Die Ordnung herrscht in Internetliteraturforen

Glosse zum Thema Literatur

von  toltec-head

Kein Mensch muss heute, um sich in die Ordnung, die in Berlin herrscht, einzureihen, nach Berlin fahren oder unpraktisch Schlange für´s Berghain stehen. Es reicht, sich von Zuhause von seinem Sofa aus einen Account in einem Internetliteraturforum zuzulegen. Die Ordnung, die in Berlin herrscht, ist nicht die Ordnung von Berlin, hat dort überhaupt kein Zentrum, sondern es ist die Ordnung von Internetliteraturforen. Das sie dort ihr Zentrum hätte, kann man zwar auch nicht sagen, tatsächlich tritt sie aber, also die Ordnung von Berlin, in Internetliteraturforen in konzentrierterer Form in Erscheinung als in Berlin. Nicht ganz Berlin basiert auf Kitsch, es gibt ja Leute die morgens dort zur Arbeit müssen, aber Internetliteraturforen tuen dies tatsächlich zur Gänze.

Die Ordnung von Internetliteraturforen vereint Freiheit, Gehorsam und Chaos miteinander. Sie wird ständig von leerlaufenden Texten gespeist, die ihrerseits von der Fiktion emanzipierter, rebellischer und kreativer Individuen in einer postpolitischen Welt genährt werden. Jeder ist in Internetliteraturforen sein eigenes fiktives Subjekt, das sich in einem konfliktfreien Raum entfalten darf. Als reine Produkte der Ästhetik ersetzen die Texte in Internetliteraturforen aktiv Tatsachen durch Fiktionen, indem sie eine subjektive, von jeglichem realen Inhalt entleerte Freiheit zum einzigen Bewertungskriterium erheben. In Internetliteraturforen findet der letzte Mensch in seiner Schwundstufe, also der neue Kulturmensch, der von einem obsessiven Streben nach Selbstausdruck getrieben ist, seine Idealstadt, seine utopische Insel. Das ganze unter dem Zeichen unendlicher Ruhe und absolut-demokratischer Kultur: Internetliteraturforen sind Maschinen zur Reproduktion selbstreferenzieller Texte, aus deren flüchtigen Inhalt die Individuen ihre leere Autonomie beziehen.

Dass das Berghain aber cooler als Internetliteraturforen sei, ist auch nur eine Illusion. Wie in Internetliteraturforen stehen sich vor dem ehemaligen Heizkraftwerk Selbstdarsteller ohne Selbst die Beine in den Bauch. Der Türsteher? Ein Webmaster, der selbst bei tantigen und onkeligen Touristen Gnade vor Recht ergehen lassen muss, denn schließlich lebt man ja vom Revolten- und Kreativitätstourismus.
In diesem Regime entspringt die Ordnung aus Freiheit, führt der Unterschied zu Gleichförmigkeit und manifestieren Kreativität und Insubordination nur die öffentliche Seite privater Unterwerfung. In einem netzartigen Milieu, das sich ganz und gar der Freizeitunterhaltung verschrieben hat, sind die fiktiven Subjektivitäten mit Ritualen und Praktiken beschäftigt, die allein eine Freiheit zum Ziel haben, die weder Freund noch Feind kennt. Und deshalb leerläuft.


Anmerkung von toltec-head:

Francesco Masci, Die Ordnung herrscht in Berlin, Matthes & Seitz, Berlin 2014

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Kommentare zu diesem Text

Metulskie (32)
(12.05.14)
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 toltec-head meinte dazu am 12.05.14:
Was schätzt du, wieviele kV-Leute, den Türsteher passieren würden, wenn das Treffen im Berghain stattfände?
Metulskie (32) antwortete darauf am 12.05.14:
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 toltec-head schrieb daraufhin am 12.05.14:
Darunter den Webmaster, wenn er exakt wie auf seinem Profilbild aussähe. Was er, glaub ich, aber gar nicht tut.
Jack (33) äußerte darauf am 12.05.14:
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