Teil 20

Roman

von  AnastasiaCeléste

Ave hatte bereits mehrere dutzend Menschen verschont und sie stattdessen über Corvins Pläne aufgeklärt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sein Boss von seiner Unternehmung Wind bekam.
Tag für Tag spürte er sich weiter oben auf dessen Abschussliste. Aber noch vielmehr stellte es ihm die Nackenhaare auf, dass er sich gerade einer unausweichlichen Prozedur näherte.
Corvin hatte für diesen Tag das Chippen seines Personals angeordnet. Es gab kein Zurück mehr. Ave fühlte die Geschwindigkeit des Fahrstuhls, der ihn auf  die Boss-Etage bringen sollte, in seiner Magengegend. Er beobachtete die steigenden Zahlen auf dem Display, welches das aktuelle Stockwerk meldete. Der direkte Weg in die Hölle, der in diesem Fall jedoch trügerisch in die Höhe führte.
Als er in den langen Flur trat, der zu Corvins Gemächern führte, erwischte er einen seiner Wachleute dabei, sich den Nacken zu reiben. Sein Gesichtsausdruck ließ sofort erkennen, dass ihm diese Aktion gehörig gegen den Strich gegangen war.
Ave seufzte kurz, ließ sich seinen Unmut aber nicht weiter anmerken, als er an Ihnen vorbeimarschierte und den kleinen Nebenraum betrat, der heute als Schlachtbank diente.
Ein wenig überrascht über Corvins Anwesenheit, konnte er nun dabei zusehen, wie ein weiterer Gorilla gerade von einem älteren Herrn auf den Stuhl vor ihm gebeten wurde. Ave begutachtete seinen Laborkittel, der ihm ein wenig zu groß war, für seine hagere Statur.
War dies etwa der Mensch, der diese tödlichen Chips entwickelt hatte, unter Corvins Aufsicht?
Mit geübter Hand präparierte der Mann eine dicke Kanüle mit einem dieser winzigen Chips. Er legte das Spritzenartige Etwas zurück auf das Tablett, auf dem er einiges Besteck bereitgelegt hatte. Routiniert desinfizierte er die Stelle im Nacken des Türstehers, an dem das kleine Gerät platziert werden sollte. Kaum zwei Sekunden später, war es getan. Ein weiterer Mensch verlor sein letztes bisschen Würde und Freiheit, wenn von dieser vorher überhaupt noch etwas übrig war.
Als Corvin Aves Namen nannte, schien sich das Raum-Zeit Gefüge langsam aufzulösen. Er ging auf den Höllenstuhl zu und nahm Platz. Das ganze Geschen schien sich zu verlangsamen. Ave fühlte sich als würde er diese bizarre Szenerie von Außen, von einen anderen Standpunkt aus betrachten. Fast so wie viele Menschen Nahtod Erfahrungen schildern. Losgelöst von ihrem eigenen Körper, schienen Sie sie sich selbst und das Umfeld aus einer anderen Perspektive zu beobachten. Ave vernahm metallische Geräusche hinter seinem Rücken. Eine Situation, die ihm mehr als missfiel. Er war es gewohnt die Kontrolle über seine Situation zu haben. Wusste immer was um ihn herum vorging. Doch hier zu sitzen und zu wissen was auf ihn zukommt, ohne etwas dagegen tun zu können, machte ihn nervös.
Der dürre Professor strich sein Haar aus dem Nacken und im nächsten Moment kitzelte ihn eine kühle Flüssigkeit auf der Haut.
Aves Hände verkrampften sich leicht um die ledernen Armlehnen, in Erwartung eines stechenden Schmerzes, der nur einen Augenblick später tatsächlich folgte. Im Augenwinkel vernahm er Corvins süffisantes Lächeln. Es kostete ihn alle Kraft, nicht aufzuspringen und wild zu wüten. Das unangenehme Gefühl der Kanüle, die sich scheinbar immer tiefer unter seine Haut schob, lenkte ihn ab. Nur einen weiteren Moment später ging ein kurzer Signalton durch den Raum, ausgehend von einem kleinen Gerät, dass die Funktionalität und Daten dieses kleinen Parasiten in Aves Nacken bestätigte. „Fertig!“ murmelte der Mann mit dem Kittel hinter ihm und bedeutete ihm so, den Stuhl für den nächsten Kandidaten zu räumen.
Ave stand auf. Er fühlte sich in diesem Moment sonderbar fern von allem, wie unter einer Glasglocke. Er suchte Corvins Blick und nickte ihm kurz zu. Er wartete Corvins Reaktion ab und bekam etwas verzögert das erlösende Nicken seinerseits, dass Ave bis auf weiteres entließ.
Ave war extrem aufgewühlt. Er fühlte sich, als würde er einem Amoklauf und gleichzeitig dem eigenen Zusammenbruch nahe sein.
Er wollte nur noch raus, für sich sein, doch der schier endlose Weg durch den Flur kam ihm vor, wie eine Tortur.
Das Neonlicht verklärte seinen Blick und die starren Gorillas vor Corvins Gemächern reizten ihn, durch ihre bloße Anwesenheit.
Ohne Umwege nahm Ave den Fahrstuhl in die Tiefgarage, wo er am Steuer seines treuen Oldtimers Ruhe suchte. Doch die erhoffte Ruhe kehrte nicht ein.
Ruppig ließ er das Fahrzeug an und lenkte den alten Chevy mit quietschenden Reifen zur Ausfahrt der Garage.
Planlos fuhr Ave durch die Stadt. Ein Zustand der ihm fremd war. Er liebte die Kontrolle und ein genaues und strukturiertes Handeln. Er konnte nicht einmal genau definieren was es war, dass ihn so aus der Bahn warf. Dass er diesen Chip bekommen würde, darauf hatte er sich schon längst eingestellt. Aber jetzt, da er ihn trug, fühlte er sich elender als je zuvor. Jegliche Chance auf Veränderung schien ihm nun dahin zu sein. Jeder Anstoß einer Revolution, war sinnlos.
Er fuhr wirr durch die Stadt, vorbei an etlichen Wachposten und Durchgangssperren. An einer der äußeren Durchgangssperren wurde er aufgehalten. Er befand sich am Rand der Stadt.
Zwar kannten die Wachen Ave, hatten aber die strenge Auflage jeden Menschen auf einen Chip zu prüfen.
Jedoch waren es nicht mehr viele Menschen, die hierherkamen. Es war mittlerweile unmöglich die Stadt ohne einen Chip zu verlassen. Und selbst unter denjenigen, die einen Chip trugen, war es nur einigen wenigen gegönnt, die in irgendeiner Weise für Corvin arbeiteten und zum Beispiel als Handelsschnittstelle für den Import und Export zuständig waren.
Nach einem kurzen scannen des Chips konnte er den Posten passieren und die Stadt hinter sich lassen.
Außerhalb der Stadt hatte er sein Tempo gedrosselt. Vororte zogen langsam an ihm vorbei. Menschen sah er hier draußen kaum.
Nach knapp zwanzig Minuten hielt er vor einem Haus, das an der linken Seite einem Brand zum Opfer gefallen war.
Ave ließ noch eine Weile den Motor laufen und betrachtete das Haus ausdruckslos durch die Windschutzscheibe.
Es war einmal ein sehr schönes Haus. Es war groß und mit einer weißen Vertäfelung.  Es hatte zwei Stockwerke mit großen Fenstern, von denen das eine oder andere nicht mehr heile war. Hinter den Fenstern sah man nichts außer Dunkelheit. Der Vorgarten verdiente seinen Namen nicht mehr und der Briefkasten lag zerbeult neben seinem Pfosten. Alles schien verlassen zu sein, genauso wie die Nachbarhäuser, die ebenso traurig und still auf Ihren Grundstücken standen.
Ave kontrollierte seine Waffen, bevor er den grollenden Motor zum Schweigen brachte.
Langsam stieg er aus und sah sich um. In dieser Gegend würde er wenig zu befürchten haben. Dennoch ging er lautlos um das Haus herum und warf einen vorsichtigen Blick durch die Terrassentür ins Innere.
Alles schien ruhig. Erst nach ein paar Minuten entspannte sich Ave, als er wirklich sicher war, dass sich niemand in diesem Haus befand.
Er ließ sich auf einem verwitterten Gartenstuhl nieder und ließ den Blick durch den einst hübschen Garten schweifen.
Den Rasen hatte hier schon seit etlichen Jahren niemand mehr gemäht. Wild und ungepflegt wuchs er kreuz und quer. Das Unkraut vermehrte sich, bahnte sich seinen Weg durch die ehemaligen Blumenbeete und die Holzplanken der Terrasse.
Vereinzelt blühten einige Sträucher und niedrigere Blumen in Gelb und Rot.
Den Pool am hinteren Ende des Gartens konnte man kaum noch als Solchen erkennen. Vielmehr hatte er Ähnlichkeit mit einem Teich, mit seinem trüben, dunklen braun-grünem Wasser, dass niemanden mehr zum Schwimmen einlud.  Algen und vereinzelte kleine Pflanzen hatten sich über die gesamte Fläche ausgebreitet und boten einen perfekten Lebensraum für kleine Wassertiere, wie Insekten und Frösche.
Die hohen Laubbäume, die das Grundstück umgaben raschelten leise vor sich hin.
Ave schloss für einen Moment die Augen. In seinen Erinnerungen tauchten Bilder dieses Gartens auf, aus einer anderen Zeit.  Aus einer vergangenen Zeit, in dem der Rasen saftig grün und kurz war, wie ein Teppich. Unkraut suchte man vergebens. Und alles war erfüllt von dem Duft der unterschiedlichsten Blüten, die den Garten zu dieser Jahreszeit zu Hauf schmückten. Er erinnerte sich auch an das klare Blau des Pools, dass das Licht der Sonne am Grund spiegelte und kleine Regenbögen erzeugte.
Als er die Augen wieder öffnete, waren die Farben und Gerüche seiner Erinnerungen wieder dem wilden Wuchs des Zerfalls gewichen. Und trotz allem, mochte Ave diesen Platz noch immer. Es war ein schmaler grad zwischen glücklichen und traurigen Erinnerungen. Das Haus hinter ihm war Jenes, in dem er zusammen mit seinem Bruder aufgewachsen war.
In diesem Garten hatte er mit seinen Eltern die schönste Sommerzeit verbracht.
Er hätte alles dafür gegeben, noch einmal so einen Tag zu erleben. Zurück in die Kindheit, ohne jegliche Sorgen. Stattdessen blieb der bittere Gedanke daran, dass seine Eltern zu früh den Tod fanden, weil ein paar Halbstarke sich beweisen mussten.
Nur ein paar Monate nachdem die Regierung zerschlagen und das Chaos ausgebrochen war, wurde Ave und Ashers Eltern in der Nähe eines noch halbwegs intakten Supermarktes überfallen. Keinen Kilometer von ihrem Zuhause entfernt wurden sie von einer Bande ausgenommen, erst schwer verletzt und letztlich erschossen, wie Vieh.
Zu diesem Zeitpunkt lebte Ave schon in der Stadt, Asher noch zu Hause. Es vergingen mehr als vierundzwanzig Stunden, bis Ave den schockierenden Anruf von seinem Bruder bekam.
Bekannte der Familie, hatten das Ehepaar gefunden und Asher informiert.
Für die beiden Brüder war dies der Anfang vom Ende. Ave holte seinen Bruder zu sich in die Stadt, was er mittlerweile mehr als bereute. Hätte er in die Zukunft sehen können, so hätte er gewusst, dass es das Beste gewesen wäre, sich so weit wie möglich von den Städten fernzuhalten. Andererseits war man nirgends mehr sicher. Weder auf dem Land noch in der Stadt, außer dass man sich auf dem Land noch etwas freier bewegen konnte.
Nach dem Tod der Eltern war es für Corvin so einfach gewesen, Ave an den Haken zu bekommen. Corvin suchte zu der Zeit nach gut ausgebildeten Männern, die Loyalität kannten, und bereit waren zu kämpfen. Er hörte über ein paar Ecken von diesem jungen, vielversprechenden Mann, der ein paar Jahre bei der Army gedient hatte. Nur sechs Wochen später führte Ave den ersten Auftrag für ihn aus. Geködert mit Versprechungen, die Sicherheit und gewisse Vorzüge beinhalteten.
Ave hatte kein Zeitgefühl mehr als er dort saß, völlig ruhig, wenn auch wachsam. Er stellte sich vor, wie es gewesen wäre, wenn er zurückgekommen wäre in dieses Haus. Fernab von der Stadt. Hätten Sie hier eine bessere Zukunft gehabt? Ave kannte die Antwort auf seine eigene Frage. Sehr wahrscheinlich wäre ihr Leben hier anders und vor allem besser verlaufen.
Auch hier draußen in den Vororten hätten sie einige Schlachten schlagen müssen, gegen Plünderer und anderen Menschen, mit bösartigen Absichten. Aber im Moment befand Ave, dass dies das geringere Übel zu einem Leben in der Stadt gewesen wäre. Er wäre nie so tief in den Abgrund geraten, wenn er hier geblieben wäre.
Doch die Vergangenheit ließ sich nicht mehr ändern. Er dachte an diese kleine Bombe in seinem Nacken. Noch hätte er versuchen können, diesen Parasiten wieder loszuwerden, so wie Cat. Aber er durfte es  nicht. In seiner Position mit dieser Nähe zu Corvin, war es zu riskant und im Grunde unmöglich sich ohne einen Chip zu bewegen. Er wäre bei der nächsten Kontrolle an einer Straßensperre aufgeflogen. An die Konsequenzen wollte er gar nicht so genau denken. Es war ein Teufelskreis, der keine Grenzen kannte.
Nach ungefähr einer Stunde, vielleicht waren es auch zwei, verließ Ave seinen Terassenplatz und ging zurück zu seinem Wagen, vorbei an der geschwärzten Fassade der linken Außenwand des Hauses. Zwar hatte dieser Brand, der wahrscheinlich aus purer Zerstörungswut entstanden war, das Haus nicht erheblich zerstört, aber der Anblick schmerzte ihn dennoch. Das Feuer hatte sich bis zur Hälfte des ehemaligen Gästezimmers gefressen und wurde dann vermutlich von Nachbarn gelöscht, die jetzt schon lange nicht mehr hier lebten.
Seit dem Tod der Eltern war er nur noch zwei Mal in Inneren des Hauses gewesen. Einmal als er Asher mit seinen wichtigsten Sachen abholte. Und ein weiteres Mal, um die letzten verbliebenen persönlichen Gegenstände einzusammeln.
Wenn man durch die Fenster sah, konnte man deutlich sehen, dass der ein oder andere auf der Suche nach Zuflucht oder Lebensmitteln in dem Haus verweilt hatte. Ein paar Gegenstände waren umgestoßen, Beistelltische umgekippt. An einigen Stellen lag Papier jeglicher Art auf dem Fußboden zerstreut.
Der Zustand seines Elternhauses betrübte ihn. Aber es machte einfach keinen Sinn es bis auf weiteres zu Pflegen. Wahrscheinlicher war es, dass er und Asher von diesem Kontinent flüchten müssen, als jemals wieder dieses Haus zu beziehen. Es gab einfach wichtigere Dinge um die er sich zu kümmern hatte.

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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (13.07.14)
Es ist sehr gelungen, dass Ave, als er durch den Chip endgültig(?) seine Freiheit verliert, an seine unbeschwerte Jugend denkt, in der sein jetziges Leben noch so fern, ja, undenkbar war.

Die Beschreibung des Hauses bzw. dessen Verfall ist eine gelungene Metapher auf das Leben deiner Protagonisten und sogar der ganzen Umwelt.
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