Ein aufwühlendes Buch - Jonathan Littell: Les bienveillantes (Die Wohlgesinnten)

Rezension zum Thema Rache

von  EkkehartMittelberg

Jonathan Littell: Les bienveillantes (Die Wohlgesinnten) erschien bei Éditions Gallimard in Paris ab August 2006 und in deutscher Sprache seit dem 23. Februar 2008 im Berlin Verlag

Nur wenige Bücher haben so viele Besprechungen herausgefordert wie „Die Wohlgesinnten“ von Jonathan Littell ab Herbst 2006. Was allein im deutschsprachigen Raum jede namhafte Zeitung und Zeitschrift beschäftigt hat – auf der Website der FAZ gab es dazu sogar ein Diskussionsforum - sollte auch bei KeinVerlag wahrgenommen werden.
Ich habe nicht den Ehrgeiz, den zahlreichen vorliegenden Besprechungen neue Aspekte hinzuzufügen, möchte aber nach der Vorstellung des Autors und der Inhaltsangabe von „Die Wohlgesinnten“ Schlaglichter aus einigen positiven und negativen Besprechungen zitieren, um den Einstieg in dieses Werk zu erleichtern.

Der Autor
Jonathan Littell wurde 1967 in New York geboren. Er stammt aus einer jüdischen Familie osteuropäischer Herkunft. Seine Großeltern von Vaters und Mutters Seite wanderten zwischen 1880 und 1886 von Russland in die USA aus, als nach der Ermordung Zar Alexanders II. eine weitere Judenverfolgung einsetzte. Sein Vater Robert Littell wurde als Reporter und Verfasser zahlreicher weltweit gelesener Spionageromane bekannt. Jonathan Littell wuchs zweisprachig in Paris auf, wo er 1985 das Abitur machte, und studierte dann in Yale. Nach vorhergehender Ablehnung seiner Einbürgerung durch die französischen Behörden ist er nach seinem Bucherfolg (Les Bienveillantes) seit März 2007 auch französischer Staatsbürger.
Zwischen 1993 und 2001 arbeitete er für die humanitäre Organisation “Aktion gegen den Hunger” (ACF) in Bosnien und Afghanistan, im Kongo und in Tschetschenien. Für seinen Roman “Die Wohlgesinnten” erhielt er 2006 den Grand Prix du Roman der Académie Française und den Prix Goncourt.
Mit 39 Jahren veröffentlichte er in französischer Sprache seinen zweiten Roman Die Wohlgesinnten (Les Bienveillantes), den er nach mehreren Jahren Recherchearbeit in nur 120 Tagen niederschrieb. Littell lebt heute mit seiner Lebensgefährtin und seinen zwei Kindern in Barcelona.

Ich habe noch niemals ein Buch gelesen, das mich so wie dieses gleichermaßen fasziniert und befremdet, aufgewühlt und gefesselt hat.
Bei Wikipedia gibt es eine gute ausführliche Inhaltsangabe des Romans, der auf dem Hintergrund realer Ereignisse und Personen des Holocausts eine fiktive Biografie erzählt.
Ich begnüge mich hier mit einer Kurzfassung, halte es aber für sinnvoll, die umfassende Inhaltsangabe bei Wikipedia ergänzend zu lesen.
Der Ich-Erzähler, Dr. Maximilian Aue, ehemaliger SS-Offizier, hat sich nach dem 2. Weltkrieg eine neue Identität in Frankreich als Direktor in der Miederindustrie geschaffen. Er gibt vor, sein Buch zur Selbstvergewisserung zu schreiben. Schnell wird deutlich, dass in dem Werk die Verbrechen des Nationalsozialismus relativiert werden. Aue bereut seine Untaten nicht und behauptet, seine Leser hätten sich, konfrontiert mit seinen Kriegserlebnissen, nicht anders verhalten als er.
Bei seinem Einsatz an der Ostfront beteiligt sich Aue an der Hinrichtung von Juden. Alle, die bei den Liquidationen direkt oder indirekt agierten, sind nach seiner Meinung gleich verantwortlich.
Nach Aues Darstellung reagieren die mit den Morden beauftragten SS-Leute unterschiedlich: mit psychosomatischen Erkrankungen wie er selbst, mit Selbstmorden oder mit Sadismus, den er sich aus Überforderung erklärt. Er erwähnt aber auch, dass sich Soldaten der Wehrmacht aus Mordlust freiwillig an den Massakern der SS beteiligten.
Aue argumentiert aus taktischen Gründen (um hinter der Front weniger Feinde zu haben) für die Nichtverfolgung von Bergjuden im Kaukasus gegen die Meinung eines Vorgesetzten und wird von diesem aus Rache nach Stalingrad versetzt.
Dort erlebt er, wie ein sterbender russischer Soldat laut nach seiner Mutter ruft. Das weckt den schon in der Kindheit entstandenen Hass auf seine eigene Mutter, die seinen vermissten Vater für tot erklären ließ, um eine neue Ehe eingehen zu können.
Die Schilderung des gnadenlosen Vernichtungskrieges in Stalingrad gipfelt in der Darstellung von Kannibalismus bei russischen und deutschen Soldaten.
Der verwundete Aue verfällt in Halluzinationen, in denen ihm seine Schwester erscheint, mit der er in seiner Kindheit ein inzestuöses Verhältnis hatte und die für den homosexuellen SS-Offizier die einzig begehrenswerte Frau bleibt. Auf Initiative seines einflussreichen Freundes Thomas Hauser wird Aue zu einem Genesungsurlaub aus Stalingrad nach Berlin ausgeflogen. Von dort aus besucht er, immer noch voller Hass, seine Mutter und seinen Stiefvater in Antibes. Als diese bestialisch ermordet werden, versucht er mit Gedächtnislücken alle Indizien zu verdrängen, die auf ihn als Täter weisen.
Zurück in Deutschland lernt er Hauptverantwortliche für den Genozid an den Juden kennen, unter anderem Himmler, Eichmann und Höß, und überprüft verschiedene Konzentrationslager auf den ökonomischen Einsatz von Juden als Arbeitskräften.
Die vorrückende russische Armee steht schon dicht vor der deutschen Grenze, als sich Aue auf dem Gut seines Schwagers, des Junkers von Üxküll, in Pommern aufhält. Dort findet er Zeit, sich psychopathisch in die Liebesbeziehung zu seiner in der Schweiz wohnenden Schwester zu versenken. Er entdeckt in dem einsamen Haus Unterlagen, aus denen hervorgeht, dass sein verehrter Vater, ein führendes Mitglied des Freikorps, grausam Zivilisten umgebracht hat.
Seit dem Mord an seiner Mutter und an seinem Stiefvater wird er von den Kriminalpolizisten Clemens und Weser auch bis zu der entlegenen Villa verfolgt, kann sich jedoch erfolgreich vor ihnen verstecken.
Mit seinem Freund Thomas, der in kritischen Momenten als sein Wohltäter und Retter erscheint, versucht er sich durch die Linien der Russen nach Berlin durchzuschlagen.
Sie erleben grauenhafte Taten, von russischen Soldaten an deutschen Zivilisten und von deutschen Kindersoldaten, die sie als Deserteure umbringen wollen. Dabei wird Aue wieder einmal von Thomas gerettet.
Jetzt bricht auch bei Aue latent vorhandene Mordlust durch. Einen zu schön Klavier spielenden Junker und einen früheren Partner seiner homosexuellen Ausschweifungen bringt er aus nichtigen Gründen um.
Die Handlung geht ins Surreale über, als Aue bei einer Ordensverleihung Adolf Hitler in die Nase beißt. Das ihn verfolgende Polizeifahrzeug wird von einer russischen Granate getroffen. Als ihn schließlich die Kriminalbeamten Clemens und Weser wegen der Ermordung seiner Mutter und seines Stiefvaters in einem U-Bahn-Tunnel verhaften wollen, bleibt ihm das Glück treu. Weser kommt bei einem Schusswechsel in dem U-Bahn-Schacht um, und Clemens wird von Thomas getötet. Doch Aue ermordet seinen Freund und Retter Thomas und bringt sich in den Besitz seiner französischen Papiere. Das Buch endet mit dem Satz des Ich-Erzählers: „Die Wohlgesinnten hatten meine Spur wieder aufgenommen.“ Damit sind die Erynnien gemeint, Rachegöttinnen, die nach der griechischen Mythologie Muttermörder verfolgen, wie zum Beispiel Orest, der seine Mutter Klytemnästra auf Befehl Apollos umgebracht hatte, der aber durch das Einwirken Apollos freigesprochen wurde, sodass die Erynnien ihre Rache nicht vollenden konnten und als Eumeniden (Wohlgesinnte) erschienen.

Negative und positive Kritik aus bisherigen Besprechungen des Romans
Seit Erscheinen des Tatsachenromans „Les bienveillantes“ bei Éditions Gallimard in Paris ab August 2006 und in deutscher Sprache seit dem 23. Februar 2008 im Berlin Verlag hat sich keine einhellige Beurteilung des Buches herausgeschält, und es ist auch nicht damit zu rechnen, dass sich an den divergierenden Besprechungen etwas ändern wird.
Jedoch haben sich einige positive und einige negative Aspekte der Bewertung mehr oder weniger durchgesetzt. Dafür ein paar Beispiele:
Negative Aspekte:
Aus: Michael Mönninger: Die Banalisierung des Bösen
- Mönninger stellt die Stichworte „Ästhetisierung des Grauens“ , Kitsch und Gewaltpornografie ins Zentrum seiner Kritik : "[…] Bei Gewaltszenen, in denen Schädel bersten und Knochensplitter fliegen, verstößt Littell mit Wollust gegen das Bilderverbot der Historiografie, die noch den größten Schrecken mit Distanz beschreibt. Dabei entfaltet er eine Ästhetisierung des Grauens, die entgegen dem Lob französischer Kritiker weniger mit Stendhals Direktheit als mit einem anderen Genre zu tun hat: dem Horrorfilm. Es liegt nicht an der homosexuell-inzestuösen Veranlagung des Muttermörders Aue, die den Roman in Teilen zum skandalösen Kitsch machen. Es ist die Poetik der Grausamkeit, mit der ein hochbegabter Gegenwartsautor zum Gewaltpornografen wird. Zumal in Frankreich gilt die Fiktionalisierung der Shoah seit Claude Lanzmann als Tabu, während in Deutschland die Emotionalisierung der Geschichtswissenschaft mit Daniel Goldhagen in Verruf geriet. […]“ © DIE ZEIT, 21.09.2006 Nr. 39)

- Dem Buch wird in zweierlei Hinsicht der Vorwurf der Pornografie gemacht. Während sich einerseits die Ansicht durchsetzt, dass sich der Ich-Erzähler Dr. Maximilian Aue bei der Schilderung des inzestuösen Verhältnisses zu seiner Schwester Una in kitschigen Gewaltfantasien verliert, werden die exzessiven Gewaltdarstellungen bei der Liquidation der Juden und des Kriegsgeschehens, zum Beispiel in Stalingrad, durchaus nicht mehr einmütig als Kitsch und Pornografie bezeichnet. So schreibt zum Beispiel Jürg Altwegg in seiner Besprechung „Leute, jeder ist ein Deutscher“: „Seine [Littells] Belesenheit, das Selbstbewusstsein eines engagierten Nachgeborenen und ein geradezu reaktionäres Vertrauen in die Möglichkeiten des Erzählens diesseits aller Avantgarden retten seine kühne Erzählung vor der Banalisierung und Trivialisierung des Bösen durch die Literatur.“ ( F.A.Z., 11.09.2006, Nr. 211, S. 40)

- Nachdem Klaus Harpprecht dem Autor zunächst bescheinigt hatte, „dass sein Roman ein Geniestreich und der letzte Dreck sei“, modifiziert er später sein rasches Verdikt in zahlreichen Punkten: „Gottlob hat er, [Harpprecht] in gleichem Atem, dem Verfasser bestätigt, dass er durch die Genauigkeit seiner Recherchen und die schockierende Härte der Bilder mehr von der Realität des totalitären Staates, vom Funktionieren seiner Apparaturen (und seiner Funktionäre), vom Horror des Krieges und vom Grauen der Vernichtung vermittelt, als es die unübersehbaren Bibliotheken der Fachliteratur und das verknoopisierte Fernsehen, der ganze riesenhafte Aufwand der wissenschaftlichen und halbwissenschaftlichen Holocaust-Industrie zuwege brachten. Das bleibt sein Verdienst.[…]“ (Auf des Führers Nase gefallen- In: F.A.Z., 12.03.2008, Nr. 61)


- Zu den engagiertesten Kritikern von Littells Roman zählt Iris Radish: „Am Anfang steht ein Missverständnis“. Radish stellt fest, dass das Buch nichts zur Lösung der Frage beitrage, was unsere Großväter zu Mördern gemacht habe. Durch das virtuos inszenierte Motiv der Orestie des Aischylos, ein „literaturgeschichtliche(s) Veredelungsprogramm“ werde der „Edelnazi“ Aue „unerreichbar für die christliche Verantwortungsethik.“ „An diesem Punkt laufen alle Motive zusammen: […]»Der Zusammenhang zwischen Wille und Verbrechen«, erklärt der SS-Offizier in endlosen Tiraden, sei nur »eine christliche Vorstellung«, aber – dieser Beweisführung dient der ganze Roman – eine falsche. Ein großes fatalistisches Schulterzucken geht durch das Buch: Was geschehen ist, ist geschehen, musste geschehen. Die christliche Moral, die menschliches Geschehen bewertet, wird als rückständiges Ideengut verhöhnt. Littell stellt den Täter ins Zentrum – und erklärt ihn für unschuldig. […]“ (© DIE ZEIT, 14.02.2008 Nr. 08)

- Der Kunstverstand, den Dr. Aue Eichmann und Heydrich als Violinisten immerhin in Maßen zuspricht, die Überschreibung seiner Kapitel mit Bezeichnungen für barocke Tanzformen und insbesondere das Leitmotiv des Muttermordes aus der Orestie werden von der Kritik überwiegend als prätentiös und nicht funktional abgelehnt. „Dies gilt in Wirklichkeit auch für die Grundierung der Handlung durch die "Orestie", Muttermord und Sex mit der Zwillingsschwester inklusive, Tabubruch beim Besuch eines Folter-Museums in Nürnberg, wo der phantasiebegabte Dr. Max Aue seine geliebte Una (verehelichte Baronin Üxküll) bäuchlings auf die Guillotine befördert, um sie dort zu sodomisieren, obschon sie ihn anfleht ‚baiser ma chatte!’“ (Klaus Harpprecht: Auf des Führers Nase gefallen. - In: F.A.Z., 12.03.2008, Nr. 61)
- „Wo der "Kunstwille" so rabiat überhand nimmt wie in diesem monströsen Werk, muss der gute Geschmack notwendig auf der Strecke bleiben. Oder auf die Nase fallen: im schlimmsten Fall auf die allzu große Nase des "Führers", in die Dr. Max Aue bei Hitlers gespenstischem letztem Auftritt während der Berliner Götterdämmerung beißen zu müssen meint, einer unwiderstehlichen Eingebung folgend. Danach "die Halluzination: der Führer als Jude mit dem Gebetsschal der Rabbiner". Tusch. Auf dem Schofar geblasen.“ (Klaus Harpprecht: Auf des Führers Nase gefallen –In: F.A.Z., 12.03.2008, Nr. 61)

Positive Aspekte
- Die französische Presse reagierte begeistert auf das Werk. "Ein atemberaubender Erzählfluss im Stile der großen russischen Autoren, insbesondere eines Tolstoi und Wassili Grossman. (LE MONDE)
- "Ich war wie erschlagen von diesem unglaublichen Buch. Es ist das Ereignis unserer Jahrhunderthälfte. Ich sehe nicht, welches andere Buch in den nächsten Jahrzehnten an seine Wirkung heranreichen könnte."
(JORGE SEMPRUN)
- Im Lesesaal der Frankfurter Allgemeinen Zeitung antwortet Wilfried Wiegand in seiner Rezension “Max Aue, ein Monstrum, ein Motaigne“ auf den Pornografie-Vorwurf mit der Argumentation, dass Aues Nazi-Welt so verschmutzt sei, dass man sie mit Begriffen aus einer anderen sauberen Welt nicht fassen könne:
„Wenn man einem Freund von den schockierenden Details erzählt, kommt unweigerlich die Frage: "Muss das denn sein?" Ja, es muss. Es ist eine Illusion, zu meinen "Les Bienveillantes" wäre auch anders zu haben, sozusagen nur der Gehalt, aber ohne den Schmutz. Was aber, wenn das Schmutzige der Gehalt ist? Littell ist besessen davon, uns die Besudelung der Nazi-Welt zu schildern. Er hat der Unterhaltungsindustrie das Motiv des physischen und moralischen Schmutzes entrissen und sich mit seinem nazistisch kontaminierten frallemand eine eigene Kunstsprache erfunden, um im Roman, dem Medium der literarischen Menschenerforschung, davon zu erzählen. Das ist das Bewundernswerteste an seinem Buch überhaupt: Die Erfindung einer Sprache, zu der diese spezielle Wirklichkeit geradezu zwingend dazugehört, als würde die Sudelsprache die Sudelwelt überhaupt erst hervorbringen. Ist Littell pornografisch, kitschig, geschmacklos? Das sind alles Begriffe aus einer anderen, einer sauberen Welt, wo das Verschmutzte als Ausnahme gebrandmarkt werden soll. In Aues Welt aber ist alles verdreckt, denn diese ganze Welt der Nazis ist sowieso nur eine einzige große Schweinerei.“

- Harpprecht zollt der dokumentarischen Leistung des Buches Respekt. “Natürlich verstört Littells "Hyperrealismus" (von dem der Historiker Pierre Nora sprach) unsere empfindsamen Gemüter. Natürlich verletzt die krasse Beschreibung von erstickten Schreien, von Blut und quellendem Gedärm, von verrottendem Fleisch, zermalmten Schädeln und auslaufendem Gehirn unseren "guten Geschmack" (was immer der taugen mag). Natürlich haben diese brutalen Reportagen mit Literatur wenig oder nichts zu schaffen. Die Wirklichkeit, wie Littell sie herbeizitiert, erlaubt keine stilistische Überhöhung. Sie entzieht sich jeder dichterischen Formung. Seine Prosa mag platt sein. Aber das ist angesichts der geschilderten Tragödien kein Kriterium.“ (Auf des Führers Nase gefallen- In: F.A.Z., 12.03.2008, Nr. 61)
- Harpprecht billigt Littell zu, sich über das Führungspersonal der SS mit seinen Hierarchien, Konflikten und Intrigen besser als mancher Fachhistoriker auszukennen und erläutert dies unter anderem am Beispiel von Walter Schellenberg, dem Chef des Auslandsnachrichtendienstes. (Auf des Führers Nase gefallen, s.o.)

- Klaus Theweleit setzt sich in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 24.2.2008 unter dem Titel „Die jüdischen Zwillinge“ mit Littells Kritikern, u. a. mit Iris Radisch, auseinander : Er geht auf die Vorwürfe der Kolportage des Kitsches, der Pornografie ein und zitiert den Schluss von Radischs Invektive: "Warum sollen wir dieses Buch eines schlecht schreibenden, von sexuellen Perversionen gebeutelten, einer elitären Rassenideologie und einem antiken Schicksalsglauben ergebenen gebildeten Idioten um Himmels willen dennoch lesen?".
Theweleits Antwort:
“[…]Bloß: was hat man erwartet? Dass wir so etwas erzählt bekommen in Thomas Mannscher Distanzschreibe? Literarisch poliert? Das genau wäre ein Verbrechen gewesen. Ich habe Furchtbares erwartet und Furchtbares bekommen; und habe etwa 700 Seiten gebraucht, bis ich kapiert habe: das geht nur so; das geht nur in dieser Art Schreibe; das geht nur in diesem Pseudo-Denker-Stil, in dem Dr. Max Aue sich (angeblich) vom durchschnittlichen SS-Brutalo unterscheidet; weil: man braucht sich nur Himmlers Posener Rede vom Oktober 1943 anzuhören, dann weiß man: dies Sprachkonglomerat, das Jonathan Littell herstellt - das den Leser schmerzen soll und muss -, trifft die Sache genau: das widerliche Funktionieren der kaltherzig mordenden deutschen SS-Intelligenzija als selbsternannter Kulturelite, ihre behauptete Vorreiterschaft in der Erzeugung des Neuen Menschen, dessen nationalsozialistischer Utopieentwurf jederzeit wetteifert mit den primitivsten Cyber-Phantasien schlechtester Science-Fiction, die kalte Bürokratie, der heiße Alkoholismus, das Vulgäre, die körperauflösenden sexualisierten Gewaltphantasien; all das kommt in der nahezu unerträglichen Sprache des Buchs zum Ausdruck. […]"


Anmerkung von EkkehartMittelberg:

Dieser Überblick über Rezensionen zu dem Roman "Die Wohlgesinnten" erschien erstmals im November 2008 im Autorenweb. Er wird fortgesetzt.
Ich stelle ihn auch hier vor, weil das Interesse an dem Roman nach wie vor groß ist.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

P. Rofan (44)
(16.12.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 16.12.13:
Ich referiere die Kernthesen der wichtigsten Rezensionen des Buches und der Leser kann sich dann entschließen, ober es lesen will oder nicht.
P. Rofan (44) antwortete darauf am 16.12.13:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 16.12.13:
Wie kommst du darauf, dass ich beleidigt bin?

 loslosch (16.12.13)
das buch ist ein epos, i. s. von episch breit. aus der dissonanten kritik ein zitat eines forschers: „Hier wird dauernd geballert, geschossen und gemordet, es spritzt das Blut und das Sperma und die Gehirnmasse – über Seiten hinweg."

naja, littell war als krimiautor gestartet, mit wenig erfolg. ein buch - auf die leserschaft spekulierend. der ich-erzähler aue wurde schwul, nachdem er nach der inzestuösen beziehung zu seiner schwester kein passen wollendes weib mehr fand. wieder so eine masche/ mache von littell.

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 16.12.13:
Ich werde morgen noch einige Kritiken des Romans hinzufügen. Sie machen dem Leser eine endgültige Beurteilung des Romans nicht leichter.

 ViktorVanHynthersin (16.12.13)
Lieber Ekkehart,
ich habe das Buch nicht gelesen, kann aber gut nachvollziehen, warum es die Leserschaft spaltet. Jedes einzelne Thema (NS-Zeit, Inzest, Homosexualität, etc.) hat die Kraft dazu. Sich damit (und dem Buch) auseinanderzusetzen, ist gut und wichtig. Vielen Dank für die Anregung.
Herzliche Grüße
Viktor

