag denken, wenn nach dem essen seine bauchdecke spannt. der maxi-verbraucher meint: wenn er mittags nach mailand zur messe fährt und abends nach london zum dinner, nachts nach hamburg zurück. das übermaß ist für jeden ein anderes. eine aussage also, die JEDER anders liest. und alle sinds zufrieden!

 Möllerkies meinte dazu am 01.12.13:
Der Satz besagt zumindest, dass es ein Übermaß des Genusses gibt, dass Genuss schädlich sein kann. Dass er Fragen offenlässt, ist für einen Satz mit vier Wörtern nicht ungewöhnlich, bedeutet aber nicht, dass er inhaltsleer ist. Und dass er konsensfähig ist, bedeutet nicht, dass er tautologisch ist.

 loslosch meinte dazu am 01.12.13:
tautologisch im strengen wortsinn wohl nicht. aber aus der küche des delphischen orakels. die aussage ist prinzipiell nicht falsifizierbar. muster: genuss im übermaß schadet. der informationsgehalt ist faktisch null. (aus dem themenfeld wissenschaftstheorie.)

 EkkehartMittelberg (01.12.13)
"In satirischem Gewand können Quasi-Tautologien durchaus ansprechend sein."
Es kommt also auf die Redesituation an, ob du eine Aussage als tautologisch abtust oder ob sie dir als sinnvoll erscheint. Du siehst zum Beispiel auf einem Kalenderblatt :"Genuss im Übermaß schadet", winkst innerlich ab und denkst 'tautologisch'."
Dagegen: Du bist mit dem Auto unterwegs und bestellst in einer Kneipe mit schlechtem Gewissen dein drittes Glas Bier. Jemand ruft dir zu: "Genuss im Übermaß schadet." Die Aussage ist jetz eine Warnung und nicht tautologisch.
t.t.
Ekki

 loslosch meinte dazu am 01.12.13:
genau!

ich hatte bei den leerformeln nur die sublime verführung im blick: "armut kann sich schön anfühlen." natürlich kann die sublime wirkung sogar, wenn auch seltener, eine ehrliche warnung sein.

gesprochene sprache ist situativ gebunden. geschriebenes im kontext auch. ists literatur oder wiss. abhandlung? t.t. lo
Graeculus (69)
(02.12.13)
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 loslosch meinte dazu am 02.12.13:
weil sie älter sind und weniger inflationär. die römer waren schon wegen des duodezimalsystems arg im nachteil. ob das auf die philosophie abfärbt? (wir sollten mal filix befragen. machst du´s?)

mathematik ist "eine einzige Tautologie". ja! aber ihre strukturforschung erlaubt einen vertieften zugang zur natur und ihrem regelwerk. mich hat das mathem. bildungsgesetz der permutation fasziniert. dann hab ich es verreimt:  fakultät!
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