... sogar der Neger hat geweint

Tragikomödie zum Thema Abgrund

von  LotharAtzert

Teil 1 - Bauchladen
Als meine Großeltern mütterlicherseits noch lebten, in deren Haus wir damals wohnten, kamen so je und je die so genannten Hausierer vorbei. Es gab ja noch nicht viel, kurz nach dem Krieg und ich als Bub staunte, wenn jene Hausierer das öffneten, was Großmutter einen "Bauchladen" nannte. Dieser bestand aus einem Koffer, den sie, namengebend um Bauch und Hüfte geschnallt trugen und der gefüllt war, hauptsächlich mit Kurzwaren, Toilettenartikel, aber auch alles andere, was irgendwie hinein passte und auf dem Schwarzmarkt gerade erhältlich war.
Oma kaufte selten etwas, hatten wir doch selbst kaum genug, um zu überleben. Doch sie hat nie einen von ihnen weggeschickt, ohne ihm ein Brot zu schmieren, manchmal herein zu bitten in die Stube, auf ein warmes Süppchen oder was gerade auf dem Ofen brutzelte. Und selten hab ich dankbarere Blicke gesehen, als die dieser abgebrannten Gestalten, denen oft ein Arm fehlte, ein Bein, Auge, Teile vom Gesicht oder dies oder das.
Die meisten von ihnen waren Kriegsheimkehrer, die keine Arbeit mehr fanden und irgendwie versuchten, ihre Familien oder sich selbst durchzubringen. Da zogen sie von Haus zu Haus und verkauften doch nur wenig.
Später änderte sich das. Meine Eltern, obwohl auch Vater den Russlandfeldzug in den Knochen hatte, sprachen das Wort Hausierer bereits etwas anders aus. Deutlich spürte ich im Tonfall etwas herablassendes. Und daß das, was jene anböten, sowieso überteuert sei. Wenn es dann an der Haustür klingelte, hieß es lapidar: "Mach' nicht auf, das ist nur wieder ein Hausierer!"
Ich lief dann auf die Straße, um zu sehen, ob wenigstens bei den Nachbarn die Türen geöffnet würden. Aber die meisten blieben ebenso verschlossen, wie die unsere.
So wandelte sich das Bild von den Hausierern, die immer seltener klingelten, zwischenzeitlich von teppichverkaufenden Zigeunerinnen abgelöst wurden, die dann mit dem Mercedes davonfuhren und wenn ich heute meine Tochter fragte, was denn ein Hausierer, was ein Bauchladen sei, so würde sie erstaunt vom Smartphon aufschauen und "was ist das denn! entgegnen, oder "Ach meinst Du solche, wie die Zeugen Jehovas? - Die klingeln bei uns andauernd und wollen ihren Wachturm verkaufen!"

Teil 2 - Wandlung
Nach der bisherigen Schilderung könnte man meinen, Oma sei die gute Seele des Hauses gewesen, die ein Herz hatte für die Gebrochenen. Um wieviel mehr noch, wenn der Leser erfährt, daß sie, die im Zeichen Krebs Geborene, während des Krieges unter Lebensgefahr resolut eine Jüdin versteckte, die auch das dritte Reich überlebte - nur, um danach dauerhaft in der Psychiatrie zu landen.
Aber so geradlinig sind die Dinge halt nicht. Ich erfuhr, daß die Großeltern außer meiner Mutter und deren Schwester, meiner Tante, ursprünglich noch zwei Söhne hatten - meine Onkels also - Heinrich und Richard, die in der Waffen-SS dienten und vermutlich irgendwo am ukrainischen Fluß Dnjepr ihr Leben aushauchten, bevor der Krieg zuende war.
Und davor haben sie alle zusammen dieses Haus gebaut, in dem ich aufwuchs, Stein für Stein und Mörtel um Mörtel bis unters Dach geschleppt. Abends, wenn dann die Dunkelheit hereinbrach, die altdeutsche, wurde die Ziehharmonika ausgepackt und zum selbstgebrannten Schnaps gequetscht und gesungen: "Schwarzbraun ist die Haselnuß, schwarzbraun bin auch ich, bin auch ich, schwarzbraun muß mein Mädel sein  ..."
Dann kam der Krieg und danach die Besatzer. Das war die große Zeit Mutters und ihrer Ziehharmonika. Etwa ein halbes Dutzend Amis war für ein paar Tage bei uns im Haus einquartiert und  dankbar für jede Ablenkung. Ob sie ihnen auch die schwarzbraune Haselnuß darbot, ist nicht überliefert, aber so erzählen es die Haus-Analen: "Als dann Charlotte Lili Marleen anstimmte, lag etwas Andächtiges im Raum und sogar der Neger hat geweint."

So gesehen schaute Oma bei jedem Hausierer, ob's nicht vielleicht der Richard sei, oder der Heinrich und verpflegte stellvertretend in ihnen ihre beiden Buben, deren Gebeine im fremden Land einträchtig mit denen der von ihnen Gemordeten den Weg allen Fleisches gingen ...

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Kommentare zu diesem Text

Inis (48)
(29.09.14)
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 LotharAtzert meinte dazu am 29.09.14:
Hallo Inis,
Ich würde das gern getrennt sehen, das Helfen aus dem Herzen heraus - geb Dir da völlig recht! - und die Ergründung der Motivationen. Für mich ist Letzteres wichtig, da ich die Gene der Beschriebenen trage und mir nicht sicher sein kann, ob da nicht noch "Leichen im Keller" sind.
Es gibt noch einen dritten Teil, der wieder aus einer anderen Perspektive erzählt ist, (da rückt der an Krebs verstorbene Opa in den Vordergrund) aber der ist noch nicht ausgegoren.
Danke Dir
Gruß
Lothar
Graeculus (69)
(29.09.14)
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 LotharAtzert antwortete darauf am 29.09.14:
Danke für die Großmutter-Symphatie. Das Interesse an den Schattenseiten nicht nur der Großmutter ist doch logisch, schließlich trage ich die Gene der Beschriebenen und fürchte demzufolge etwaige Leichen im Keller.
Wobei der Opa zu kurz kam. (Vielleicht gibt's einen 2. Teil)
Der kämpfte im 1. Weltkrieg die Grabenkämpfe bei Verdun, kam gebrochen nach Hause und lief der Oma in die Arme, die ihn fortan lenkte.
Ob sie ihm die Söhne schenkte, oder doch eher dem Führer, kann ich tatsächlich nicht beurteilen, doch mit meinem Wissen, daß er jämmerlich an Krebs verstorben ist, vermute ich, daß da vieles nicht artikuliert wurde. - Was ich jetzt verspätet nachzuholen versuche.

An Gewissenskonflikten kann man wachsen, Graeculus - darüber bin ich froh.
janna (66)
(29.09.14)
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 LotharAtzert schrieb daraufhin am 29.09.14:
Danke Janna,
es IST authentisch.
Liebe Grüße auch Dir
Lothar

 Dieter_Rotmund (29.09.14)
Die Sätze sind viel zu verschachtelt, dadurch nur mühsam zu lesen, finde ich.
"je und je" - Kenne ich nicht, bestenfalls ist "seit eh und je" und "wie eh und je" möglich, oder? Sagt jedenfalls mein Duden.

 LotharAtzert äußerte darauf am 29.09.14:
"je und je" kennst Du nicht???
Das ist eine Homage an Hermann Hesse, der das so je und je schrieb. Den hast Du nie gelesen, kein Steppenwolf, kein Siddhartha ... verstehe ... Der Duden kann mich mal ...
Und Schachtelsätze, das ist jetzt keine Homage, aber hättest Du das auch zu Thomas Mann gesagt?

 Dieter_Rotmund ergänzte dazu am 29.09.14:
Oh-je, das sind wir offenbar wieder erfrischend anderer Meinung. Ich finde Hesse furchtbar (Ja, habe z.B. Steppenwolf gelesen) und Mann fruchtbar blasiert. Allerdings sind dessen lange Sätze wesentlich besser zu lesen als die Deinen, gib's zu! )

 LotharAtzert meinte dazu am 29.09.14:
Niemals ))

 Möllerkies meinte dazu am 29.09.14:
Der Online-Duden (auch wenn er Lotharn mal kann) kennt  "je und je" ("gehoben veraltend") in der Bedeutung "dann und wann". Der Ausdruck geht zurück auf Lothar, ach was: auf Luther, der damit allerdings nicht "dann und wann", sondern "immer" meinte:  "Ich habe dich je und je geliebt" (Jeremia 31, 3).

 LotharAtzert meinte dazu am 29.09.14:
Ja dann ... werd' ich den Duden abonnieren. Danke für den bei Dieter durchaus immer, nicht je und je, auch nicht hier und da, oder eine anderweitige Schreibeise etwa erforderlich machende ... ja gut, jetzt hab' ich den Faden verloren.

 TassoTuwas (29.09.14)
Da hast du dir ja fein was aus den Fingern gesogen!!
Neger gibt's doch gar nicht, Zigeuner auch nicht, genauso wie Hausierer!!
Ernsthaft.
Ein Stück Zeitgeschichte wie sie nur noch wenige aus eigenem Erleben erzählen können, und es auch sollten.
LG TT

 LotharAtzert meinte dazu am 29.09.14:
Bin nur der Chronist und würde niemals nie ...
Danke Tasso.
Liebe Grüße
Lothar
BabetteDalüge (67)
(30.09.14)
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 LotharAtzert meinte dazu am 30.09.14:
Sozusagen von der schwarzbraunen Haselnuß zur Purple Haze.
Der Prozess endet nie, da hast Du recht - und an jeder Wegkreuzung steht Hekate und fordert das Ihre.
Du weißt ja, ich wollte im 3. Teil aufs Wesentliche kommen.
Aber wen von den Verwesenden interessiert schon das Wesen.
Gringo (60)
(11.12.14)
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 LotharAtzert meinte dazu am 12.12.14:
Danke, auch für die Empfehlung.

Sei auch lieb gegrüßt
Lothar
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