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 16.12.13:
Merci, Viktor, du hast verstanden, weshalb ich mich mit dem Buch eingehend befasst habe. Ich denke, es wird noch lange dauern, bis sich die Literaturkritik dazu ein abschließendes Urteil gebildet hat. Vielleicht werden sich an dem Buch immer die Geister scheiden.
Herzliche Grüße
Ekki

 toltec-head (16.12.13)
Zur Entschädigung dafür, dass sie keine Frauen sind, gaben die Götter den Männern zwei Dinge: den Krieg und die Prostata. Das Buch ist voll von Sätzen wie diesem, die richtig reinziehen. Übrigens hätte es auch heißen können "Tom Ripley in Stalingrad". Ich fürchte, auf kV wird über so etwas wohl kaum eine Diskussion zustande kommen. Leider.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 16.12.13:
Vielen Dank, Toltec, ich will niemanden missionieren. Ich vermute, du tickst nicht anders.
MarieM (55)
(16.12.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 16.12.13:
Grazie, Marie, zu dem Thema Bereitschaft gegenüber diesem Buch: Ich stehe noch in brieflichem Kontakt mit meinem 86jährigen Deutschlehrer. Als ich ihm 2008 von meiner Lektüre des Buchs berichtete, reagierte er zunächst ablehnend. Dann las er es doch. Kurz danach hatten wir ein Klassentreffen, an dem er als Klassenlehrer teilnahm. Die Diskussion über das Buch dauerte lange. Außer mir hatten es auch noch andere Klassenkameraden gelesen.
(Antwort korrigiert am 16.12.2013)
MarieM (55) meinte dazu am 16.12.13:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 16.12.13:
Er glaubte, dass er die pornografishen Passagen nicht ertragen könne, kam aber zu der Auffassung, dass sie für Littell nicht Selbstzweck sind. Insgesamt spielt Pornografie, verteilt auf 1400 Seiten, nicht die dominante Rolle, wie es nach den bisher eingestellten Rezensionen scheint.

Zu deiner Frage nach der Schreibdauer: Littell hat die historischen Ereignisse sehr genau recherchiert. Das gestehen ihm auch seine schärfsten Kritiker zu und hat dann das Buch in wenigen Wochen (Die genaue Zahl habe ich vergessen) herunter geschrieben.
MarieM (55) meinte dazu am 16.12.13:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Pocahontas (54)
(16.12.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 16.12.13:
Grazie, Sigi,
ich habe den zweiten Teil der Rezensionen bereits jetzt an meinen Text angefügt, weil sich, wie vorauszusehen war, die
Fragen häufen, weshalb Littell Themen der Gewalt in unerhörter Weise miteinander verbindet, ob es sich um eine widerliche Sensationsmache handelt oder ob die exzessive Gewalt von der Gestaltung her eine Rechtfertigugng findet.
Ich denke, Vertreter beider Thesen werden Argumente für ihre Position finden.
Eines ist jedenfalls sicher: "Die Wohlgesinnten" werden sich nicht einfach in irgendeine Schublade stecken lassen.
Liebe Grüße
Ekki

 susidie (16.12.13)
Lieber Ekki, eine aufwühlende Rezension zu einer sehr umfassenden Thematik. Ich kenne das Buch nicht. Allerdings muss ich sagen, du hast mich sehr neugierig gemacht. Momentan bleiben mir allerdings nur Recherchen im Internet. Eine überaus interessante Anregung ist es allemal. Ich werde es weiter verfolgen. Danke und Gruß von Su :)

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 16.12.13:
Merci, Su, auch an dieser Stelle weise ich noch einmal darauf hin, dass ich inzwischen die wichtigsten Rezensionen komplett vorgestellt habe. Du wirst nicht weiter im Internet recherchieren müssen.
Wer sich fragt, weshalb Littell die Themen Gewalt und Pornografie ungewöhnlich exzessiv behandelt, wird jetzt Antworten finden. Ob sie ihn überzeugen, kann er natürlich nur selbst beantworten.

 TrekanBelluvitsh (16.12.13)
Ich habe das Buch nicht, deine Rezension aber gern gelesen, eben weil du unvoreingenommen die verschiedenen Standpunkte gegenüberstellst.

