Unbegrenzter Kraftstoff aus einer Minute

Anekdote zum Thema Chancen

von  Nachtpoet

Viele Verletzungen habe ich schon in meinem Leben erlitten. Die meisten sind verheilt. Aber da ist noch immer ein Splitter im Fleisch, der nicht rausgeht, so sehr ich es auch versuche. Eigentlich ist es ein ganz banaler Splitter, der aber zu tief sitzt, als dass ich an ihn ran käme.

Mit ihren dünnen, braunen Armen streute sie Pfennige wie Samen auf die Theke von MacDonalds. So als ob sie hoffte, diese würden noch zu Markstücken, mit denen sie ein Essen bezahlen konnte. Ich weiß nicht genau ob sie auf Drogen war, aber bestimmt. Sie wirkte völlig apathisch und hatte wohl keine Ahnung wieviel Geld das war und ob man dafür was kriegt. Sie war vielleicht 17 oder 18. Ihre langen, glatten Haare hingen ihr vor dem Gesicht und sie flüsterte fast, als sie die Kassierin fragte. Diese schüttelte nur den Kopf, meinte sowas wie: "Nein, das reicht nicht." und schickte das Mädchen weg, die mit immer wieder der gleichen Frage die Nachfolgenden aufhielt. Ich war direkt hinter ihr. Die Bedienung unterbrach mich beim Hinterherschschauen der Kleinen, die weiterhin apathisch wie ein Roboter zum Ausgang tapste. Was ich bekäme? Ich hatte es vergessen und bestellte irgendwas, setzte mich, aß und beobachtete die Leute in Berlin.

Abends im Hotelzimmer schlug ich mit Fäusten immer wieder auf das Bett und dachte: Du hättest ihr was bestellen können oder ihr einfach 5 Mark geben können. Das wäre ja wirklich nicht zuviel gewesen. Auch wenn sie dich am nächsten Tag wahrscheinlich schon vergessen hätte, das würde ja wirklich keine Rolle spielen, auch wenn du ihr Leben nicht  hättest retten können, aber diesen Tag hättest du ihr wenigstens retten können!

Viel später wurde mir erst klar, dass dieses Mädchen mir eine wichtige Lektion erteilt hat. Ich kann diese Sache nie wieder gutmachen und das wurmt mich jetzt schon jahrzehtelang! Ich kann es auch mit anderen guten Taten nicht wieder auslösen. Dieser Splitter im Fleisch - auch wenn es im Vergleich zu anderen Dramen eher harmlos erscheinen mag - lässt mich immer an das apathische Mädchen erinnern, wenn ein mir  fremder Mensch augenscheinlich Hilfe braucht. Mein Schritt ist jetzt vor und nicht rückwärts. Ein richtiges Happy End ist es aber trotzdem nicht, denn der Splitter bleibt, bleibt für immer. Er ist der Motor, der seinen immerwährenden Kraftstoff aus dieser einen Minute in Berlin bezieht.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 franky (25.07.14)
Hallo Nachtpoet,

Das ist eine Geschichte die auch in mir einen Splitter zurückläßt. Wir sollten bei solchen Situationen viel spontaner handeln.

Gerne bei dir gelesen.

L-G Franky

 Nachtpoet meinte dazu am 25.07.14:
Ja Franky, aber wenn die Situation da ist, muss man meistens eigentlich schnell zu einem Termin. Man zögert eigentlich immer bei sowas. Vielleicht muss man es üben ...

Danke für alles und LG
Ralf

 Jorge (25.07.14)
Manchmal ist Helfen ohne langes Nachdenken wohltuender - für beide Seiten.
LG
Jorge

 Nachtpoet antwortete darauf am 25.07.14:
Ja das stimmt Jorge.

Danke! Ralf

 susidie (25.07.14)
Er ist der Motor, der seinen immerwährenden Kraftstoff aus dieser einen Minute in Berlin bezieht

Klasse geschildert. Und das ist gut so.
Liebe Grüße von Su :)

 Nachtpoet schrieb daraufhin am 25.07.14:
Danke Su! Liebe Grüße! Ralf
chichi† (80)
(25.07.14)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Nachtpoet äußerte darauf am 25.07.14:
Ja, ein schlechtes Gewissen ist auch ein guter Schreibimpuls.

LG
Ralf
Luciernaga (54)
(25.07.14)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Nachtpoet ergänzte dazu am 25.07.14:
Tja siehste. Ich danke dir Luciernaga!
Ralf

 EkkehartMittelberg (25.07.14)
Ich vermute, dass so mancher so einen Splitter im Fleisch hat. Wenn er ihn vergisst, kannst du ihn vergessen.

Nachdenkliche Grüße
Ekki

 Nachtpoet meinte dazu am 25.07.14:
Wahre Worte Ekki! Und danke!

LG
BabetteDalüge (67)
(26.07.14)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Nachtpoet meinte dazu am 29.07.14:
Aber diese Sichtweise wäre ja eigennützig. Nein, mir tat das Mädchen wirklich leid, aber dieses Gefühl stellt sich vielleicht nicht in einer Sekunde ein, das ist wohl das Problem.

Danke und LG
Ralf

 monalisa (06.09.14)
Deine Geschichte, lieber Ralf, macht nachdenklich und ein wenig traurig, lässt an eigene Versäumnisse denken ... sieht aber auch vorwärts und nimmt die vielen noch vor uns liegenden Chancen in den Blick. Gerade dieser 'Ausblick' am Ende gefällt mir besonders.
Liebe Grüße,
mona

 LotharAtzert (06.09.14)
Ach ja, ach ja ... ich fand mal einen kleinen Babyfrosch auf dem Pissoir an der Autobahn und dachte: "Ach Du armes Wesen, wirst in der Pisse von Hunderten Pissern elendig zugrunde gehen." Fast hätte ich ihn rausgeholt, aber der Gedanke, in dieses ekle Gebräu greifen zu müssen, hielt mich dann doch davon ab.
Ich schäme mich heute noch deswegen, nach über 20 Jahren ...
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram