Gewaschen, gekämmt und gekleidet

Gedicht zum Thema Sehnsucht

von  Nachtpoet

Seit ich denken konnte,
lief ich nackt und wild
durch den Wald der Geschichten.
Eines Tages fand ich mich plötzlich
gewaschen, gekämmt und gekleidet
vor dem Spiegel wieder.
Ein Judaslohn,
den ich weder wollte
noch verstand.

Jedes Gedicht ist heute
ein Ruderschlag
Richtung Heimat,
die sich immer weiter
von mir entfernt.

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Kommentare zu diesem Text


 niemand (09.06.14)
Ein sehr interessantes Gedicht, weil es viele Gedanken hervorruft.
Es ist unter "Sehnsucht" gepostet und Sehnsucht ist ein weites Feld,
je nachdem wonach man sich sehnsüchtig verzehrt. Ich lese hier eine Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, nach Ungezähmtheit, nach dem Ur
der Natur, doch kommen mir gleichzeitig Bedenken ob dieses so toll ist, dieses Ur der Natur, oder ob der zivilisierte Mensch sich da nicht allzu romantischen Gefühlen hingibt und alles verklärt, was im Grunde nur tierisch brutal und ungezügelt ist. Die Natur kennt nur das Ich, sein Überleben (inklusive Vermehrung=Bestehen einer Art). Fressen und gefressen werden ist ihr Oberstes. Das was wir heutzutage, grade in unserer Gesellschaft, jedoch Zivilisation/Kultur nennen ist allerdings auch nicht so weit von dem Ur der Natur entfernt, denn auch hier frisst man, oder wird gefressen, wen auch auf subtilere (jedoch kaum bessere) Weise. Wonach sehnt sich also hier das Lyrich, nach mehr persönlicher Freiheit, nach einem nicht angepasst Sein? Zurück zu den Wurzeln? Ich denke, dass da eine Anpassung nur durch eine andere ausgetauscht wäre. Die scheinbaren Freiheiten fern der Zivilisation, im Schoße der Natur sind auch nichts anderes als ein sich Ausliefern
an selbige. Ich lese hier eine ziemlich romantische Sehnsucht nach den natürlichen Wurzeln in sich, wobei mir der Begriff "Heimat" sehr verklärt vorkommt. Gut, was ich lese muss nicht der Intention des
Schreibenden entsprechen, das ist klar
Nur noch eins, was auch immer sich in diesem Gedicht "versteckt"
es ist gut geschrieben. Das Bild als solches passt und die Wortwahl ist gut. Mit herzlichen Grüßen, niemand

 Nachtpoet meinte dazu am 09.06.14:
Hallo niemand,
dass der Text dich so sehr beschäftigt, freut mich sehr! Aber mit der Natur draußen hat dieses Gedicht wenig zu tun. Fast alle Begriffe in diesem Gedicht sind symbolische Andeutungen, vor allem die Überschrift! Wenn du diese Sehnsucht im Text nicht genau definieren kannst, dann bist du schon auf dem richtigen Wege. Denn der logische Zusammenhang eines Textes ist manchmal nur ein kleiner Teil einer Aussage. Vielmehr ziele ich hier auf Gefühle an, die ja auch manchmal irrational oder schwer definierbar erscheinen. Aber ich will kein Rätselraten mit dir spielen und gebe dir mal ein paar Begriffe: Unbeeinflusste Kreativität, Kindheitsträumerei, Spielfreiheit, Zwanglosigkeit ...

Liebe Grüße! Ralf

 susidie (09.06.14)
Ein hervorragender Text, Ralf. Kompliment.
Sich die kreative Freiheit zurückholen bzw. bewahren und fernab des Konventionellen die Worte und Gedanken fließen lassen.
Gefällt mir sehr.
Liebe Grüße von Su :)

 Nachtpoet antwortete darauf am 09.06.14:
Vielen Dank Su! Sehr nett, aber wenn's mal so einfach wäre ...

 monalisa (09.06.14)
Ich lese aus deinen Versen schon auch die Sehnsucht nach dem Ursprünglichen heraus, aber weniger ein 'Zurück zur Natur' als eine Suche nach dem, wer man eigentlich ist. Dieses 'gewaschen, gekämmt und gekleidet' drückt für mich etwas wie 'zurechtgebogen und gesellschaftsfähig gemacht' aus, das gleichzeitig von den eigenen Wurzeln, Bedürfnissen und Zielen entfernt, das die eigene unverwechselbare Stimme mit vielen Lagen geblümten und aufgemascherlten Stoffs erstickt.
Mit 'Judaslohn' meinst du wohl den 'Verrat an sich selbst', wenn dem so ist, finde ich es schon ziemlich hart, besonders da LI ihn ja nicht einmal wollte. - Es ist schwierig, sich ganz ohne Lendenschurz durch unsere Gesellschaft zu lawieren!
Interessant finde ich auch den Blick in den Spiegel, der etwas von der persönlichen Eitelkeit verrät und vielleicht liegt da ja der Hase im Pfeffer, ist es die Eitelkeit, das 'mehr, besser, tüchtiger ... scheinen wollen', das LI verdirbt und sich selbst entfremdet.

Wie gut, dass es zum Ausgleich den Ruderschlag der Gedichte gibt, die wenigstens ein weitres Fortschreiten dieser Tendenz verhindern und Wahrhaftigkeit und Fantasie(mit einem modernen Wort: Authentizität) einbringen. In diesem Sinn verstehe ich auch Heimat als das ursprüngliche, unverbildete, authentische Ich.

Gefällt mir, Ralf!
Liebe Grüße,
mona
(Kommentar korrigiert am 09.06.2014)

 Nachtpoet schrieb daraufhin am 09.06.14:
Und mir gefällt dein äußerst treffender Kommentar! Du hast den Text sehr richtig verstanden. Da ist kaum etwas hinzuzufügen.

"Interessant finde ich auch den Blick in den Spiegel, der etwas von der persönlichen Eitelkeit verrät und vielleicht liegt da ja der Hase im Pfeffer, ist es die Eitelkeit, das 'mehr, besser, tüchtiger ... scheinen wollen', das LI verdirbt und sich selbst entfremdet."

Diese Sichtweise gefällt mir, ich würde sagen, es ist eine auf­ok­t­ro­y­ie­rte Eitelkeit, die mit der Erpressung einhergeht einsam zu werden, würde man der Eitelkeit nicht mehr nachgehen. Man wäre dann zu unkoventionell, nicht gesellschaftsfähig und für eine mögliche Partnersuche wohl aus dem Rennen.

Ich danke dir herzlich für deine Empfehlung und deine Gedanken, die mich froh stimmen, weil ich weiß, dass ich verstanden worden bin. Was ja im Umgekehrten noch etwas Anstrengung meinerseits erfordert.

Liebe Grüße! Ralf

 EkkehartMittelberg (09.06.14)
Kann man der hervorragenden Interpretation von Mona Lisa überhaupt noch etwas hinzufügen. Ich will es mal versuchen:
Mir scheint, das LyrIch hat mit dem Blick in den Spiegel den Sündenfall des Bewusstseins getan und die Anmut der Naivität im Paradies verloren.
Obwohl Schiller meinte, es gäbe einen Weg zurück von Arkadien nach Elysium durch Läuterung des Bewusstseins, sehe ich wie das LyrIch das Geschehene als irreversibel.
Man will in Gedichten das Verlorene zurückholen, kann seine Entwicklung durch zersetzende Reflexion aber nicht aufhalten.

Ein starkes Gedicht, Ralf

Liebe Grüße
Ekki

 Nachtpoet äußerte darauf am 10.06.14:
Ich danke dir vielmals Ekki und deine Kommentarzugabe hat es wirklich noch ergänzt. Was das Bewustsein angeht, so sprach Joseph Beuys z.B. von einem gewissen Nullpunkt zu den man wieder zurückkehren müsse, um von da an wieder ganz neue Wege des Denkens und Fühlens in punkto Kreativität zu gehen. Da man aber eben mit Erfahrungen behindert ist, geht das nicht ohne eine Art Meditation. Sicher gibt es nicht den absoluten Nullpunkt, aber man kann sich ja mal bemühen.

LG Ralf
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