Was unterscheidet den Bio-Blogger vom Autor der Raddatz´schen Tagebücher?

Essay zum Thema Literatur

von  toltec-head

In einem Fernsehinterview, das Raddatz über seine Tagebücher mit Peter Voss geführt hat, bekennt er, dass seine Tagebücher eigentlich Nachtbücher heißen müssten. Er, Raddatz, ginge tagsüber dem nach, was, jedenfalls in seinen Augen, eine ernsthafte Beschäftigung sei, dann treffe er sich mit Freunden oder mache, was man in seiner Freizeit eben so mache, und erst wenn der Tag vorbei sei, komme die Zeit, das Erlebte aufzuschreiben. Es ist eine Thomas Mann Sicht der Dinge. Das wirkliche Leben und der Roman sind die Fluchtpunkte. Die Tagebücher eigentlich nur Allotria.

Für den Bio-Blogger sind der Roman und das wirkliche Leben keine Fluchtpunkte. Sie sind im Gegenteil das, was er durch das Bloggen zu umgehen versucht. Man bloggt, um nicht (ernsthaft) schreiben zu müssen und das Ideal wäre, zu bloggen statt zu leben. Für den Bio-Blogger sind das wirkliche Leben und dessen romanhafte Destillate Allotria. Fluchtpunkt des Bloggens wäre eine Tätigkeit, die alles Wirkliche und romanhaft Wirkliche effektiv abwehrt. Das Bio in Bio-Blogger drückt denn auch nur eine Verlegenheit aus. Es geht keineswegs um irgendein Leben, sondern darum, vom Nächstliegenden zu bloggen. Wäre das Nächstliegende nicht man selbst, umso besser. Das Nächstliegende nicht in einen Roman zu verstricken, darum geht´s beim Bio-Bloggen.

Anders als der Autor der Raddatz´schen Tagebücher bloggt der Bio-Blogger deshalb auch nicht nachts sondern tagsüber, im Idealfall morgens. Nur so kann es gelingen, die Dinge, die sich im Laufe des Tages schon noch und zwangsläufig romanhaft einstellen werden, effektiv auf Distanz zu halten. Das Bloggen ist denn auch anders als das Tagebuchschreiben keine Freizeitbeschäftigung, sondern eine Art Zauber, die Arbeit und Freizeit von uns abwehren sollen. Dass so etwas nicht in einem Buch, nicht einmal einem Tagebuch, mündet, ist klar. Aber was Raddatz wohl ahnt und Thomas Mann nicht wusste: Die Entdeckung eines gelb verfärbten Fußnagels ist heute interessanter als Joseph und seine Brüder.


Anmerkung von toltec-head:

Das Interview mit Voss:

http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=22077

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Kommentare zu diesem Text

parkfüralteprofs (57)
(27.03.14)
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 toltec-head meinte dazu am 27.03.14:
Die gelben Zehennägel tauchen in den Tagebüchern von Th. Mann wohl tatsächlich auf. Man liest von so etwas auch deshalb immer gerne, weil es da nichts zu interpretieren gibt. Vielleicht warte ich die Taschenbuchausgabe ab.
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