Das Geschenk

Text

von  blauefrau

Der Geburtstag meiner Patentante Ro stand bevor, und ich wollte ihr etwas schenken. Ich ließ mir eine Glasscheibe zuschneiden, die ich mit schwarzer Farbe bemalte. Aus dieser Farbe kratzte ich mit einer Nadel einen Baum, Blüten, Blätter, einen Vogel, Gräser. Verschlungenen Zweigen fügte ich winzige Zweige hinzu, Blütenblättern feine Blattadern, die sich weiter verästelten. Meine Zuneigung lief die Wege entlang, die die Nadel sich bahnte. Ich war die Nadel. Aus einer schwarzen Fläche hatte ich schließlich einen ziselierten Urwald herausgearbeitet, an mehreren Nachmittagen, in einer Reihe von Stunden. Meine Finger trugen Schwielen, mein Pullover hatte schwarze Flecken, die sich schlecht entfernen ließen. Ich freute mich schon auf ein begeistertes Dankeschön. Damit sich die Muster nicht verwischten, klebte ich noch eine zweite Glasplatte gegen die erste. Dieses Kunstwerk wickelte ich zunächst in Zeitungspapier, damit es bruchsicher verpackt wäre. Darüber schlug ich es in bunt geblümtes Geschenkpapier ein. Meine Tante würde ich an ihrem Geburtstag nicht sehen, daher gab ich mein Geschenk einer weiteren Tante zur Überbringung mit. Von meiner Patentante Ro hörte ich nichts, allerdings sah ich einige Tage später die andere Tante wieder. Sie teilte mir mit, dass mein Geschenk zersplittert sei. Sie habe es auf ihrem Wohnzimmerschrank zwischengelagert. Wie und warum es genau passiert sei, könne sie sich auch nicht erklären. Ich zögerte, wartete,  nickte dann und schwieg. Ab dieser Stunde stellte ich an mir einen unbestimmten Groll fest, der immer tiefer dröhnte, je länger ich über diese Mitteilung nachdachte. Aus dem Groll wurde Zorn, den ich über diese Tante empfand. Es vergingen Jahre, in denen ich über die Achtlosigkeit dieser Tante zürnte, bis ich sie nicht mehr unter dem Aspekt ihrer schwerwiegenden Schuld wahrnahm.

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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (31.05.14)
Also besser: Selbst ist die Frau. LG

 monalisa (01.06.14)
Die Geschichte ist gut nachfühlbar! Und ich denke, dass es eigentlich um etwas anderes geht, als das Delegieren einer Geschenksübergabe. Denn immer wieder wird etwas 'schieflaufen', wird es jemanden geben, der etwas absichtlich oder unabsichtlich 'verbockt'.
Mir scheint ein wesentlicher Aspekt der Umgang mit Enttäuschung und Kommunikation oder besser mangelnde Kommunikation zu sein.
Ich kann mir gut vorstellen, dass im ersten Moment die Worte fehlen, glaube aber, das es wichtig wäre das ganze Ausmaß der Enttäuschung anzusprechen, Gefühle mitzuteilen ... vielleicht in einem ganz bewusst herbeigeführten möglichst zeitnahen Treffen, einer Einladung ... Sich auszusprechen kann helfen, dass sich der Groll erst gar nicht so weit entwickelt, dass Zorn daraus wird und einen bleibenden Misston in der Beziehung erzeugt. Wichtig dabei, nicht beim 'wie konnte das passieren' hängen zu bleiben oder sich in Schuldzuweisungen, 'du bist Schuld, hättest du besser aufgepasst' zu ergehen, sondern Ich-Botschaften zu formulieren: 'Ich bin so maßlos enttäuscht, weil ich einige Nachmittage an Arbeit hineingesteckt und ein unwiederbringliches Stück angefertigt habe ...' Das gäbe auch der Tante, die Chance zu bekunden, wie Leid ihr das Missgeschick tut.

Die Geschichte finde ich gut und klar erzählt. Besonders gefällt mir, wie die 'Zuneigung den Weg entlang lief, den die Nadel bahnte'. Hier wird der eigentliche Wert des Bildes und damit auch die Höhe des Verlustes bestimmt.
Statt 'ich fertigte eine Glasplatte an' wäre vielleicht etwas, wie 'ließ mir zuschneiden ...' realistischer, oder?

Insgesamt mag ich diese kleine Alltagsgeschichte, die zum Nachdenken anregt.

Liebe Grüße,
mona

 blauefrau meinte dazu am 02.06.14:
Danke für Deinen ausführlichen Kommentar.

Im Rahmen eines Workshops ,,Kindergeschichten" habe ich diesen kurzen autobiographischen Text geschrieben. Der Tante tat es damals auch leid. Doch ich konnte als 11/12jährige nicht damit umgehen. So gesehen: schräg (rein)gelaufen, die Kindergeschichte.
(Antwort korrigiert am 03.06.2014)

 EkkehartMittelberg (22.07.14)
In der Nikomachischen Ethik hat Aristoteles ein Kapitel über Schenken und Danken geschrieben.
Meines Wissens hat er den Aspekt, dass beim Überbringen und der Annahme von Geschenken Schuld entstehen kann, nicht behandelt.
Für mich ist dieser Gedanke ganz neu.

LG
Ekki
Mondscheinsonate (39)
(25.07.14)
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 blauefrau antwortete darauf am 25.07.14:
Wie lässt sich derText noch aufpeppen?
Mondscheinsonate (39) schrieb daraufhin am 25.07.14:
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