Höllenzellentür

Erzählung zum Thema Andere Welten

von  Erdenreiter

Ich stehe vor der Höllenzellentür mit der Nummer eins sieben fünf fünf null, und werde gleich versuchen, einen weiteren Menschen aus seiner selbsterschafften Hölle zu befreien. Die Hölle gibt es nicht, es sei denn, es ist die eigene. Man muss schon sehr davon überzeugt sein, diese verdient zu haben, um dann scheinbar tatsächlich dort zu landen. Die meisten kommen irgendwann selbst darauf, durch ihre Intuition, Selbstreflektion et cetera, dass da etwas nicht stimmen kann, und befreien sich, nach relativ kurzer Zeit, selbst. Doch, was ist in der Hölle schon eine relativ kurze Zeit?, die sich faulend, nagend und nervenzerreißend dahinzieht, quer durch die Eingeweide und den eigenen Wahnsinn. Und wen ruft man, wenn kein Engel kommt um dich zu retten? Ja mich! Ja danke auch. Das mache ich mir immer wieder bewusst, bevor ich die nächste Höllentür öffne, denn der Irrsinn, den man dabei erblickt, vermag es selbst mich, der alles spiegeln, alles Wahre vom Unwahren trennen kann, manchmal fast hineinzuziehen. Du brauchst dir überhaupt keine Illusionen machen, wenn ich nicht komme, dann kommt niemand. Naja, mehr als tausend Jahre selbsterschaffte Hölle hat noch keiner geschafft. Im Grunde verkürze ich die Qualen nur, und habe schon Schwielen an den Händen, von dem Höllenzellentüren öffnen. Warum ich dies Überhaupt mache?, wenn es mir, gelinder gesagt, nicht wirklich gefällt. Die Antwort darauf würde dich deinen Verstand kosten, und du wärst nicht mehr als ein sabbernder Durchgeknallter, der nur noch aus einem Fenster blicken kann. Also schweig, du unwissender Mensch.

Als ich die Tür öffne, zur Hölle, starrt mich eine Frau an, die für einen Menschen recht hübsch aussieht. Halleluja, zum Glück eine Frau! Die haben fast immer einen guten Grund, und nachdem ich ihre Akte überflogen habe, in ihrem Fall für Mord. "Salve, du irdisches Edelgewächs", begrüße ich sie, um erst einmal einen falschen Eindruck zu hinterlassen. Diesmal sehe ich nicht, ein Teufel oder sonst irgendetwas in der Richtung, gehörnt aus, wie es so oft vorkommt, wenn ich eine selbst erschaffene Hölle betrete, was das Ganze anfänglich meist erheblich erschwert, sondern, wie ihr, und von ihr erschlagener Ehemann. Gut, dass ich Illusion von Realität, im Gegensatz zu ihr, unterscheiden kann, sonst würde das abgehackte private Teil, durch die Blume gesagt, Schwanz, wohl schmerzen, in dem Bereich, wo eine Blut-Fontäne im Takt eines Pulsschlags aus mir schießt. So kann es mir egal sein, welches bizarres Aussehen mir ihre Fantasie gab. "Manfred?", fragt sie mich fassungslos. Das wäre auf meinem Planeten ein echt beschissener Name, denke ich mir gerade, da fängt sie an zu stammeln. "Leid … mir … mir … tut das so Leid!" Ihr flehen um Vergebung höre ich nicht wirklich zu, auch, wenn es durchaus gekonnt klingt, sie hatte wohl genügend Zeit, sich die Worte über die Jahre zurechtzulegen, da ich mir überlege, und ihr Gewimmer macht es nicht leichter, wie ich weiter vorgehen soll. Nach der vollständigen Auflistung der Betrügereien ihres ehemaligen Ehemannes, um genau zu sein, nach dem pantomimischen darstellen, wie Manfred ihre beste Freundin, noch auf der Hochzeitsfeier, von hinten nahm, verstummen ihre Vergebungsanfälle in einem ausdruckslosen Gesicht. Bei dem folgenden Tobsuchtsanfall, der Klaus Kinski wie ein Bengel aussehen lässt, der nur ein paar Zellentüren entfernt seit Jahrzehnten seine Höllen-Hotelzimmerausstattung zertrümmert, er ist quasi gerade erst angekommen, verlasse ich ersteinmal ihre Hölle, und warte vor der Türe, die sie nicht durchqueren kann, auch gar nicht wahrnimmt.

Als Stille herrscht, betrete ich ihren Ort wieder leise wie vorsichtig. Ihr Anblick tut mir leid. Die Haut ist übersät mit eiternden Wunden, teilweise hängt ihr diese von den Knochen, und schmerzhaft durchbohren stumpfe Klingen, die das Fleisch mehr auseinanderreißen als durchschneiden, an den verschiedensten Stellen ihren Körper. Meine Distanz aufrecht erhalten zu können, fällt mir plötzlich schwer. Es ist nur ein Mensch, es ist doch nur ein Mensch, denke ich mir immer wieder, aber meine Empathie lässt sich einfach nicht abstellen, und so spüre ich ihre Schmerzen, als wären es meine eigenen. Sie kommt mir bekannt vor, vielleicht deshalb? Gerade als ich sie fragen wollte, fällt mir ein, das würde soviel Sinn machen, wie sich mit einer Feuerlilie über die Quantenfeldtheorie zu unterhalten. Aber wie könnten sie sonst ihr Spiel spielen? Es gibt soviele Dinge, die man nur als Mensch begreifen kann. Lernen reicht nicht, aber zu leben reicht vollkommen.

Zusammengekauert sitzt sie heulend in einer Ecke. Ich setzte mich neben sie, und gut vierzig Zentimeter langer Stahl bohrt sich ebenfalls durch meinen Körper. Das Gute ist, an einem bestimmten Punkt hat der Schmerz eine Grenze, denn mehr, als meine Fresse ich könnte durchdrehen vor Schmerzen, geht nicht. Einen Arm lege ich um sie, und weiß, dass ein so zutiefst materieller Körper auch Vorteile hat. Den Eiter wische ich ihr aus dem Gesicht, und gleite mit meinen verschleimten Händen durch ihre Haare. Erst jetzt bemerkt sie mich, so vertieft war sie, und so taub hat sie ihr Schmerz gemacht.

In der Situation gefangen, jede Distanz verloren, vergesse ich alle Regeln und breche die wichtigste von allen, respektiere den freien Willen, indem ich gewalttätig in ihren Geist eindringe. Wir, mein Aussehen für sie geändert, sitzen an einem Ufer, ein Fluss fließt still und leise vorbei, und nichts ist zu hören, bis auf das schlagartige Blattrascheln der Bäume, gleich dem Rhythmus ihres Herzens. Tiefe, warmstrahlende Farben scheinen um uns her zu fließen. Langsam weichen in ihrem Gesicht die völlig wahnsinnigen Gesichtszüge, entspannen sich, nur um mit letzter Gewalt noch verrückter und entstellter wiederzukehren, wie ein letztes aufbäumen, um dann doch in ein sanftes Lächeln überzugehen. Ihre Augen, ständig hin- und herblickend, schaffen es, zunächst nur kurz, dann immer länger, etwas zu fixieren. Kräftezehrend versuche ich die Illusion so lange es geht aufrecht zu erhalten, und zeige mit dem Finger zu einem Vogelschwarm, der scheinbar weit entfernt am Horizont flügelschwingend vorbeizieht. "Versuch sie zu berühren", presse ich die Worte scharf über meine Lippen. Karoline, so der Name der Insassin, streckt zitternd, angestrengt durch Krämpfe, die sie einigemale fast zu Boden reißen, ihre Hand dem Schwarm entgegen, als ob sie sich daran festkrallen wollte, um mit ihnen davon zu fliegen.

Ihr Zeigefinger stößt gegen die Hülle, die Blase zerplatzt mit dem Duft von Lilien, einem wärmeverlierenden Fauchen. Geschockt wie plötzlich steht sie wieder in ihrer Zelle, der Höllenwind weht hindurch, und trägt die gequälten, verzweifelten und schmerzgetränkten Schreie Tausender mitsich, wie ein zittern am eigenen Körper. Der üble Gestank, der beißend das Atmen erschwert, als würde der über allem liegende Geruch von Angst zu einem Gift, und der Ausblick auf schier unaufhörliche Qualen, lässt Karoline nun krampfhaft an den einzigsten Strohhalm klammern, den sie erblicken kann, mich. Zum ersten Mal ist sie wirklich ansprechbar, was nicht zuletzt an den wenigen Momenten lag, in denen sie kurz zu Atem kommen konnte, und mehr als einige Momente brauche ich hoffentlich auch nicht, um sie jetzt aus ihrem Horror zu befreien. "Wenn du deine Hand von dir streckst, Karoline, könntest du die Hölle mit nur einem Finger genauso zerplatzen lassen, wie du es gerade bereits schoneinmal getan hast. Du musst nur glauben, davon überzeugt sein, dass alles hier eine Illusion ist, die du selbst erschaffst. Ein Himmel deiner Wahl wartet bereits auf dich."

"Meiner Wahl?", fragt sie mich entgeistert. "Eine weitere Hölle, meinst du wohl. So jemand wie ich, auf den wartet mit Sicherheit kein Himmel." Auf Anhieb, ohne Fragerei, wollte merkwürdigerweise noch keiner seine Hölle verlassen, schießt es mir durch den Kopf. "Und doch bin ich hier, und solange du mir in die Augen siehst, wird dir nichts unheilvolles geschehen. Meine Aufgabe ist es nicht Fragen zu beantworten, und an einem Gespräch liebe ich die Stille am meisten. Deine Fragen werden beantwortet werden. Die Wahl wurde bereits getroffen, hindurch gehen musst du alleine. Ein Himmel wartet auf dich." Stille, von mir kurz genossen. "Ich hoffte einfach nur auf ein Schwarz, nachdem, was ich tat. Doch …, wo könnte es noch schrecklicher sein als hier? Welcher Himmel ist es denn für mich, und welcher ist der schönste?", fragt sie leicht spöttisch wie ungläubig, immer kurz davor wieder in Wahnsinn zu verfallen. "Zu schön, das hört sich alles zu schön an", sagt sie immer wieder gedankenverloren.

"Es gibt sieben Himmel, sieben Türen, die schier unendlich weitere Himmel enthalten, jeder ist schöner als der vorige, und der schönste ist natürlich der siebte. Es heißt nicht grundlos, ich fühle mich wie im siebten Himmel. Doch je höher der Aufstieg, desto tiefer der Fall. Früher oder später wirst du wieder ganz unten landen, im ersten Himmel, der Erde, oder irgendein anderer Planet. Viele sind sehr bedrückt, wenn sich ihr Aufenthalt in einem der höheren Himmel dem Ende neigt. Was nützt einem ein Paradies?, das nicht von Dauer ist. Geh, ein Himmel wartet auf dich." In ihrem Gesicht sind deutlich Zweifel zu erkennen. "Dann ist die Erde ja die Hölle, zu der ich wieder zurückkehren muss", entfleucht es Karoline. "Nein, sie ist die einzige Möglichkeit, um zu Tür acht zu gelangen, aber die meisten wissen nichteinmal von ihr." Jetzt blickt sie mich völlig verwirrt an. "Und was ist hinter der achten Tür?" Einige Augenblicke lasse ich gewollt verstreichen. "Wenn ich dir das sage, wirst du dann deine selbsterschaffte Hölle verlassen?" Sie nickt zustimmend. "Hinter der achten Tür befindet sich ein Himmel, an den man sich ewig nicht satt sehen kann, mit unendlich vielen Farben, Formen, Gerüchen, Klängen …, und Unvorstellbarem. Es ist die Ewigkeit, unsere Heimat. Dahinter, hinter dieser Tür, dort gelangt man erst zum wirklichen Leben. Doch vor der Tür steht jemand, seit anbeginn der Universums, und will etwas wissen. Wer ihm die Antwort geben kann, auf seine Frage, die der Grund der Schöpfung ist, die Ursache der materiellen Existenz, der wird hereingelassen. Ob jemals jemand hindurchging weiß ich nicht. Aber aus der Perspektive der Ewigkeit, in der keine Zeit existiert, sind wir bereits alle dort." Ich verlasse ihre Hölle, und warte vor der Zellentür, bis sie sich schließlich auflöst.

Karoline denkt sich gerade, was für ein Quatsch, dann sind wir alle schon da, während sie sieht, wie die seltsame Gestalt, die eben noch zu ihr sprach, verschwindet. Sie streckt ihre Hand von sich, schafft es tatsächlich ihre Hölle, wie eine Seifenblase, zum platzen zu bringen, und befindet sich implosionsartig im Dunkeln. Mit einer leuchtenden Kerze in der Hand, die ihre eigene Vorstellung spinnt, geht sie einem auftauchenden scheinbar wenige hunderte Meter entfernten Licht entgegen. Dort angekommen steht Karoline vor einer Tür. Vorsichtig öffnet sie diese einen Spalt, durch den sie hindurch sieht. Ein Lächeln macht sich in ihrem Gesicht breit, die Türe öffnet sich weiter und ein Arm streckt sich ihr entgegen, dessen Hand sich auf ihre Schulter legt, und eine weitere reicht sich ihr hilfreich entgegen, die sie ergreift, nun mit strahlenden Augen hineingeht. Neben der Tür steht jemand vor einer weiteren, für Karoline unsichtbar, der sich weder für sie freut noch sie bemitleidet. Auf ihre Antwort wartend …

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Kommentare zu diesem Text

BellisParennis (49)
(14.08.14)
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 Erdenreiter meinte dazu am 14.08.14:
Danke für Deinen Kommentar.
Es freut mich, dass es Dir so gut gefällt

Liebe Grüße
Marco

 Kullakeks (14.08.14)
ja, das erwachsen werden nicht so leicht, aber leicht hat es einen.

Ist es die allumfassende Frage?

Vielleicht auch nur die Halbe?

Mit Interesse gern gelesen.

LG

 Erdenreiter antwortete darauf am 14.08.14:
Danke für Deine Resonanz

Liebe Grüße
Marco

 EkkehartMittelberg (14.08.14)
Marco, deine fantasievolle Geschichte bestätigt mich darin, dass wir selbst unsere eigene Hölle sind. Wir können ihr nur entkommen, wenn wir bereit sind, uns gründlich zu ändern. Aber das ist ein lebenslanger Prozess.

LG
Ekki

 Erdenreiter schrieb daraufhin am 14.08.14:
Danke für Dein interessantes Feedback.

Da kann ich Dir nur Recht geben. Auch sollten sich die Menschen von den Kirchen keinen Gott einreden lassen, der Menschen in einer Hölle ewig foltert und quält.

Liebe Grüße
Marco
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