Im Licht des Tages

Erzählung zum Thema Magie

von  Mehrmeerland

Erschöpft vom Schlaf, öffnete Swane die Augen.

Helles Sonnenlicht drang durch das weit geöffnete Fenster. Warmer Wind ließ die Gardinen ins Zimmer flattern.

Es musste gegen Mittag sein. Auf dem Tisch befand sich die Mittagsmahlzeit in kleinen Wärmeschalen. Der Geruch verursachte ihr Übelkeit.

Sie wusste genau, in welcher Situation sie sich befand. Dazu musste sie keinen Blick auf das Gitter vor dem Fenster werfen. Die Tür öffnen zu wollen, würde auch zu keinem Erfolg führen. Sie lebte lange genug in diesem Haus, um das zu wissen.

Die Bilder der Nacht tobten immer noch durch ihren Kopf. Nicht die Eingangshalle, sondern die Traumbilder danach. Es war das erste Mal gewesen, dass ihre wahre Welt derart Eingang in ihre nächtlichen Träume gefunden hatte. Der Gedanke an den Drachen erfüllte sie mit Stolz und Zufriedenheit. Sie hatte es immer gewusst. Er war in ihr und sie hatte ihn Roebruk zu Hilfe schicken können.

Sie stand auf und trat an das Fenster. Das Haus lag auf einer Lichtung im Wald. Wenige Kilometer von einer größeren Ansiedlung mit einem kleinen Hafen entfernt. Ihr Blick fiel auf die Bäume und die Wiese mit dem Weiher. Schilfgras umsäumte das Ufer und eine Rohrdommel ließ sich im Wind hin- und herwiegen.

Klopf, klopf.

Sie fuhr herum.

Klopf, klopf.

„Ja?“, flüsterte sie. Ihre Stimme war kraftlos und eingerostet. Sie räusperte sich.

Klopf, klopf.

„Herein“, erklang es jetzt lauter und sie hörte, wie die Tür aufgeschlossen wurde. Dieser Mann und Meyta betraten den Raum.

„Mädchen, du bist noch im Nachthemd? Gegessen hast du auch noch nicht“, sprach er und musterte sie von oben bis unten. Sie wich zurück, antwortete aber nicht. Ihr Blick wanderte wieder zum und aus dem Fenster. Sie blendete die Personen einfach aus und ließ ihre Gedanken zurück auf die Insel zu Roebruk fliegen. Wie würde es weitergehen?

Ein Schatten trat neben sie, berührte sie aber nicht. Ihre Augenbrauen zuckten kurz zusammen, da sie sich in ihrer Konzentration gestört sah. Der Schatten aber blieb. Unwirsch fuhr sie sich über das Gesicht und drehte sich ruckartig um.

„Was?“, fuhr sie die alte Frau an, die neben ihr stand und ebenfalls auf die Wiese sah.

Lächelnd sah diese zu ihr auf. Die blauen Augen nahmen sie sofort wieder gefangen und verhinderten, dass sie wieder in ihre Welt entkam.

„Wo bist du?“, fragte die Alte sie in leisem Singsang.

„Eingesperrt!“, flüsterte Swane.

„Möchtest du Freiheit?“

Erstaunt sah Swane Meyta genauer an. Es war anstrengend sich auf jemanden zu konzentrieren. Das hatte Swane lange nicht mehr getan. Sie drohte immer wieder den Kontakt zu verlieren.

Die kleine Frau nickte ihr zu, griff nach einer Jacke und legte sie Swane um. Die zuckte bei der Berührung kurz zusammen, ließ es aber geschehen. Dann ergriff sie Swanes weiße kalte Hand.

„Komm.“

Meyta führte die junge Frau durch das Haus bis zu der Eichentür und öffnete sie geräuschlos. Wie angewurzelt stand Swane vor dem Weg nach draußen. Ihr Blick glitt an sich hinunter. Barfuß.

Meyta war ihrem Blick gefolgt.

„Wir fangen mit der kleinen Freiheit an. Komm“, sagte sie geheimnisvoll und trat durch die Tür.

Swane folgte ihr zögernd.

Sie stiegen die wenigen Steinstufen hinab und betraten den Kiesweg, der um das Haus herum führte.

Außer ihnen war kein Mensch zu sehen.

Swane wurde von den Eindrücken überwältigt. Lange Zeit hatte sie das Haus nicht verlassen dürfen. Zu ihrem eigenen Schutz, wie man ihr gesagt hatte, aber jetzt stand sie hier draußen und all ihre Sinne waren wie aufgeladen. Sie spürte die feinen Steinchen unter ihren Fußsohlen, sie hörte sie knirschen und den Gesang der Vögel. Die Sonne wärmte ihre Haut und der Wind strich zart darüber. Sie roch den nahen Wald. Herb und würzig, aber auch süß von dem Blütenstaub der unzähligen Blumen auf der Wiese, schlug ihr die Luft entgegen.

Meyta verließ den Weg und ging über die Wiese zu einer Bank, die nahe des Weihers stand. Swane folgte ihr, jeden Reiz in sich aufsaugend.

Während Meyta sich auf der Bank niederließ, legte Swane sich ins Gras. Sie spürte die Blicke der alten Frau. Etwas ging von dieser Alten aus, das ihr Vertrauen einflößte.  Verbundenheit.

„Frag“, flüsterte sie.

„Warum bist du hier?“, fragte Meyta.

„Sie haben Angst“, antwortete Swane mit geschlossenen Augen.

„Wovor haben sie Angst?“

„Dass er wieder kommt. Dass ich ihn rufen könnte und er dann hier alles dem Erdboden gleichmacht. Sie mögen keine Drachen.“
Swane lauschte. Sie erwartete die gleiche Reaktion, wie sie ihr immer begegnet war. Unglauben, Zynismus, Auslachen, Flucht. Aber nein, sie hörte nichts.

„Er war schon mal da?“

„Ja, das war er. Er hat mich aus dem Haus geholt. Es ist abgebrannt, weißt du? Es war voller Kobolde. Sie haben meine Eltern getötet, wegen des Buches. Aber einer von ihnen, der ist entkommen und hat es mitgenommen.“

„Sie sagen, du hättest das Haus angezündet“, antwortete Meyta mit ruhiger Stimme.

„Ja, das sagen sie, aber sie irren sich. Das war der Drache. Aber vorher holte er mich. Ich … ich weiß nicht, warum er dann verschwand. Wohl, weil er dem Kobold hinterher wollte. Er ließ mich zurück.“

Die letzten Worte flüsterte sie in den auffrischenden Wind.

„Sie sperren mich ein, weil sie Angst vor ihm haben. Dieser Mann … er hat gesagt, ich sei krank. Er meinte, ich sei verrückt. Das habe ich schon verstanden. Oh er ist so dumm. Er versteht gar nichts. Nichts von dieser Welt und nichts von der anderen. Und er fasst mich an. Das mag ich nicht.“

„Er fasst dich an?“

„Er berührt mich, streichelt mir über den Rücken, über den Kopf. Als sei ich ein kleines, dummes Mädchen. Als müsse er Mitleid mit mir haben. Mit mir … mit mir, die ich von einem Drachen gerettet wurde. Ich bin etwas Besonderes.“ Entrüstung und Verachtung schwangen in ihrer Stimme. Mit jedem Wort wurde sie fester, klarer. Die Worte formten sich von selbst, als sie Meyta von Roebruk und dem Drachen erzählte. Dem ewigen Kampf gegen die Kobolde, die Aufgabe. Der Magie, die sie erfüllte, wenn sie in diese andere Welt glitt.

Noch nie zuvor hatte sie einem anderen Menschen all das erzählt. In der Regel war sie vorher unterbrochen und ruhiggestellt worden. Aber nicht heute. Im Licht dieses Sonnentages, eines Tages in dem die Magie der Dinge allgegenwärtig war, sah sie diese Welt mit wachen Augen. Die Sehnsucht danach ergriff sie und presste ihr das Herz zusammen. Sie verstummte…

Ohne auf eine Reaktion Meytas zu warten, stand sie auf, und lief zurück ins Haus.

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Kommentare zu diesem Text

Abulie (45)
(13.01.14)
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 Mehrmeerland meinte dazu am 14.01.14:
Nicht wahr? Bin gespannt, was da noch so passiert...
Herzlichen Dank.
LG

 EkkehartMittelberg (13.01.14)
Durch das Gespräch mit Meyta und die freiwillige Rückkehr ins Haus (Sanatorium?) beginnt die Heilung. Ein Text, der lichtvoll strahlt.
LG
Ekki

 Mehrmeerland antwortete darauf am 14.01.14:
Herzlichen Dank, lieber Ekki.
LG
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