Wie mein Unterbewusstsein dadaistisch wurde

Text zum Thema Traum/ Träume

von  unangepasste

Manchmal wünschte ich, ich könnte einen Tag noch einmal wie ein Kind erleben. Doch Jahr um Jahr beschleunigt sich das Tempo der Zeit. Nur Träume dehnen heute noch die Stunden, und hin und wieder, wenn ich mich tagsüber aus den Augen verloren habe, versuche ich, mir nachts auf die Spur zu kommen.

Früher litt ich unter Alpträumen. Merkwürdige Gestalten traten aus der Tür der schlechten Träume, einer Stelle in der Wand, die ich so getauft hatte, weil aus ihr Figuren in mein Zimmer kamen, die mir Furcht einflößten. Sie befand sich am Plateau meines Hochbettes, genau dort, wo die Treppe endete. Lehmartige Gestalten schritten die Stufen hinab und stellten sich schweigend in den Raum. An anderen Tagen nutzte der Schokoladenfresser diese Tür, um mit mir in Kontakt zu treten, ein großer, dicker Mann, der mit finsterer Stimme seinen Namen sprach und mir das Gefühl gab, er wollte anstelle von Süßigkeiten lieber mich vertilgen.
Als Kind empfand ich solche Träume als real, da ich in ihnen immer noch dort lag, wo ich mich auch in der Wirklichkeit befand. Erst, als meine Mutter das Bett umstellte und ich nicht mehr auf die Tür der schlechten Träume blicken musste, blieb sie für immer geschlossen, und die Angst wurde schwächer. Doch bis heute habe ich die Angewohnheit beibehalten, ein Stück Decke über die Ohren zu legen, als könnte jeden Augenblick wieder "Ich bin der Schokoladenfresser" vom Fußende ertönen.
Als ich schließlich an einer anderen Stelle im Zimmer schlafen durfte, befand sich in der Wand neben mir die Tür der guten Träume, wie ich sie nannte. Manchmal öffnete sie sich. Ich konnte nie hineingehen, doch ich sprach mit den hellen, durchscheinenden Gestalten, die zu mir kamen, oder kommunizierte mit ihnen per Gedankenübertragung, und blickte in eine nächtliche Welt, die mich mit Geborgenheit und Glück erfüllte.

Gute wie schlechte Träume haben bei Kindern eine andere Dimension und spielen eine ganz entscheidende Rolle im Leben. Dennoch üben auch heute manche Träume noch eine Faszination auf mich aus, und zwar dann, wenn ich merke, dass ich schlafe. Am liebsten stelle ich den Gestalten, denen ich begegne, Fragen. Dies führt bisweilen zu eher belustigenden Situationen, da mein Unterbewusstsein zu dem Trick greift, keinen offensichtlichen Sinn in die Antworten zu legen, und mich verspottet, sobald ich weiter nachhake. Es scheint geradezu, als hätte es gegen meine kritische Betrachtung Einwände und als wollte es nicht in direktem Kontakt zu mir stehen.

Beispiele lassen sich viele finden. So ertönt eine Männerstimme: "Man soll die Verteilung der Gockel auf Fenster und Türen gleichmäßig beachten." Ich verstehe das Wort "Gockel" in dem Zusammenhang nicht, doch als ich nachfrage, ernte ich Erstaunen über meine augenscheinliche Dummheit.
Ein andermal will ich den Grund für meinen ungewöhnlichen Vornamen wissen. "Weil du ein ganzer Ring bist, in der Vergangenheit, in der Zukunft." Aha.
Dann wiederum befinde ich mich auf einer großen Straße. Als ich klares Bewusstsein erlange, versuche ich, mich zu orientieren und nehme die Menschen ins Blickfeld. Einer kleinwüchsigen Person tippe ich schließlich an die Schulter. Ich spreche sie an, aber sie ignoriert mich. Somit wende ich mich an eine ältere Frau neben ihr: "Welche Rolle spiele ich in meiner Familie?" "Freiling", sagt sie und lacht ein wenig. Doch auch sie ist nicht zu weiteren Erklärungen bereit.
Nahezu immer bleibe ich ohne Antworten zurück. Manchmal erfindet mein Gegenüber auch Worte, anstelle sich einer mir nicht zugänglichen Metaphorik zu bedienen.
So öffne ich die Tür eines Ladens oder einer Werkstatt. Dort sitzt mein Chef an einem Schreibtisch. Da ich ihn im realen Leben nicht kenne, frage ich ihn, wer er sei. "Der Debatigkonvertor, der Legenden von den Lenden entwickelt", antwortet er und lacht. Dieses Lachen in den Antworten ist ein typisches Merkmal für die Art der Kommunikation. Ich überlege, ob er "Leben" und nicht "Lenden" meint. Doch auch er lässt mich mit meiner Frage allein zurück.

Während früher Bilder und Geschichten vor mir entstanden, treffe ich heute meist auf eine Grundhaltung der Abwehr. In der Regel fördert klares Bewusstsein unkooperatives Verhalten der Traumumgebung. Dennoch bleibt in solchen Situationen eine Kombination aus Gefühl, Ton und Farbe hängen, die mir Zugang zu einer neuen Welt verschafft.

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Kommentare zu diesem Text


 HerrSonnenschein (08.06.14)
Die Tür der guten Wünsche...

Ich habe einen guten Wunsch: Du schreibst einen Roman mit diesem Titel. Genau zu diesem Thema. Ich kaufe den nicht nur, ich mache dafür Werbung! Was für ein Satz! Was für ein Text!
Weißt du, wann ich das meiste schreibe? Morgens früh, zwischen Sechs und Sieben. Ganz traumnah, da steht die Tür der guten Wünsche noch einen Spalt breit auf...

 unangepasste meinte dazu am 08.06.14:
Würde ich sofort machen, wenn sich ein Verlag dafür interessiert
Ich habe auch gern morgens früh Notizen gemacht, musste aber damit weitgehend aufhören, als ich angefangen habe, in einer der Nachbarstädte zu arbeiten. Ich merke aber auch heute noch, dass Müdigkeit die Kreativität häufig steigert. Für die Überarbeitung muss ich dann allerdings ausgeschlafen sein.

 Dieter Wal antwortete darauf am 08.06.14:
Wen interessieren Verlage? Schreib den Roman! :)

 unangepasste schrieb daraufhin am 08.06.14:
Wer liest den ohne Verlag?

 Dieter Wal äußerte darauf am 08.06.14:
Vielleicht kenne ich zu viele Romane schreibende Taxifahrer. Leute, die Romane schreiben wollen, sollten Romane schreiben. Es nicht zu tun mit Blick auf Verlage, finde ich erstmal Unsinn. Muss leider zugeben, dass ich schon wegen einem solchen Projekt verlassen wurde. Partner sollten dabei möglichst nicht auf der Strecke bleiben.
(Antwort korrigiert am 08.06.2014)
BellisParennis (49) ergänzte dazu am 09.06.14:
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 Dieter Wal meinte dazu am 11.06.14:
Nein.
BellisParennis (49) meinte dazu am 11.06.14:
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 Dieter Wal meinte dazu am 11.06.14:
Zum weisen Sokrates kam einer gelaufen und war voll Aufregung: "Höre, Sokrates, das muss ich dir erzählen, wie dein Freund ..." "Halt ein!", unterbrach ihn der Weise, "hast du das, was du mir sagen willst, durch die drei Siebe gesiebt?" "Drei Siebe?", fragte der andere voll Verwunderung. "Ja, guter Freund. Lass sehen, ob das, was du mir zu sagen hast, durch die drei Siebe hindurchgeht. Das erste Sieb ist die Wahrheit. Hast du alles, was du mir erzählen willst, geprüft, ob es wahr ist?"

"Nein, ich hörte es erzählen und ..."

"Aber sicher hast du es mit dem zweiten Sieb geprüft, es ist das Sieb der Güte. Ist das, was du mir erzählen willst - wenn es schon nicht als wahr erwiesen -, so doch wenigstens gut?"

Zögernd sagte der andere: "Nein, das nicht, im Gegenteil …"

"Hm", unterbrach ihn der Weise, "so lass uns auch das dritte Sieb noch anwenden und lass uns fragen, ob es notwendig ist, mir das zu erzählen, was dich so erregt!"

"Notwendig nun gerade nicht …"

"Also", lächelte der Weise, "wenn das, was du mir erzählen willst, weder wahr noch gut, noch notwendig ist, so laß es begraben sein und belaste dich und mich nicht damit!"

 susidie (08.06.14)
Ein fantasievoller Text, der tief und doch ganz realistisch in die Unergründlichkeit von Träumen eintaucht. Ein Widerspruch, mhm, für mich hier nicht. Faszinierend die Fragen mit den "Nicht-Antworten", die so verwirrend sind in ihrer Klarheit. Schon wieder ein Widerspruch? Mhm, nein, schon wieder nicht. Ich weiß nicht, wie ich es besser erklären kann, der Text rührt mich zutiefst an. Mir fehlt die Definition. Also - ganz und gar dada.
Liebe Grüße von Su :)

 unangepasste meinte dazu am 08.06.14:
Danke, freut mich, dass er dir gefällt!

 Dieter Wal (08.06.14)
Diese Erzählung finde ich klasse. Und den Titel. Sorry, dass ich keinen Verbesserungsvorschlag habe. Absolut keinen.

 unangepasste meinte dazu am 08.06.14:
Danke!

 Dieter Wal meinte dazu am 11.06.14:
"So öffne ich die Tür eines Ladens oder einer Werkstatt. Dort sitzt mein Chef an einem Schreibtisch. Da ich ihn im realen Leben nicht kenne, frage ich ihn, wer er sei. "Der Debatigkonvertor, der Legenden von den Lenden entwickelt", antwortet er und lacht. Dieses Lachen in den Antworten ist ein typisches Merkmal für die Art der Kommunikation. Ich überlege, ob er "Leben" und nicht "Lenden" meint. Doch auch er lässt mich mit meiner Frage allein zurück."

Versuchs mit "Traum und Traumdeutung". Mich hat sein Buch verändert.

 FRP (08.06.14)
Für den Text auch meinen Respekt. Ringela, vermute ich nun ...
In der Tat, kurz nach dem Erwachen ist ein Seelenfenster für einen Spalt und für nicht-mehr-als-ein-Husch! offen, dass uns aus der Kindheit als "Das Nieverschlossene" noch vertraut ist.

 unangepasste meinte dazu am 08.06.14:
Danke. Ja, diesen Spalt kenne ich sehr gut. Auch beim Einschlafen / Dahindösen öffnet er sich manchmal. Interessant wird es, wenn sich das Bewusstsein teilt und einerseits das Erlebte beobachtet, andererseits aber trotzdem die Prozesse weiter laufen, z. B. Erinnerungsfetzen oder Halbtraumbruchstücke für wenige Sekunden aufblitzen.
Teichhüpfer (56)
(08.06.14)
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 unangepasste meinte dazu am 08.06.14:
Ich denke auch, dass man die Fragen im Zusammenhang der Persönlichkeit sehen muss. Vielleicht will das Unterbewusstsein mit dem Anecken und seinem unkooperativen Verhaten auch nur das Verhältnis von eigener Person und Welt darstellen, nur als Beispiel.
Teichhüpfer (56) meinte dazu am 09.06.14:
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