Unheilige Psychologie

Essay zum Thema Psychologische Phänomene

von  Ephemere

Die Gläubigkeit einer Gesellschaft lässt sich daran ablesen, wieviel Psychologie sie betreibt. Mit der "Entdeckung" der psychischen Krankheiten verschwindet das Heilige (ebenso wie sein Antagonist, das Teuflische) aus der Welt.

Die Geschichte der Propheten, Seher und Medien ist eine Geschichte der akustischen Halluzinationen, des Ansturms fremder Gedanken, der Anfälle unermesslicher Größe und Erleuchtung ebenso wie schrecklicher Visionen. Es ist, diagnostiziert man heute, eine Geschichte der Schizophrenie, der bipolaren Störungen, der Psychosen, der Epilepsie.

Diese Sichtweise hält man für einen Fortschritt und entwickelt emsig Medikamente, die derlei Symptome zurückdrängen.

Doch sind es gerade diese Symptome, die die längste Zeit der menschlichen Geschichte als die Gabe galten, Kontakt zur Welt hinter der Welt aufnehmen zu können.

Sie waren Segen, eine besondere Nähe zu Gott - wie die zahllosen Heiligen (und die ihnen gewidmeten Pilgerorte) bezeugen, die die Stimmen Gottes und seiner Engel hörten oder Maria zu begegnen wähnten. Außer Kontrolle geratene Tänze und konvulstische Zuckungen dieser Auserwählten inspirierten regelrechte "Veitstanz"-Epidemien. Noch der Dorftrottel, der sich nicht verständlich machen konnte, galt auf seine Weise als göttlich.

So lang er nicht gefährlich wirkte - denn ebenso wie als Segen galten die psychischen Abnormitäten als Fluch, falls sie den leichtesten Hauch des Sinistren hatten. Schnell waren die Suspekten als Hexen, Zauberer, mindestens aber von einem Dämon besessen ausgemacht und konnten im günstigsten Fall noch auf einen Exorzismus hoffen, dessen Überlebenschancen immerhin die des Scheiterhaufens überstiegen.

Doch so oder so: Solange man glaubte, wirklich glaubte, war all dies Teil der von Gott geschaffenen und gelenkten Welt - und damit keinesfalls etwas, was der Korrektur bedüfte (ein durch und durch häretischer Gedanke!), sondern eine Möglichkeit zum Erkenntnisgewinn: Gott (oder Satan) will uns durch diese Menschen etwas sagen.

Wer nicht an die Plausibilität von Marienerscheinungen und himmlischen Stimmen glaubt, nicht an die Göttlichkeit der Entrückung, glaubt der Bibel nicht. Und wer an einen Gott glaubt, den man weder hören noch sehen kann, dem man nicht nach menschlichem Maß begegnen kann, hat sich sein Christentum zu einer rein philosophischen Haltungsfrage sublimiert.

Und nun nehmen wir für einen Moment an, wir Heutigen nähmen die Bibel ernst, wir glaubten, wie einst - und noch vor gar nicht so langer Zeit - geglaubt wurde. Wie unerträglich würde uns sogleich der moderne Umgang mit der Psyche. Sähen wir nicht in jedem Schizophrenen auf Neuroleptika, jedem lithiumsedierten Maniker, jedem antikonvulsivumgesättigten Epileptiker ein ungeheuerliches Schauspiel: Gott, der versucht, sich im Menschen zu offenbaren --- und von der Gesellschaft als unmöglich beurteilt und durch gezielte Eingriffe in den Organismus seiner Schöpfung zum Schweigen gebracht wird.

Grenzenlos wird Sein Zorn sein.

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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (21.02.14)
Das fürchterliche an dieser Welt sind nicht die Verführer sondern die Verführten.
- von: mir

"Wollt ihr wissen was mich an der Religion stört? Religion soll die Menschen zusammenführen, sie basiert darauf, dass sie nett zueinander sind, aber ehrlich gesagt, sehe ich das nicht. Ich sag euch was ich sehe: Ich sehe einen Haufen Menschen, die ständig die zehn Gebote zitieren, um zu zeigen, dass sie moralisch überlegen sind. Ich sehe das miese Fernsehpfaffenpack, das den alten Mütterchen den letzten Rentenpennie herauskitzelt, alles im Namen Gottes. Ach ja, und was ist mit all den gottesfürchtigen Menschen, die andere Gottesfürchtige Menschen umbringen, nur weil sie Gott nicht auf dieselbe Weise fürchten?"
- von: John Becker aus der us-amerikanischen Sitcom "Becker"

Ach ja, und:  Kuckst du hier...
(Kommentar korrigiert am 22.02.2014)
Reverend Troy (35) meinte dazu am 22.02.14:
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Reverend Troy (35)
(22.02.14)
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Teichhüpfer (56)
(22.02.14)
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 Dieter Wal (22.02.14)
"Die Geschichte der Propheten, Seher und Medien ist eine Geschichte der akustischen Halluzinationen, des Ansturms fremder Gedanken, der Anfälle unermesslicher Größe und Erleuchtung ebenso wie schrecklicher Visionen. Es ist, diagnostiziert man heute, eine Geschichte der Schizophrenie, der bipolaren Störungen, der Psychosen, der Epilepsie."


Interessante Betrachtungsweise.

Unterschiede zwischen halluzinatorischem und auditivem bzw. visionärem Erleben zeigen sich im Verhalten der jeweiligen Menschen, die welche erleben. Ich glaube nicht, dass es Gemeinsamkeiten zwischen beiden Wahrnehmungsarten gibt. Äußerlich betrachtet ähneln sie sich scheinbar und werden wie von dir als dasselbe beschrieben. Du hast Äpfel mit Birnen gleichgesetzt. Sind ja auch fast dasselbe. ;)
(Kommentar korrigiert am 22.02.2014)

 Ephemere antwortete darauf am 22.02.14:
Wenn aber diese Wahrnehmungsarten äußerlich als das Gleiche erscheinen, läge es ja am Betroffenen, zu unterscheiden, ob er Visionäres erlebt oder Schizophrenes/Psychotisches...für diese Einordnung dürfte seine Gläubigkeit eine Rolle spielen - die Inhalte solcher Wahrnehmungen sind nämlich häufig religiöser Natur. Abgesehen davon wird z.B. das visionäre Erleben, wie es LSD induziert, medizinisch als Psychose klassifiziert...eine Operationalisierung "echter" Visionen ist mir bislang nicht begegnet in der Wissenschaft - vielleicht, weil sie Sache der Religion ist?

 Dieter Wal schrieb daraufhin am 22.02.14:
In dem in der Geschichte dargestellten Fall urteilte ein Psychiater.
 Guckst du. Mag sein, dass es nicht immer so abläuft. ;)

Könnte dir eine Vorlesung über Kulturpsychopathologie kopiert zusenden.

Kennst du den Roman "Die Elexiere des Teufels"?
(Antwort korrigiert am 22.02.2014)
Teichhüpfer (56) äußerte darauf am 22.02.14:
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 Dieter Wal ergänzte dazu am 22.02.14:
So denke ich auch, wenn ich manche "Gedichte" auf kV lese.
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