Elektra 1993

Essay zum Thema Todesstrafe

von  toltec-head

Kafka, der den Koitus einmal als Strafe fürs Beisammensein bezeichnete, konfrontiert seinen Käfer-Leser an mehreren Stellen mit robust-lebenstüchtigen Frauen vom Typus Brunhilde, die ihn vollbusig zu zerdrücken drohen. Der Leser Kafkas ist sozusagen immer ein zerbrechlicher junger Mann, der an seiner sexuell-textuellen Perversion strickt, während die Walpurgas von außen in ihn, den Text, hineinkommen; unlesbar-unkonsumierbar stehen sie für das Gegenteil jeder Perversion, Natur. Kafka hat diese Frauen zwar einem anderen Text entnommen, sie purzeln, könnte man beinahe sagen, in sein Werk aus dem Weiningers, wenn sie nicht auch bei Weininger, der im Übrigen den Selbstmord dem Koitus vorzug, einen Außer-Text, den Anti-Geist bezeichneten. Als Kleist, der später seinen Schädel mit einer Kugel koitieren wird, 1800 die Irrenanstalt des Würzburger Juliusspitals besucht, sieht er einen 18jährigen Jüngling mit todtenweißen Antlitz, der wegen exzessiven Masturbierens in eine Zwangsjacke gesteckt worden war. Der Dichter ahnt hinter diesem Schauspiel nicht die gesellschaftlichen Stecker, sondern Mutter Natur, die auf diese Weise grausam das Überschreiten ihrer Gesetze straft.

1993, die Schwulen sterben gerade wie Fliegen und eine Philosophie ist auf ihrem Höhepunkt angelangt, die verkündet, es gebe keinen Außer-Text, findet im Sommer in der Londoner Royal Albert Hall eine konzertante Aufführung von Elektra statt. Die Sängerinnen betreten die Bühne als handele es sich um Mütter, die tiefverborgen in häuslichen Abfalleimern erfolgreich nach vollgewichsten Tempotaschentüchern gekramt haben und nun in Galakleidung zu Gericht schreiten. Jede einzelne der Mägde erscheint furchtbar, Elektra, eine verrückt gewordene Bonnie Tyler - allein der Duft, der ihrem Haar entströmt, wirkt tödlich - übertrumpft sie an Schrecklichkeit alle. Der Dirigent wirkt wie ein Käfer mit Bartattrappe, der hilflos etwas Lärm macht, als vermöge er der weiblichen Wiederherstellung des Gleichgewichts der Welt etwas entgegenzusetzen.

Ernestine Schuman-Heink anlässlich der Proben zur Uraufführung über die Musik von Strauss: "Was für ein schrecklicher Lärm".  Derweil Strauss das Orchester anschreiend: "Lauter! Lauter! Ich höre immer noch die Stimme von Frau Schuman-Heink."

Tod all die jungen Männer, die schrecklichen Frisuren und Kleider sind das, was man von dem Virus sieht, wenn man ihm unter einem gigantischen Vergrößerungsglas, im Ausmaß vergleichbar dem von Strauss vorgesehenen Orchester, betrachtet. Einen Außer-Text gibt es nur für den nicht, der sich Scheuklappen auftut und man kann noch so laut Musik machen, am Anfang und am Ende hört man immer die Stimme einer verrückt gewordenen Frau.

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text

FESEHEN (44)
(02.10.14)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram