Augenblicke im Leben

Text zum Thema Stimmung

von  unangepasste

An manchen Tagen ist alles zu unklar, zu weit weg. Die Sonne berührt mich nur durch Ritzen in einer Bretterwand. Der Himmel schwebt weit oben. Sommerwolken rasen in die Unendlichkeit. Die Schlange am Bäcker erscheint zu wirr, zu undurchschaubar, ohne Anfang und Ende. Ich stelle mich orientierungslos an einen Platz und merke, wie mehr Menschen kommen und einer nach dem anderen bedient wird, harre Minuten später immer noch da, am falschen Fleck. Die Fliege auf der Haut verjage ich erst nach Sekunden. Die Gespräche der anderen klingen wie ferne Stimmen, Nebengeräusche, Worte, die mich nichts angehen. An diesen Tagen sind meine Sinne getrübt, ich bin zu tief in mir drin, irgendwo, wo ich mich selbst nicht auskenne, irgendwo hinter den Mauern meiner Haut.

Dann, an manchen Tagen, ist alles zu scharf. Die Kälte kriecht in meinen Pulloverärmel, tritt mir mit ihrem frostigen Atem zu nahe. Im Telefonklingeln schwingt ein leiser, vorwurfsvoller Unterton mit, "komm sofort her". Der Schrank streckt seine Tür nach vorne, als wartete er darauf, dem Ellenbogen eins auszuwischen. Die Frau an der Kasse blickt tadelnd, weil ich zu langsam einpacke. Die Gespräche der anderen hallen als abwertende Worte noch lange nach. An diesen Tagen werde ich ganz klein. Die Regentropfen ohrfeigen mich, das Wasser läuft das Gesicht herunter, die Haare kleben an der Haut, und mit eingezogenen Schultern und gesenktem Kopf schleiche ich nach Hause. Ich muss mich ducken, denn die Welt ist zu bedrohlich, zu groß, erschlagend. In solchen Momenten glaube ich, wegrennen zu müssen, tief in mich hinein, zurück hinter die Bunkermauern in den Keller meines Körpers. Und dann ist das Leben wieder zu weit weg.


Anmerkung von unangepasste:

2005

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Kommentare zu diesem Text

BellisParennis (49)
(31.05.14)
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 unangepasste meinte dazu am 31.05.14:
Das mit dem Telefon passiert immer wieder Manchmal ist es aber auch ganz leise, vorzugsweise, wenn man in einem anderen Zimmer staubsaugt.

 Dieter Wal (31.05.14)
Rasende Sommerwolken, ohrfeigende Regentropfen, Peter Ustinov soll, so berichtet er in seinen Memoiren, in England ein Schulzeugnis erhalten haben, in dem sinngemäß stand, er hätte eine lebhafte Fantasie und sei ein guter Schüler, was so bleiben könnte, falls es seinen Lehrern gelingt, seine Fantasie in Zaum zu halten. Es hat den Anschein, als hätten seine Lehrer vollen Erfolg gehabt. Oder auch nicht. Glücklicherweise. Sich im Körper vor einer durch gesteigerte Fantasie bedrohlich erscheinenden Welt zu verbergen, ist eine interessante Vorstellung. Ob sie funktioniert, weiß ich nicht. Funktioniert sie?

Sehr angenehm zu lesen.
BellisParennis (49) antwortete darauf am 31.05.14:
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 Dieter Wal schrieb daraufhin am 31.05.14:
Buhrufe sind von den billigen Plätzen leider nicht gestattet.

 unangepasste äußerte darauf am 31.05.14:
Meine Lehrer hatten auch relativ guten Erfolg im Abtöten der Phantasie, obwohl nicht einmal beabsichtigt. Ist wohl häufig der Nebeneffekt von unserem Schulsystem (das ich streng genommen in der üblichen Form nicht einmal durchlief).

Das Verbergen funktioniert manchmal. Es ist eher ein Abblocken / Abschalten. Man lässt möglichst nichts mehr an sich heran. An anderen Tagen funktioniert es nicht.
Ich wollte jedoch nicht eine durch gesteigerte Phantasie bedrohlich werdende Welt darstellen, sondern wie das Empfinden von der Stimmung abhängt und auch gesteuert werden kann. Offenbar kommt das weniger an.

 Dieter Wal ergänzte dazu am 31.05.14:
Er vermittelt in meinen Augen Hypersensibilität besonders anschaulich. Mir erschloss sich aus dem zweigeteilten Text heraus weniger, dass dort eine aktive Form von Steuerung gemeint ist. Ich verstand es so, dass das Ich entweder extreme Introversion betreibt oder unter hochgespannten Sinneseindrücken zu leiden scheint. Ob und wie sie sich positiv annehmen und damit integrieren ließen, bleibt für mich die Frage.

 unangepasste meinte dazu am 31.05.14:
Das wollte ich auch so beschreiben, aber mit dem Schluss auch das (irgendwie sinnlose) Gegensteuern.

 niemand (31.05.14)
Kann ich voll nachempfinden, aber die beiden Kontraste: "weit weg/scharf" stimmen irgendwie nicht. Entweder "weit weg/zu nah" oder "scharf/verwaschen,verwischt". Ansonsten gut.
LG niemand

 unangepasste meinte dazu am 31.05.14:
Danke. Ich habe jetzt "unklar" eingefügt. Bei "verwaschen" oder "verwischt" hatte ich das Gefühl, dass es nicht zu allem danach Beschriebenen passt. "Unklar" ist in seiner Doppeldeutigkeit umfassender und trotzdem noch Gegensatz von "scharf".
(Antwort korrigiert am 31.05.2014)

 niemand meinte dazu am 31.05.14:
Ja, das ist gut gelöst
LG niemand

 monalisa (01.06.14)
Ich komme gerade von Ravens 'Safety pack' und denke, dass du im ersten Abschnitt einen ganz ähnlichen Zustand beschreibst wie sie in ihrem Gedicht; nur dass es mir hier fassbarer erscheint, mehr dem direkten Empfinden des LI enspricht, dem in einzelnen Bildern nachgeht, diesem ein wenig verloren, von allem 'isoliert' zu sein.
Das Berühren der Sonne durchs Fenster hat mich gleich eine ganze Weile beschäftigt, da wirds ganz schön heiß hinter Scheibe; obwohl sie trennt, 'intensiviert' sie auch. Ich weiß jetzt noch nicht so genau, wie ich da hier unterbringe? Muss noch nachdenken.
Sehr gut unmittelbar und nachvollziehbar finde ich da Anstellen am falschen Platz und die Geschichte mit der Fliege. Dann wird es für meinen Geschmack an manchen Stellen ein bisschen zu 'beschreibend', da erklärst du teilweise etwas, was die LeserIn schon direkt erfahren hat, z.B. 'die das Ohr wegfiltert' ist m.M. nicht von Belang, auch dass die 'Sinne getrübt sind' ...

Dann eine Art Gegenpol, jene Tage, an denen die Haut besonders dünn ist, kleinste Berührungen schmerzen, alles zu laut, zu intensiv, zu schrill erscheint ... und mit negativem Unterton wahrgenommen wird, sich Gegenstände gegen LI verschwören. Sehr gut beschrieben von der Kälte, die in den Pulloverärmel kriecht über den vorwurfsvollen Ton des Telefons, den fallenstellenden Schrank, bis zu den abwertenden Gespächen. Ein besonderes Highlight, die ohrfeigenden Regentropfen.
Vielleicht könnte man auch hier gegen Ende das erklärende 'zu verwirrend sind ...' durch ein direktes Sichtbarmachen der Verwirrung ersetzen, und den Leser selbst zur Erkenntnis gelangen lassen, dass Leben ein Balanceakt zwischen den von dir beschriebenen Extremen ist. Was meinst du?
Es ist dir in weiten Teilen sehr gut gelungen, die LeserIn direkt miterleben zu lassen, so gut, dass ich meine, dass es der erklärenden Passagen nicht bedarf, die die vorhergehenden Bilder eher schwächen, denn bekräftigen.

Liebe Grüße,
mona

 unangepasste meinte dazu am 01.06.14:
Danke für deinen Kommentar! Ich musste beim Safety Pack auch an den ersten Abschnitt denken.
Beim Berühren der Sonne durchs Fenster stellte ich mir eine kühle, weiße Wintersonne vor, die nicht die Kraft hat, den Raum aufzuhitzen. Allerdings hätte ich das wohl verdeutlichen müssen. Daher habe ich die Stelle etwas umgeschrieben.
Über die beschreibenden Passagen schau ich noch mal drüber. Wenn ich sie nur streiche, geht mir zu viel von der Stimmung verloren, aber du hast schon Recht, dass manche Information nicht noch mal explizit erwähnt werden muss, nachdem sie zuvor schon dem Leser gezeigt wurde.

 monalisa meinte dazu am 01.06.14:
Die 'Ritzen in der Bretterwand' finde ich sehr gut. Jetzt ergibt sich ein fühlbares und stimmiges Bild für mich. Auch freue ich mich sehr über deine Reaktion und bin überzeugt, dass du dieses sehr guten Text noch besser ausbauen wirst
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