Tatsächlich weckt das aber nicht die Lust in mir, es zu lesen und das einfach aus dem Grund, weil es eines jener Bücher ist, nach dessen 'Studium' die Literati der Welt meinen, sie wüssten alles über das Thema Holocaust und SS. Gerade solche Sätze wie
"Das sind alles Begriffe aus einer anderen, einer sauberen Welt, wo das Verschmutzte als Ausnahme gebrandmarkt werden soll"
zeigen, die vollkommen Blindheit des Feuilleton und alle Kritiken, die du zitierst hast, setzen letztlich auf den Punkt Monstrosität. Und gerade das ist der so entscheidende[/b] und fatale[/b] Fehler! Es ist ein Deutungsmuster, das dem Erkennen von Gewalt diametral entgegenläuft, denn - wenn ich mich an dieser Stelle selbst zitieren darf -  Krieg ist die Fortsetzung der Gesellschaft mit anderen Mittel.. Aber schon die historisch unumstößliche Einsicht, das der Holocaust, die Shoah, der Genozid ohne den Krieg nicht möglich gewesen wäre, ist leider eine kaum verbreitet Einsicht.

Und wenn der durchschnittliche Leser aus diesem Buch lernen soll, das Krieg und Massenmord eine brutale, blutige und den Menschen auf ein Nichts reduzierendes Ereignis (Zustand?) war/ist, spricht das zwar für die Wortgewalt des Autors, aber leider auch - ich muss es so hart sagen - für die Dummheit und fehlende Fantasie seiner (es rezensierenden) Leser, deren Kommentare letztlich, wenn man die wortgewandten Artikel auf ihren Inhalt reduziert, nicht mehr sagen als: "Ja ja, so ist das..." Da ist es kein Wunder, dass sich der gemeine Leser, um ein Begreifen zu vermeiden, in Allgemeinplätze, Plattitüden und Pseudophilosophie rettet, was eine Zeichen für das Unbegreifen ist und nicht mehr!

Darum möchte ich am Schluss allen, die sich mit dem Thema beschäftigen möchten, ein anders Buch ans Herz legen - und das nicht um deine hervorragende Rezension zu konterkarieren -, das einen sehr viel näher an das Phänomen der Täter heranbringt.

Longrich, Peter; Himmler, München 2008

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 17.12.13:
Lieber Trekan, ich danke dir für deinen gründlichen Kommentar. Was letztlich geeigneter ist, den Holocaust zu deuten, ein Roman wie der von Littell oder ein Sachbuch wie das von Peter Longrich, ich weiß es nicht. Ich werde mir das Buch von Longrich beschaffen und nach dessen Lektüre vielleicht schlauer sein. Momentan neige ich zu der Einschätzung, dass es sich um unterschiedliche Wege handelt, das Unbgreifliche begreiflich zu machen.

 moonlighting (17.12.13)
Ich bin gerade dabei dieses mit Horror besudelte Werk zu lesen.

Ich kann es nicht mehr aus der Hand legen,
aber wer eine Herzschwäche hat sollte besser die Finger davon lassen.

LG
Moon

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 17.12.13:
Vielen Dank, Moonlight, denkst du, dass der Horror nur zur Spannungmache eingesetzt wird oder hat er für dich eine erkennbare gesellschaftskritische Funktion?
LG
Ekki

 moonlighting meinte dazu am 17.12.13:
Nur zur Spannungmache, nein das glaube ich nicht.

Für mich ist es ein gesellschaftskritisches Werk das unter die Haut geht,
das uns zwingt in den Spiegel zu schauen in unser aller Vergangenheit.

LG
Moon

 TrekanBelluvitsh (25.05.18)
Eine interessante Zusammenfassung. Auch die von dir zitierten Argumente und Gegenargumente sind nicht nur im Speziellen, sondern auch im Allgemeinen von Interesse. Wenn z.B.
Seine Prosa mag platt sein. Aber das ist angesichts der geschilderten Tragödien kein Kriterium
stimmt, dann gibt es kein "gutes Buch". Dann gibt es nur wichtige und unwichtige Bücher.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram