In jedem Jahr, an jedem Tag

Kurzgeschichte zum Thema Lebensbetrachtung

von  Stone

In jedem Jahr, an jedem Tag

Schon daran, dass es wieder eher dunkel wird, erkennt man, dass der Herbst längst begonnen hat, und der Winter nicht mehr fern ist. Das ist auch eines der Dinge, die Max derzeit stören. Auf seiner Arbeit gibt es im Moment jede Menge Stress, seine Partnerin will ihn demnächst heiraten – eine Sache, über die er sich noch nicht völlig klar ist – und da sein Vater kürzlich gestorben ist, hat er auch mit den kleinen und großen Tücken der Hinterbliebenen zu tun. Jetzt ist er gerade unterwegs, um sich einerseits wegen neuer Schuhe zu informieren, zum anderen will er auch schon sehen, was er an Weihnachtsgeschenken so kaufen könnte. Bislang hat er – wie in jedem Jahr – keinen blassen Schimmer, was er holen soll, was das ganze Brimborium überhaupt für einen Sinn hat, außer dem, dass es für die Einzelhandelsbranche wahrlich ein Grund zum Feiern ist, wenn es jahrjährlich einen Riesenreibach gibt. Ihm jedenfalls können die Feiertage diesmal gestohlen bleiben.

Und überhaupt: die Ladenpassagen, die jetzt noch halbwegs zugänglich sind, würden überquellen vor nervigen, lauten, lärmenden Leuten, die von Geschäft zu Geschäft, von Ladenpassage zu Ladenpassage hasten würden ohne jede Freude, ohne echte Begeisterung und fernab jeglicher Motivation. Und das Phänomenale an der Sache, so denkt er, ist dass nahezu alle Kollegen die er hatte, der gleichen Ansicht waren. Er war in einer großen Anwaltskanzlei als Referendar tätig und hörte diese und ähnliche Äußerungen immer wieder.

Aber jetzt – so ruft er sich ins Gedächtnis – sollte er an andere Dinge denken. Also steuert er das nächste Schuhgeschäft an und probiert Schuhe an. Später hat er noch einen Termin mit dem Nachlassverwalter und anschließend steht einer der Besuche an, die ihm so schwer fallen. Er muss seine Mutter überzeugen, in ein Pflegeheim zu ziehen. Als sein Vater noch lebte, ging es ihr noch besser. Sie leidet an einer Art Muskelschwund und – nachdem ihr Mann verstarb noch schlimmer gewordener – Depressionen. Berta und Martin Hartmann seine Eltern – waren über vierzig Jahre verheiratet, bevor eine hartnäckige Viruserkrankung Martin das Leben kostete.
Und jetzt ist es unmöglich geworden, dass sie allein die Wohnung bewirtschaften konnte. Max hatte zwar versucht durch Hilfen – damit die wichtigsten Dinge geregelt werden konnten – eine Putzfrau und eine Haushaltshilfe für seine Mutter zu beschäftigen, aber die Pflege, die sie braucht, die ist nur sehr schwer möglich, wenn sie allein in ihrer Wohnung lebt.
***

Sie hat Angst. Sie ist verunsichert. Sie zweifelt an der Liebe ihres Sohnes. Sicher, ganz tief im Inneren weiß sie um die Problematik, aber ihre depressiven Schübe und ein nahezu permanentes Selbstmitleid  verhindern, dass sie völlig klar und unvoreingenommen darüber urteilen kann. Sie registriert nur noch die Tiefschläge, die sie entgegennehmen muss; die Nackenschläge. Wie ihre Muskelerkrankung. Dann – nicht zuletzt wegen dieser Krankheit – setzten ihr Depressionen zu. Dann – wobei sie glaubte, jetzt geht es nicht mehr schlimmer –  starb ihr Mann. Doch auch das reichte noch nicht. Jetzt wollte ihr Sohn, dass sie in ein Pflegeheim geht. Ihr Sohn, den sie jahrelang versorgt, gepflegt und aufgezogen hatte. Ihr eigenes Fleisch und Blut.
***

Max entscheidet sich letztlich für ein Paar Schuhe, das ihm zwar optisch gefällt, aber eine Nummer zu groß ist. Die Schuhe, die er gewollt hatte, gab es nicht in seiner Größe, sondern nur eine Nummer kleiner – was zwar einige Schritte auszuhalten war, aber eingedenk längerer Strecken sicher zu schmerzhaft wäre – und eine Nummer größer – was mit Einlagen sicher irgendwie geht.
So geht er aus dem Schuhgeschäft und spaziert durch die Einkaufspassage. Nach einer kurzen „Ruhepause“ führen seine Gedanken ihn wieder zu seiner Mutter, zu der Beerdigung seines Vaters und all den anderen nervenden Problemen.

Er geht in Richtung eines Ausgangs, als er plötzlich etwas bekannt Vorkommendes aus dem Augenwinkel wahrnimmt. Ein schon lange vergessen geglaubter Freund schiebt sich in seine Gedanken. „Andreas, Andi, oder so“, versucht er sich den Namen ins Gedächtnis zurück zu holen. Schließlich fällt ihm der Name wieder ein. „Andre“. Aber während er den Namen in Gedanken ausspricht, kommen ihm Zweifel. Denn der, der dort sitzt, in zerfledderter Kleidung, verwittertem Gesicht, in typischer Bettlerpose hockt, kann unmöglich derselbe sein, der immer gepflegt und modisch gekleidet, mit ihm gemeinsam Jura studierte. Mit dem er über viele Jahre befreundet war. Doch als er einen Blick von ihm auffängt, ist es sicher. Ein Erkennen spiegelt sich jetzt auch bei dem Mann, der dort auf ebener Erde, mit einer Decke gegen die Kälte geschützt, sitzt.

Es fällt ihm schwer, den Mann, der früher – in, so scheint es ihm einem anderen Leben – einmal sein Freund war, anzusprechen. Zu groß erscheint ihm die Diskrepanz zu damals, zu groß die Differenz zwischen ihm und dem bedauernswertem Stück Leben. Doch er fasst sich ein Herz und sagt: „Entschuldige, bist du nicht der Andre?“ 

Später, viel später, als die Peinlichkeit der ersten Minuten vorbei und sich etwas von der alten Vertrautheit eingestellt hatte, erzählt Andre davon, wie es zu dem Absturz kommen konnte. Begonnen hatte es mit dem Gefühl der Überforderung. Da waren die Rückzahlungsraten für das Mobiliar, da war das ständige Zerren seines Arbeitgebers, da war seine Lebensgefährtin, die ihm ständig in den Ohren lag wegen irgendeines anderen banalen Krams. Irgendwann hatte er die Nase voll und bevor er sich selbst etwas antun würde, hatte er für sich beschlossen, einfach – gar nichts mehr zu tun. Für nichts und niemanden verantwortlich sein. Einfach sein. So war „der Plan“. Eine Auszeit zu nehmen, hatte er schon probiert. Klappte nicht. Entweder war die Zeit zu knapp oder seine Freundin nicht geduldig genug oder etwas anderes kam dazwischen. Also zog er – so sah er es – die Notbremse. Er verkaufte sein ganzes Hab und Gut, zog in eine kleinere Wohnung, kündigte seinen Job. Doch ohne Job oder „den Willen einen Job anzunehmen“ kein Geld; ohne Geld keine Wohnung mehr. So zog seine Entscheidung nicht mehr am öffentlichen Leben teilzunehmen, einen Rattenschwanz von weiteren Konsequenzen nach sich. Bis er letztlich dort landete, wo er jetzt war. Und, wie er sagte, habe er sich zu Beginn dieser Zeit – er lebt jetzt seit drei Jahren auf der Straße – „selten so wohl, so frei gefühlt“. Bis er die Nachteile einer solchen Existenz zu spüren begann. Das heißt, nicht er persönlich; es waren Leute, die wie er selbst auf der Straße lebten, die ihm erzählten, dass es Typen gab, die sich einen Spaß daraus machten, Leute, die auf der Straße leben, z.B. anzuzünden, anzupinkeln oder sonst wie zu schikanieren. Aber, so erzählt ihm Andre, sind das eben die negativen Begleiterscheinungen und ihm wäre es ja noch nie passiert, toi, toi, toi. Er erzählt von Nächten unter sternenklaren Himmel und dem schönen Gefühl, keinerlei Verantwortung zu haben. Von der Zeit, die jetzt wieder kommt, die Vorweihnachtszeit. Das ist die Zeit, in der die Leute viel geben, zum einen, weil das Wetter sie melancholisch macht, zum anderen, weil die Zeit ganz allgemein die Menschen daran erinnert, dass Weihnachten vor der Tür steht. Und der Frühling und Sommer lässt sie dermaßen gut gelaunt sein, weil es wärmer wird bzw. wärmer ist. 

Max ist gleichermaßen geschockt und fasziniert von seinem Freund, an dem er Seiten entdeckte, die er entweder noch nicht hatte oder die damals noch nicht zu Tage getreten sind. Irgendetwas tief in ihm Steckendes beneidete die Pflichtvergessenheit und die Sorglosigkeit von Andre. Allerdings ließ er dieses – etwas diffuse, etwas unbestimmte – Gefühl nicht zu. Er hat so eine Ahnung, dass – wenn er diesem Gefühl erstmal nachgeben würde, er – ähnlich wie Andre – allen Ärger Ärger sein ließ und alle Verpflichtungen und Erwartungen von anderen sich in Luft auflösen könnten.

Ein weiterer Gesichtspunkt ist für ihn, dass er Andre insgeheim für krank, labil, für „nicht normal“ hält. Ganz gleich, wie geistig gesund er früher gewirkt haben mag. Sei es auch nur, um sich nicht eingestehen zu müssen, dass er, Max, gemeinsam mit der ganzen nach Arbeit und Konsum und Pflichtversessenen Schar der Menschen – zumindest derjenigen, der westlichen Hemisphäre, krank ist. Und eine dermaßen fundamentale und sein Weltbild auf den Kopf stellende Philosophie erträgt er jetzt nicht.


So unterhalten sie sich mittlerweile über die früheren Zeiten. Über Lehrer, die sie gebeutelt haben. Über gemeinsame Freunde. „Was macht eigentlich…“. Wobei sie von den meisten nichts mehr gehört haben. Und für so was wie ein Klassentreffen hat sich weder Max noch Andre je interessiert, geschweige denn engagiert. So plätschert ihr Gespräch dahin und da inzwischen an die anderthalb Stunden vergangen sind, macht Max ihn darauf aufmerksam, „dass ich ja noch einiges zu tun habe. Aber wenn du öfter hier stehst, sehen wir uns bestimmt in nächster Zeit mal.“ Andre versteht, versteht nur zu gut, die Sachzwänge, denen Max unterworfen ist und die er selbst so verabscheut hat, dass er – für sich – die Notbremse gezogen hat.

Max weiß, dass er den Besuch bei der Mutter verschieben muss, was ihm nicht schwer fällt, denn auf das unangenehme Gespräch mit ihr verzichtet er gern. Auch wenn er weiß, dass diese Auseinandersetzung nur aufgeschoben ist. So macht er sich auf den Weg zum Nachlassverwalter. Er kann den Termin gerade noch einhalten und indem seine Gedanken jetzt um die Problematik mit der Erbschaft seines Vaters kreisen, vergisst er Andre.

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