Affentheurlich, naupengeheurliche, raddatzsche Geschichtsklitterung

Groteske zum Thema Hochzeit

von  toltec-head

Goethe, der wenn er aus dem oberen Fenster seines Hauses im Frankfurter Westend, die in den Hauptbahnhof ein- und ausfahrenden Züge bestaunen und über das kommende Maschinenzeitalter meditieren konnte, bescheinigte Balzac ein knapp mehr als durchschnittliches Talent. "Nicht einmal das erkenne ich. Der nochmalige Versuch, Balzac zu lesen, reine Quälerei. Unterhaltungsliteratur niedrigsten Niveaus. Zeitgebunden? Aber Rodin lebte zu eben der Zeit und sein Werk ist vollendet." Rodin, der bekanntlich den von ihm aller Wahrscheinlichkeit nach nicht vernaschten jungen Rilke zum Sekretär hatte, der seinerseits den von ihm ebenfalls aller Wahrscheinlichkeit nicht vernaschten jungen Klaus Mann nicht zum Sekretär hatte, aber hätte haben können, woraus folgt, dass Raddatz, der im zweiten Teil seiner Tagebücher von hartem Männersex mit Klaus Mann unter einer Dusche berichtet, also ein Zeitgenosse Goethes ist.

Das ganze liest sich in dem lange vor dem zweiten Teil seiner Tagebücher erschienenen Erinnerungsbuch "Unruhestifter" jedoch etwas anders. So heißt es dort zu Klaus Man noch: "…oft, sehr oft habe ich mich gefragt, ob er sich über den jungen Deutschen, der zu schüchtern war, ihn anzusprechen, gefreut hätte, ob wir uns kennengelernt hätten, ob sein ankerloses Leben gar anderen, neuen Kurs aufgenommen hätte, wenn…Es hat ihm nicht genützt, dass sein Foto dann auf meinem Schreibtisch stand." Also doch kein harter Männersex unter der Dusche? Raddatz kein Zeitgenosse Goethes? Nur Kleingeister können so etwas denken. Die Körper sind die Gefäße, auf das Zertrümmern der Gefäße kommt es an und wer an seinem Schreibtisch sitzt und über ein Foto meditiert, kann an dem Zertrümmern der Gefäße genauso arbeiten, wie Goethe, der beim Meditieren über das Maschinenalter, schon die in den Frankfurter Hauptbahnhof ein- und ausfahrenden Züge sah.

Raddatz arbeitet als fiktiver Theologe schon seit längerem an einer privaten Version einer bundesrepublikanischen Gnosis, die darauf beharrt, dass der Lichtfunke in jedem von uns unsterblich ist, weil er sowieso nie ein Teil der Schöpfung war. Geschichte und Natur sind in dieser Sichtweise Dämonen oder böse Engel, indes unser Lichtfunke dem ungeschaffenen Urgrund entspringt. Dieser ungeschaffene Urgrund war es, an dem der böse Schöpfergott sich vergriff, um mit seinen ungeschickten Händen Geschichte und Natur zu formen. Das Zertrümmern der Gefäße, wofür harter Männersex unter einer Dusche ja nur ein Beispiel ist, zertrümmert Körper und Kosmos, so dass das göttliche Licht wieder durch diese hindurch strahlen können.

Schließen wir also die Augen und sehen die in den Frankfurter Hauptbahnhof ein- und ausfahrenden Züge, so wie Goethe sie sah. Stellen wir ein Foto von Raddatz auf unseren Schreibtisch und imaginieren. Harten Männersex unter Dusche? Der Mann mag mittlerweile über 80 sein, aber Klaus Mann war mit etwas über 40 auch bereits vorzeitig gealtert, von Drogen ausgezehrt und verfettet. Niemand hat gesagt, dass die Rückgängigmachung der Machenschaften des bösen Schöpfergottes ein bloßer Spaziergang würde. Strengen wir uns an!

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Kommentare zu diesem Text

mannemvorne (58)
(22.03.14)
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 toltec-head meinte dazu am 24.03.14:
Ergreifend!
mannemvorne (58) antwortete darauf am 25.03.14:
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Patroklos (36)
(22.03.14)
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 toltec-head schrieb daraufhin am 24.03.14:
Einfach nur Blasen tut´s nicht?
parkfüralteprofs (57)
(23.03.14)
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 toltec-head äußerte darauf am 24.03.14:
Im Gegensatz zu dir kannte ich das schon. Bist über die Stelle eigentlich schon gestolpert? Dass es Widersprüche zwischen Tagebuch Teil 2 und "Unruhestifter" in Sachen Klaus Mann gibt, fiel mir beim googlen im Internet auf, soll heißen, irgendeinem Blogger fiel es vor mir auf.
(Antwort korrigiert am 24.03.2014)
parkfüralteprofs (57) ergänzte dazu am 24.03.14:
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 toltec-head meinte dazu am 24.03.14:
Na du bist doch immer der, der sagt, jeder Leser habe das Recht, einen Text nach seiner Fassong zu lesen und, was ja hieraus folgt, Dinge hinzuzuerfinden. Ich hab den zweiten Teil ja immer noch nicht gelesen und stütze mich im Moment nur auf Gewährsmänner wie dich oder diesen Blog:

