Fragwürdige Gelassenheit

Gedicht zum Thema Erkenntnis

von  EkkehartMittelberg

Fragwürdige Gelassenheit

Du bist so gelassen,
dass Aggressionen an dir abperlen.
Hast du Grund, zufrieden zu sein?

Dein Puls schlägt ruhig und regelmäßig
und du verbreitest Harmonie,
wie es Weise können.

Als junger Mensch hast du
Konflikte angenommen und gestritten,
dass die Fetzen flogen.

Manchmal hast du auch Kompromisse
akzeptiert, aber nur, weil du nicht immer
den Bogen überspannen wolltest.

Jetzt gehst du Konflikten aus dem Wege,
und man lässt dich in Ruhe,
weil du niemanden reizt.

Es gab aufgeregte Zeiten, in denen
leidenschaftliches Engagement und Ärger über die Lauen
dich nicht schlafen ließen.

Du hast über deine Kräfte hinaus gestritten,
dein Körper schickte dir Warnsignale und
zwang dich zur Zurückhaltung und Gelassenheit.

Man schätzt den Gelassenen.
Doch bilde dir nichts darauf ein:
„Die Tugend ist die Schwester der Krankheit:“ (1)

1) La Rochefoucauld (1613-1680): Maximen und Reflexionen

© Ekkehart Mittelberg, Oktober 2014

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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (13.10.14)
Hier scheint jemand nach vielen Jahren des Kampfes müde geworden zu sein? Erschöpfung? Fatalismus?

"Verstehe mich nicht falsch, das hat nichts damit zu tun, dass ich meinen moralischen Kompass verloren hätte. Ich bin nur einfach müde geworden, die Welt mit ihm zu vermessen."
- Erik von Berensiel

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 13.10.14:
Danke Trekan, der Kommentar des Erik von Berensiel trifft es.
Du hast auch Recht damit, dass dem Gedicht eine kritische Frage an mich selbst zugrunde liegt. Aber ich hoffe, den Zustand der Erschöpfung und des Fatalismus noch nicht erreicht zu haben.
Inis (48)
(13.10.14)
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 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 13.10.14:
Merci besonders dafür, Inis, dass du dich mit einer moralischen Wertung zurückhältst, denn das Gedicht soll ja die Fragwürdigkeit moralischen Wertens aufzeigen.

 TassoTuwas (13.10.14)
Hallo Ekki,
wir sollten über die Frage diskutieren,
"Macht das Alter milder oder weiser?"
Herzliche Grüße TT

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 13.10.14:
Grazie, Tasso. Meine Antwort auf diese Frage ist klar: Das Alter macht in den meisten Fällen milder, weil die Kräfte zur Kontroverse nachlassen, manchmal macht es auch weiser. Aber Weisheit predigt gern Verzicht und fragt sich nicht gründlich genug, inwieweit sie resigniert.
Herzliche Grüße
Ekki

 FRP (13.10.14)
Es ist nicht (nur) Resignation und/oder Milde, sondern
auch die reine Erkenntnis, dass man sich absolut
seltenst wirklich einmischen und streiten muss - alle
Probleme bestehen-, bestanden-, und werden
weiter bestehen - mit mir, und ohne mich. Rede verursacht
Gegenrede, und am Ende kostet es Lebenszeit und -Energie.
Einem Menschen in Not helfen, ja. Aber das Unkraut im
Garten rupfe ich nicht mehr überall und immer.
Within you - without you, sagte old George Harrison.

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 13.10.14:
Danke FRP. Leider ist es so, wie du es sagst, und man könnte sich altersweise manche Aufregung ersparen. Aber wenn man sich wider alle Vernunft in einen Meinungsstreit reinhängt und das Herz schlägt wieder schneller, merkt man, dass man noch lebt, und Leben bedeutet auch Unvernunft

 FRP ergänzte dazu am 13.10.14:
Auch wieder wahr. Bei mir hier, in Connewitz, liegt teils noch das
Kopfsteinpflaster, welches jene im Strafvollzug des 19. Jahrhunderts verklopften. Wenn man nicht durchgeschüttelt werden will, fährt man mit dem Fahrrad besser auf dem Fußweg. Schon von Weitem sieht man dann die besorgten sozialistischen Rentner ihre Krücken drohend schwingen. Dann denke ich: toll! Denen habe ich aber durch meine Unverfrorenheit jetzt Lebensenergie gegeben

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 13.10.14:
Mehr von diesem Witz, Fritz Rainer. Er spendet Lebensenergie.^^

 FRP meinte dazu am 13.10.14:
Das ist auch so eine Sache, wieso die slawische Endung "-zicz" von unseren niedersächsischen Kolonialherren (sie kamen mit Albrecht dem Bären, auf Betreiben von Adalbert von Bremen, usw.) dann "-witz" geschrieben wurde. Für die Sorben hier war die Christianisierung alles andere als ein Witz.
Graeculus (69)
(13.10.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 13.10.14:
Merci Graeculus. La Rochefoucauld und Nietzsche untersuchten die Kehrseite der Tugenden. Es gibt kaum eine, bei der man nicht fündig würde. Das macht süchtig darauf, das Unterste zuoberst zu kehren.

 Fuchsiberlin (13.10.14)
Erfahrungen ... Unabhängig vom Alter. Doch manches scheint "alterstypisch" zu sein. So wie vielleicht in vielen Situationen eine gewisse Gelassenheit, welche früher in eben solchen nicht bestand.

Liebe Grüße
Jörg

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 13.10.14:
Die Altersgelassenheit macht humorvoller gegenüber Rempeleien. Aber manchmal möchte ich noch heißspornig wie ein Jungtürke sein. Es war spannend, dass man Reaktionen weniger gut abschätzen konnte. Gracias, Jörg.
LottaManguetti (59)
(13.10.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 13.10.14:
Die Idee iner 76jährigen Revolutionärin finde ich faszinierend, Lotta. Mir ist sie, ehrlich gesagt, in der Literaturgeschichte noch nie begegnet. Hast du noch Aufzeichnungen von deinem Roman und hättest du nicht Lust, einen Auszug daraus hier zu veröffentlichen?

Liebe Grüße
Ekki

 irakulani meinte dazu am 16.10.14:
Deine Gedankenanstoss gefällt mir. Aber ich kann Lottas Idee auch viel abgewinnen und stelle mir eine ältere Dame vor, die Zeit Lebens angepasst war, sich den gesellschaftlichen Zwängen unterworfen hat und die irgendwann entdeckt, dass sie sich von nichts und niemand mehr etwas sagen lassen muss. Eine Frau, die Spaß daran gewinnt, zu streiten - die auf jeden Fall keinen Grund mehr sieht, mit ihrer Meinung hinterm Berg zu halten.
Wann, wenn nicht mit 76?

Ich wäre auch sehr interessiert, mal von "deiner Revoluzzerin" zu lesen, liebe Lotta!

L.G.
Ira
Scrag (28)
(13.10.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 13.10.14:
Merci, Markus, es ist interessant, seine Umwelt in der Realität und virtuell darauf zu beobachten, wer noch im Alter ohne Marotten gegen den Strich denken kann, nicht um ewig jung zu erscheinen, sondern weil es eine echte Notwendigkeit gibt.
Man stellt dabei fest, dass manche schon im Konfirmationsanzug geboren werden und anderen die Jeans noch in hohem Alter stehen, selbst wenn sie sie unter dem Bauch tragen.

LG
Ekki

 Regina meinte dazu am 13.10.14:
"im Konfirmationsanzug geboren werden", den Ausdruck finde ich sehr originell. Es kommt noch unfassbarer: Ausgerechnet den Trägern durchlöcherter Jeans wurden eine ganze Reihe Konfirmationsanzugträger geboren.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 13.10.14:
Witzig weiter assoziiert, Regina.
LancealostDream (49)
(13.10.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 14.10.14:
Vielen Dank, Lance. Es geht aus meiner Sicht nicht darum, die Gelassenheit zu ändern, aber man sollte sich über die fragwürdige Tugend nichts vormachen.

