Wiederkehr

Kurzprosa zum Thema Entfremdung

von  tulpenrot

„Ich stecke mir frisches Gelb ins Haar“, riefst du fröhlich vor unserem Aufbruch. Als wir dann durch die alten staubigen Straßenschluchten wanderten von düsteren Dohlen geleitet, trug ich mein Leben auf der Hand. Aber dein Haar glänzte.
„Früher gab es hier doch Nachtigallen“, sagtest du verwundert.
Jetzt eilte uns das Gekrächze der Dohlen voraus und folgte uns unerbittlich bis ans Ende des Weges, bis nahe an den Rand, bis es nur noch Tiefe gab und keinen Himmel.

Dort zogen die Vögel ihr fahles Federkleid aus, flatterten ungelenk mit ihren faltigen Schwingen und nickten mit ihren kahlen unverständigen Köpfen. Vergilbt war ihre Haut über die Jahre, feiner Wüstenstaub hatte sich in ihre Furchen gelegt. Vergeblich trippelten sie auf papiernen Füßen suchend umher. Sie konnten keinen Mutterboden und kein Vaterland mehr finden. Ihr Land war bis zur Unkenntlichkeit vertrocknet.

„Sie hatten keine andere Wahl“, sagtest du voller Mitleid, und ich war erschüttert. Wir legten ab, was wir mitgebracht hatten, dein frisches Gelb und mein Leben, und bedeckten die Tiefe damit. Du schautest nach den Wolken.
„Endlich ist der Himmel dunkel“, stelltest du zufrieden fest.
„Es wird bald regnen“, rief ich den federlosen Dohlen zu.
Wir überließen sie dem kommenden Regen und kehrten um. Erst später schauten wir zurück.

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Kommentare zu diesem Text


 W-M (05.04.14)
sehr starker text, und dicht.

 tulpenrot meinte dazu am 05.04.14:
Danke, ich bin erleichtert!

 AZU20 antwortete darauf am 06.04.14:
Da kann ich nur zustimmen. LG
(Antwort korrigiert am 06.04.2014)

 tulpenrot schrieb daraufhin am 07.04.14:
Herzlichen Dank und viele Grüße auch dir, Armin.

 princess (06.04.14)
Liebe Angelika,

das ist ein Text, der sich mir beim ersten Lesen nicht vollständig erschließt. Es ist eher so, als ob er mit jedem Lesen wachsende Ahnungsfunken versprüht und mich einlädt, wieder und wieder seinen Spuren zu folgen. Was ich im Übrigen auch gerne tue.

Liebe Grüße
Ira

 tulpenrot äußerte darauf am 06.04.14:
Liebe Ira,
ich bin mir dessen bewusst, dass der Text keine leichte Kost ist und nur sehr schwer zu verstehen ist. Umso mehr mein herzlicher Dank für dein mehrmaliges Lesen, deine Mühe und deine Rückmeldung.
LG
Angelika
gaby.merci (61)
(07.04.14)
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 tulpenrot ergänzte dazu am 09.04.14:
Danke für deinen Kommentar. Danke auch, dass du den Text mehrmals gelesen hast. Diese von dir herausgehobenen Sätze sind wirklich Kernsätze dieses schwierigen Textes. Es ist für mich immer spannend zu sehen, was kommt beim Leser an und was macht er daraus. Deswegen sind solche Rückmeldungen wichtig - vielleicht auch für eine Überarbeitung.
LG
Angelika

 Sanchina (09.04.14)
Liebe Angelika,
ich mag die unaufdringliche Intensität dieses Textes: ihr galt meine spontane Empfehlung.
Aber du wünschst dir ja auch noch einen Kommentar. Gern, dafür habe ich den Text auch noch ein paar Mal gelesen und über Nacht auf mich wirken lassen. Seit gestern schwirren mir die Dohlen im Kopf herum.
Sie stehen ja u.a. als Symbol für den Tod. Und so lese ich auch den Text: ein Weg zum Tode hin, der dort nicht endet, sondern die Wiederkehr ermöglicht.
Sehr schön ist der Kontrast zwischen dem frischen Gelb im glänzenden Haar (Frühjahr, Jugend) und dem auf der Hand getragenen Leben.
In der himmellosen Tiefe erblicke ich den Tod; indem das mitgebrachte Leben darüber gelegt wird, verliert sich seine Endgültigkeit, an die zu glauben wir gewöhnt sind.

Absolut gelungen ist insbesondere auch der Schluss, indem du es der Leserin überlässt, was sie erblickt, wenn sie zurück schaut. Ich erblicke nach diesem Schluss das wiederkehrende Leben.

Wahrscheinlich habe ich aber das Thema verfehlt, weil ich von "Entfremdung" nichts entdecken kann.

Lb Gruß, Barbara

 tulpenrot meinte dazu am 13.04.14:
Liebe Barbara,

hab sehr herzlichen Dank für deine ausführliche Besprechung des Textes. Und dafür, dass du ihn nun mehrmals gelesen hast. Mir ist es wichtig zu wissen, was beim Leser überhaupt ankommt, wenn ich solcherart, so verschlüsselt schreibe und mit Metaphern umgehe.
Es ist schön, wenn du als Leserin die freundlichen Seiten in dem sonst so düsteren Text entdecken konntest.
Das Thema hast du keinesfalls verfehlt, denn das "Wiederkehr" berührt nur eine äußere Ebene. Ich tat mich schwer darin, überhaupt ein gültiges Stichwort anzugeben, weil so vieles für mich darin mitschwingt. Auch das der Entfremdung trifft es nicht wirklich.
Manchmal ist es auch gut, einen Text nach einer gewissen Zeit noch einmal zur Bearbeitung vorzunehmen.
Ich bin immer selber gespannt, wie meine Texte entstehen und wie sie sich entwickeln.
Deshalb bin ich froh, dass du deine Eindrücke wiedergegeben hast.
Herzliche Grüße
Angelika

 Sanchina meinte dazu am 14.04.14:
danke für die Rückmeldung, Angelika. Ich habe diesen Tetxt überhaupt nicht als düster empfunden.
Gruß, Barbara

 tulpenrot meinte dazu am 20.09.16:
Liebe Barbara, Danke für das erneute Sternchen bei meinem Text! Ich finde das sehr ermutigend.
LG
Angelika

 Sanchina meinte dazu am 21.09.16:
Dieser Text steht in meiner Favoritenliste, und da bleibt er auch. Immer,wenn ich Dohlen sehe, denke ich an dich. Gruß, Barbara

 tulpenrot meinte dazu am 26.09.20:
Liebe Barbara,
wieder entdecke ich ein neues Sternchen von dir und bin sehr erfreut über deine "Hartnäckigkeit". Danke!
Und liebe Grüße
Angelika
Jonathan (59)
(10.04.14)
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 tulpenrot meinte dazu am 13.04.14:
Also als Lobhudelei würde ich die bisherigen Kommentare nicht abtun wollen. Das klingt so abfällig.
Dass du dich nun selber in freundlicher und wohlwollender Weise eingereiht hast in die Liste der Stimmen, freut mich. Und gibt mir die Hoffnung, dass du mit dem Text etwas anfangen konntest. Ganz herzlichen Dank also für deine Rückmeldung, die Sternelein und viele Grüße
Angelika

 Sanchina meinte dazu am 02.05.14:
mein Kommentar war keine oberflächliche Lobhudelei, sondern eine anerkennende, ernsthafte Auseinandersetzung mit einem beeindruckenden Text.
Gruß, Barbara
Jonathan (59) meinte dazu am 06.05.14:
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