http://truelemming.wordpress.com/2013/04/05/die-verschwulung-der-welt-ein-kleines-osterliches-quer-durch-den-garten-vorbei-an-fichten-und-raddatzen/

(Schau dort doch mal rein, wenn du Zeit und Lust hast. Der Typ versucht wie du Raddatz mit Henscheid auszuspielen.)

Im Übrigen: Der Widerspruch zwischen "Unruhestifter" und Tagebucheintrag bleibt. Man kann schlecht jemanden persönlich nicht kennen gelernt und dann doch mit ihm Sex gehabt haben. Nach deiner Lesart hätte Raddatz in "Unruhestifter" gelogen. Das kann man schlecht als Auflösung eines Widerspruchs bezeichnen.
parkfüralteprofs (57) meinte dazu am 26.03.14:
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 toltec-head meinte dazu am 26.03.14:
Ja, hast Recht. Hab den Link verwechselt. Der TrueLemming ist in der Tat merkwürdig homophob, auch wenn er den Henscheid hat, bei dem ich aber auch schon mal homophobe Untertöne herausgelesen habe. Die seriösere Besprechung mit der Aufdeckung des Widerspruchs bezüglich Affäre mit Klaus Mann ist diese hier:

http://www.glanzundelend.de/Artikel/abc/r/fritz-j-raddatz-tagebuecher-zweiter-teil.htm
parkfüralteprofs (57) meinte dazu am 27.03.14:
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 toltec-head meinte dazu am 27.03.14:
Ich eiere im Moment um den zweiten Teil seiner Tagebücher herum und lese alles mögliche über sie, statt sie selbst lesen zum müssen. In diesem Herumeiern liegt die Antwort auf deine Frage, was den Bio-Blogger vom Autor der Raddatz´schen Tagebücher unterscheidet:
 http://www.keinverlag.de/texte.php?text=360786
(Antwort korrigiert am 27.03.2014)
parkfüralteprofs (57) meinte dazu am 27.03.14:
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 toltec-head meinte dazu am 04.05.14:
Endlich die Stelle im Original gelesen (Eintrag vom 27. Oktober 2008). Schon sehr berührend. Wobei der Sex aber gar nicht unter der Dusche sondern in Wahrheit nur Horsd`oeuvre war ("er wollte mich nackt sehen"; einfach nur sauber, was doch näher liegt, kommt ihm nicht in den Sinn). So viele Details, dass das nicht gelogen sein kann. Also hast du Recht und er wollte schlicht vorher nicht die Wahrheit sagen. Witzig, dass ältere Männer ihre Geliebten damals mit "Knospe" anredeten ("er fragte mich, ob ich Knospe schon rauchte?"). Kann ich demnächst ja auch mal ausprobieren ("Würdest du, Knospe, vielleicht vorher noch schnell duschen, bitte?").

Dann steht er also 60 Jahre später als weiß-haariger Greis am Grab des viel zu früh Gestorbenen mit dem Stolz eines jeden Mannes schlaff und schrumpelig baumelnd. An dieser Stelle zitiert er einen Promi, der in einem Interview die allmählich ausbleibende Morgenlatte beklagt und empfiehlt: "Fassen sie mal ´nen 18jährigen an, dann wissen Sie, was ein steifer Schwanz ist." Als wenn es nicht auch unter 18jährigen Schlappschwänze gäbe und 90Grad Erektionen ihr unpraktisches hätten.

"Die kleine Schnödigkeit dieses lieblos unversorgten Grabes mit seriell hergestelltem Marmor" - da sind sie wieder, die Suppenschüsseln, in denen die Dönhoff ihre rote Grütze serviert.

Cast a cold eye/On life, on death./Horseman, pass by!
parkfüralteprofs (57) meinte dazu am 05.05.14:
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 toltec-head meinte dazu am 06.05.14:
Vielleicht ist in diesem Zusammenhang nicht uninteressant, dass ein Buch von Raddatz (nicht biographisch, aber was ist schon nicht biographisch) den Titel "Von Beruf Lügner" trägt.
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