Vom Vogel, der ein Mensch sein wollte - Teil 12 (Schluss)

Erzählung zum Thema Mensch (-sein, -heit)

von  NormanM.

Er konnte nicht fassen, was er da gerade las. Hieß das tatsächlich, dass er sie nun nie wieder sehen konnte? Die Frau, die er schon so lange beobachtet hatte, die Frau, die er endlich ansprechen konnte und endlich kennen gelernt hatte? Diese Frau verschwand nun aus seinem Leben? Eine Träne tropfte aufs Papier. Zum zweiten Mal in seinem Dasein als Mensch weinte er. Eine weitere Träne berührte seine Lippe, dabei bemerkte er, dass Tränen salzig schmecken.

Plötzlich hatte alles für ihn keinen Sinn mehr. Es hatte so schön angefangen. Er hatte seine Traumfrau kennen gelernt, hatte gelacht, aber nun? Irgendwie wusste er nicht mehr, was er nun noch als Mensch anstellen sollte und warum er überhaupt mal ein Mensch sein wollte.
Er war überfallen worden, später war er von Kerstins Exfreund geschlagen worden. Dann waren da noch die unfreundlichen Leute im Supermarkt. Ihm war kotzübel. Und nun konnte er seine Traumfrau nicht mehr wieder sehen.
Ein Vogel flog am Fenster vorbei. Gestern war er noch einer von ihnen. Und nun war er einsam.
„Bist du sicher?“, hatte ihn die Eiche gefragt, nachdem er seinen Wunsch geäußert hatte, ein Mensch zu sein. Er erinnerte sich ebenfalls an die Worte von Alf, dem Schäferhund: „Du wolltest aber immer ein Mensch sein, das kann nichts Gutes bedeuten.“ Und dann fielen ihm noch Tims Worte ein: „Dass du ein Mensch sein wolltest, das ist das größte Verbrechen eines Tieres.“ Ja, Alf und Tim hatten ihn die ganze Zeit vor den Menschen gewarnt. Als Vogel konnte er fliegen, da war eine Entfernung nicht zu weit. Aber für einen Mensch war eine Entfernung wohl ein Problem. Was war eigentlich an seinem Leben als Vogel so schlecht gewesen? Ihm fiel nichts ein. Und doch hatte er seine Familie und Freunde im Stich gelassen und das ohne Abschied. Er war einfach abgehauen. Plötzlich merkte er, dass er sie vermisste.

Er ging hinaus zu Tim und zeigte ihm Kerstins Brief.
„Oh Scheiße“, meinte dieser. „Das tut mir leid. Was willst du nun machen?“
„Ich habe nachgedacht. Ich glaube, ich möchte wieder zurück in mein altes Leben, ich möchte wieder ein Vogel sein.“
„Eine kluge Entscheidung“, bemerkte Alf.
„Meinst du, das ist möglich?“, fragte Tim.
„Du musst zur Eiche zurück“, sagte Alf.
„Ich hoffe es, ich hoffe, die Eiche verwandelt mich zurück. Werdet ihr mich begleiten?“
„Ja, selbstverständlich. Ein wenig schade finde ich es schon, wenn du wieder gehst, aber ich glaube auch, dass es besser für dich ist“, fand Tim.
„Ich würde dir dann auch das Haus überlassen, dann hast du wieder eine Unterkunft und genug Geld.“
„Nein, das kann ich unmöglich annehmen und schon gar nicht, ohne, dass ich irgendetwas dafür mache.“
„Du hast viel getan. Du hast mir geholfen. Und du hast mir doch erzählt, dass du schreibst. Schreiben ist auch Arbeit.“
„Vielleicht hast du recht“, dachte Tim nach.
„Habe ich. Und das Haus und das Geld sind ja jetzt sowieso da. Irgendjemand muss es ja nutzen und ich finde, dass du derjenige sein solltest. Und falls dir nichts zum Schreiben einfällt, schreib doch einfach über mich. Kannst ja schreiben, was für ein verrückter Typ ich war.“
Tim lachte: „Ok, ich werde dort einziehen. Dann kann ich auch besser für den Hund sorgen, ich danke dir.“

Gemeinsam begaben sich die drei zur Eiche.
„Was führt dich zu mir?“, hörte Mark die Eiche flüstern.
„Ich möchte wieder zurück verwandelt werden.“
„So? Aber du warst doch sicher, dass du ein Mensch sein wolltest?“
„Ja, war ich, aber ich habe mich getäuscht. Ich habe nun dazu gelernt.“
„Eigentlich darf ich dich nicht zurück verwandeln. Aber da du viel Herz gezeigt hast, darf ich sicherlich eine Aussage machen. Dein Wunsch soll sich erfüllen.“

Noch einmal umarmte Mark Tim zum Abschied.
„Danke für alles. Ich werde immer wieder mal vorbei fliegen und nach euch sehen.“
Auch von Alf verabschiedete er sich. „Danke für dein Vertrauen und deine Hilfe.“
Er setzte sich auf den Boden, nach einigen Sekunden erschien wieder der Blitz, wie er gestern erschienen war. Einige Sekunden später konnte er wieder fliegen, es kam ihm wie eine Ewigkeit vor.
Tim winkte und Alf bellte erfreut, als Mark davon flog, zurück zu seiner Familie und seinen Freunden.

Wie er es versprochen hatte, flog er bei Tim und Alf vorbei, um zu sehen, wie es ihnen ging. Tim war in das Haus gezogen und nach einigen Tagen nicht mehr wieder zu erkennen: Der struppige Bart war ab, er war nun glatt rasiert, seine langen verfilzten und fettigen Haare waren nun kurz und gepflegt und er sah richtig gut aus. Von dem Penner, der er einmal war, war nichts mehr übrig geblieben.
Eines Tages hielt er Mark, als er wieder mal vorbei geflogen kam, lächelnd ein Buch hin.
„Sein erster Roman wurde veröffentlicht“, erklärte Alf stolz. Und auf dem Cover des Buches stand: Vom Vogel, der ein Mensch sein wollte

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text

chichi† (80)
(01.12.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 NormanM. meinte dazu am 07.12.13:
Vielleicht für eine kurze Zeit, aber Mark hat erkannt, wo er hingehört, seine Familie hat ihn zurück und Tim hat auch wieder zurück ins Leben gefunden.

 Omnahmashivaya (01.12.13)
Das Ende kommt etwas knapp bzw. schnell und kurz und allgemein hätte ich die Geschichte eher mehr in die Länge gezogen - nicht von der Textlänge, sondern das zeitliche Geschehen. Der Vogel war nur sehr kurz ein Mensch, wobei es eigentlich reichen sollte, zu merken, dass man besser ein Vogel bleibt. Mir hat die Geschichte aber sehr gut gefallen und auch, dass er das Haus abgegeben hat und der Obdachlose nun ein Autor ist etc. War insgesamt sehr toll zu lesen.
Zweifler (62)
(01.12.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram