Entfliehen und siegen

Erzählung zum Thema Kinder/ Kindheit

von  Seelensprache

„Was liest du da?“ Unsicher huschen Blicke über einen Bücherrand und schauen in große
Augen,  um  gleich  darauf  wieder  hinter  Seiten  voller  Druckerschwärze  zu  landen.  Gerade
noch  hatte  er  von  diesem  jungen  Mädchen  gelesen,  das  ganz  alleine  auf  einer  Insel  von
einem Wolfsrudel umgeben war. Nun war er selbst dies Mädchen und ein pausbäckiger Wolf
mit großen blauen Augen schaute ihn fragend an. Noch einmal reckte er den Kopf, zog die
Brauen hoch und erschrak erneut. Sie war noch immer dort und schaute ihn unbeirrt an.
„Kannst  du  nicht  sprechen?“,  fragte  das  Mädchen,  nachdem  sie  eine  Weile  schweigend
einander gegenüber waren. Torben schüttelte den Kopf. Nervös trampelte er auf das Gras
unter seinen Füßen. Er spürte, wie sein Herz schneller schlug. Sein Blick blieb nun starr auf
die geöffneten Buchseiten gerichtet und hoffte, das Mädchen möge verschwinden. Als sie
schließlich  weiterging,  atmete  Torben  erleichtert  auf  und  suchte  die  Stelle,  wo  er  zuletzt
gewesen war. Da, als er sie gerade wiedergefunden hatte, blickte verschmitzt das Gesicht
des  jungen  Mädchens  von  hinten  über  seine  Schulter.  Torben,  der  nicht  damit  gerechnet
hatte, ließ das Buch fallen und riss vor Schreck die Augen weit auf. Das Mädchen kicherte.
„Willst  du  es  nicht  wieder  aufheben?“,  fragte  sie.  Dann  setzte  sie  sich  neben  den
schweigenden Jungen, der bislang noch kein einziges Wort zu ihr gesprochen hatte. Sie legte
die Beine übereinander, summte eine fröhliche Melodie, nahm einen Grashalm und kaute
darauf herum. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete Torben, wie Sie neugierig umher
schaute, als gebe es dort eine Menge zu sehen. Es war ein warmer Tag und alles lag in der
schönsten  Graderobe  eines  bunten  Frühlings.  Die  Rücken  zweier  Kinder  lehnten  an  den
breiten Schultern einer dicken Eiche, die einen geräumigen Schatten spendete. Torben, eines
jener Kinder, hob das Buch vom Boden auf und wischte über die Seiten, als habe man etwas
darüber ausgeschüttet. „Entschuldigung“, sagte das Mädchen. „Ich wollte nicht, dass du dein
Buch  fallen  lässt.“  Torben nickte.  „Zeig  mal“,  sagte  sie  und  Torben  hielt  ihr  das  Buch hin,
damit sie einen Blick darauf werfen konnte. Sie drehte es, um den Einband zu sehen. Darauf
abgebildet war ein Indianermädchen, das alleine in einem Boot saß. Im Hintergrund war eine
Insel und im Wasser, um das Boot herum und dahinter, sprangen blaue Delfine. „Insel der
blauen Delfine“, las das Mädchen langsam und betonte dabei jeden einzelnen Buchstaben
so, als ob es ihr an Übung mangelte. Torben nickte wieder. „Ich war auch schon einmal an
einem solchen See“, sagte das Mädchen. Torben wusste, dass es kein See war, sondern ein
Ozean, aber er schwieg. „Kennst du den Bodensee?“, fragte das Mädchen. Torben schüttelte
den Kopf. Davon hatte er noch nie gehört. „Er ist riesengroß. Man kann von dem einen Ende
nicht  bis  an  das  andere  schauen.  Papa  sagt,  dass  es  dort  sogar  eine  Schlucht  gibt  in  der
früher einmal Piraten schmuggelten“. Torben war noch nie an einem See oder gar am Meer
gewesen und einen Vater hatte er auch nicht.  „Manche Jungen haben eben keine Väter“,
hatten ihm seine Großeltern gesagt, als er einmal nachfragte. Seine Großeltern kümmerten
sich um ihn. Manchmal, alle paar Wochen einmal, da besuchten sie seine Mutter.  „Deine
Mutter ist nicht ganz dicht im Kopf“, hatten ihm seine Großeltern erklärt. Er verstand nicht,
was  sie  damit  meinten  und  auch  nicht  die  anderen  Wörter,  die  sie  benutzten  um  sie  zu
beschreiben.  Eine  Irre,  Bekloppte,  Wahnsinnige.  Das  alles  waren  Wörter,  die  nicht  nett klangen  und  wahrscheinlich  auch  nicht  so  gemeint  waren.  So  etwas  blieb  natürlich  nicht
geheim und  sie hatten  ihn  oft  damit  gehänselt,  die  älteren  Jungen  im Ort.  Manchmal, da
verzerrten sie ihre Gesichter, wie die einer Verrückten, drehten die Augen nach oben und
ließen  die  Zungen  aus  ihren  Mündern  fallen.  Sie  lachten  dabei  schrill  oder  stießen
merkwürdige, unverständliche Laute aus. „Deine Mutter sitzt in der Klapse“, hatten sie ihm
nachgerufen und obwohl er nicht verstand, was das bedeutete, waren ihm die Tränen in die
Augen getreten. Obwohl er sich immer sehr darauf freute, seine Mutter zu sehen, war der
Ort,  an  dem  er  sie  traf,  kein  schöner  Anblick.  Es  waren  farblose  Gebäude,  die  man,  wie
Kieselsteine,  dicht  aneinander  gesetzt  hatte,  grau  in  grau,  als  ob  man  sich  ihrer  nicht
erfreuen  sollte.  Sie  hatte  ihm  erklärt,  dass  dieser  Ort,  ihr  Zuhause,  sowas  wie  ein
Krankenhaus sei. „Aber welche Krankheit hast du denn?“, hatte Torben sie gefragt. Denn alle
Krankheiten, die er kannte, gingen einmal vorüber, so wie der Schnupfen, Bauchschmerzen
oder  Kopfweh.  Sie  hatte  sich  abgewandt  und  ihn  ratlos  stehen  lassen.  Torben  fragte  nie
wieder.
So oft er nur konnte, kam er hierher, an das kleine Waldstück, setzte sich unter einen der
vielen Bäume und las. Er liebte die  Streiche eines Michel aus Lönneberga und einer Pippi
Langstrumpf, fieberte mit, bei den Abenteuern der Fünf Freude, der Drei ??? oder von TKKG
– Tim, Karl, Klößchen und Gabi. Diese Geschichten nahmen in gefangen. Sie fesselten seine
Sinne, zogen ihn wie einen Magneten hinein, in eine andere Welt und nahmen ihn mit auf
eine Reise. Wenn er eines seiner Bücher öffnete, dann las er nicht nur Buchstaben, sah nicht
nur  tintenschwarze  Zeichen.  In  seinem  Kopf,  da  sah  er  was  beschrieben  war,  hörte  was
gesprochen  wurde,  er  roch  und  fühlte.  Dann  saß  er  gemeinsam  mit  Michel  in  der
Wurstkammer in Lönnerberga oder hüpfte im Hopserlauf mit Pippilotta Viktualia Rollgardina
Pfefferminz  Efraimstochter  Langstrumpf  um  die  Villa  Kunterbunt  und  lachte  über  die
gemeinsamen  Streiche.  Dann  war  er  verrückt  und  abenteuerlustig,  erkundete,  befreite,
kämpfte und besiegte.
Das unbekannte Mädchen an seiner Seite war einen Moment lang in Gedanken versunken,
als es dann plötzlich aufsprang und rief: „Vorsicht Piraten!“ Sie schrie es so laut und deutlich,
dass  Torben  zusammenzuckte.  „Siehst  du  sie  denn  nicht?  Schnell,  wir  müssen  uns
verstecken!“ Noch ehe Torben verstand wie ihm geschah, packte sie ihn an einer Hand und
zog ihn hinter sich her. Sie rannten ein paar Bäume weiter, dann zog ihn das Mädchen hinter
einen dicken Baum. „Psssssst“, flüsterte sie. Sie dürfen uns nicht hören. Sie zogen ihre Köpfe
ein  und  kauerten  sich  hinter  dem  dicken  Stamm  zusammen.  Torben  schnaufte  heftig.  Er
nickte. Zögerlich drehte er sich und schaute mit einem Auge am Baumstamm vorbei, dorthin
wo sie gerade noch gesessen hatten. Es war unfassbar. Dort, wo er Augenblicke zuvor noch
in sein Buch vertieft gewesen war, lag nun ein feiner Sandstrand und davor schlugen Wellen
ans  Ufer.  Torben  schluckte.  Aus  der  Brandung  heraus  marschierten  dunkle  Gestalten  mit
langen  Bärten  und  finsteren  Mienen.  Dahinter  schwankte  auf  dem  Wasser  ein  großes,
bedrohliches Schiff mit riesigen Segeln und einer düsteren, schwarzen Totenkopfflagge. Die
Piraten trugen schwere Waffen, die metallisch klirrten, wenn sie sich bewegten. „Siehst du
sie?“, flüsterte das Mädchen. Torben nickte. „Was sollen wir machen?“, fragte  sie. Torben spürte  ihre  Aufregung.  Sie  sah  bekümmert  aus  und  zugleich  blitzte  die  Vorahnung  eines
Abenteuers in ihren Augen. Torben überlegte fieberhaft. Er erinnerte sich an das Mädchen
aus  seinem  Buch. Es  hatte  seinen  ganzen  Stamm  verloren,  alle  waren getötet  worden.  Es
hatte für sich gesorgt und auch den Wölfen getrotzt. Torben sah noch einmal zurück. Schritt
um Schritt kamen die finsteren Gestalten immer näher und hatten bald das Ufer erreicht. Er
sah die gierigen Fratzen mit den gelben Zähnen, die Augenklappen, das Glitzern der Säbel in
der sengenden Sonne. Torben lies sich auf seine Hände fallen und robbte auf dem Gras, bis
er einen großen Stock erreichte. Das Mädchen  zögerte einen Augenblick, tat es ihm dann
aber nach. Torben reichte ihr den Ast und suchte sich selbst auch einen. Als er einen fand,
der ihm groß und mächtig genug erschien, lächelte er. Das Mädchen verstand „Sehr gute
Idee! Schwerter!“. Torben nickte. Dann sprang er auf und lief los. Er rannte, so schnell er
konnte, sprang über Äste und stolperte fast. Er reckte sein Schwert in die Höhe und als er sie
erreichte, da schrie er so laut, dass die Piraten eine Furcht ereilte, die ihnen durch Mark und
Gebein  ging.  Erschrocken  ließen  sie  ihre  Schwerter  fallen  und  rannten  zurück  in  die
Brandung, der sie entstiegen waren. Torben ließ nicht ab. Er kämpfte und schlug. Er drehte
sich,  hüpfte,  hieb  und  stich  und  brachte  einen  nach  dem  anderen  zu  Fall.  Dies  war  sein
Kampf, dies war seine Schlacht. Diesmal würde man ihn nicht besiegen. Das Mädchen war
schon kurz darauf bei ihm. Auch sie kämpfte wie eine Löwin. Seite an Seite schubsten sie sich
die Gegner zu, traten ihnen in den Hintern und lachten darüber, wie sie erschrocken von
dannen rannten. Sie hatten gesiegt. Sie hatten wirklich gesiegt! Erschöpft ließen sie sich in
den  warmen  Sand  fallen.  Schon  kurz  darauf  sahen  sie,  wie das  Schiff den  Anker  hob  und
davon segelte.   
Torben  strahlte  über  das  ganze  Gesicht.  Noch  nie  hatte  er  sich  so  glücklich  gefühlt.  Das
Mädchen  trat  auf  ihn  zu,  gab  ihm  einen  Kuss  auf  die  Wange  und  sagte:    „Ich  mag  dich“.
Torben errötete. Dann legte das Mädchen ihren Kopf auf seine Schulter. Torben saß dort,
wusste  nicht  wie  ihm  geschah  und  lächelte.  „Magst  du  mir  etwas  vorlesen?“,  fragte  sie.
Torben nickte und las.

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