LG
Ekki
wa Bash (47)
(14.10.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 14.10.14:
Merci, wa Bash, es kommt darauf an, der Erkenntnis nicht aus dem Wege zu gehen.

 monalisa (15.10.14)
Ach, Ekki, es ist ein sehr weites Feld, das du zu bestellen suchst und deinen LeserInnen bereitwillig kleine Eckchen einräumst, auch ihre Gedankensaaten einzubringen.
Ich denke, Gelassenheit ist nicht zu verwechseln mit 'Wurstigkeit' und Teilnahmslosigkeit; sie bedeutet für mich auch nicht, dass man sich für nichts mehr einsetzt, kein 'Feuer' mehr hat, sondern eben eines, das geregelt (durch mehr oder weniger Luftzufuhr) im Kamin brennt und nicht auf dem, im Eifer des Gefechts errichteten, Scheiterhaufen.
Ich denke auch, dass man mit einem gewissen Maß an Gelassenheit streiten kann, ohne dass man seine Ideen verrät, und so manches Anliegen moderat und gelassen besser um- und durchsetzen kann als mit der 'Kopf-durch-die-Wand-Methode'.
Was ich mir aber (für mich) nicht vorstellen möchte, ist Selbstzufriedenheit und Verklärtheit, die nicht mehr am Leben rundum teilnimmt, sich nicht mehr einbringt, die Augen verschließt ...

Liebe Grüße,
mona

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 15.10.14:
Merci, liebe Mona,
du hast völlig Recht. Man kann auch gelassen erfolgreich streiten. Aber der im Alter Gelassene ist nicht mehr bereit, alles zu geben wie der jugendliche Heißsporn. Von der dosierten Gelassenheit zur resignativen Weisheit ist es nur ein kleiner Schritt. Darauf wollte ich verweisen. Mir scheint, du hast es auch so verstanden.

Liebe Grüße
Ekki

 susidie (16.10.14)
Bedeutet Gelassenheit in mancher Hinsicht nicht auch, dass man sich selbst so weit entwickelt hat seine Meinungen und Einstellungen zu leben, ohne sie verteidigen oder rechtfertigen zu müssen? Für sich zu erleben ohne als "Rufer in der Wüste" zu agieren und andere davon überzeugen zu müssen? Doch eine Art der inneren Zufriedenheit erlangt? Diese Frage kam mir nach deinem Text als Erstes in den Sinn. In jungen Jahren hat man sich vielleicht so weit noch nicht gefunden, der Blickwinkel ist noch nicht so groß.
Und doch kommt es sicher immer auf die Thematik der Auseinandersetzung an. Im Moment kann ich mir denken, es gibt Dinge, über die werde ich mein Leben lang streiten und kompromisslos sein. Und andere, die perlen schon heute an mir ab, weil tausendmal durchdacht und für (mich) gut befunden. Und darüber gibt es keine Aufregung mehr. Mit der Energie in späteren Jahren mehr zu haushalten ist allerdings nicht fragwürdig, eher notwendig, das bringt die Zeit nunmal mit sich. Auch wenn man damit so manches Mal hadert.
Aber ich denke der Rebell bleibt Rebell, auch wenn etwas leiser. Von daher - es gibt sie eben, die 20-jährigen - die keinerlei Rebellion in sich tragen und die 80-jährigen, die sie nie ganz verlieren werden.
Ein sehr nachdenkenswürdiger Text, lieber Ekki.
Einen lieben Gruß zu dir, Su :)

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 16.10.14:
Ein Kommentar, der die positiven und fragwürdigen Seiten der Gelassenheit in den Blick rückt. Genau das war meine Intention.
Vielen Dank, Susi.

 HerrSonnenschein (16.10.14)
Der Text macht mich nachdenklich. Mir fällt spontan ein Lied von Lore Lorenz, mit dem Titel " Die Wut ist jung" ein, was sie mit über 70 Jahren in den 1980er Jahren gesungen hat.
Und auch an die zehn Gebote der Gelassenheit von den Anonymen Alkoholikern.

http://de.wikipedia.org/wiki/Die_10_Gebote_der_Gelassenheit

Du hast etwas in mir zum klingen gebracht. Danke dafür. LG Jörg

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 16.10.14:
Jörg, ich habe nicht mehr damit gerechnet, dass dieser Text noch um zwei so wertvolle Hinweise ergänzt würde.

Herzlichen Dank dafür.

Liebe Grüße
Ekki
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