Teil 23

Roman

von  AnastasiaCeléste

Ian vergrub das Gesicht in seinen Händen. Er fühlte sich ausgelaugt und hilflos. Die letzten Tage waren ein reines Dilemma gewesen. Gefühlt im Stundentakt klingelte es an seiner Tür, davor verzweifelte Menschen, die all Ihre Hoffnung auf Ihn setzten, dass er Sie von diesen Chips befreien konnte. Ian war geduldig mit ihnen. Er bat Sie hinein, fragte wie lange Sie den Chip schon trugen und erklärte ihn ruhig, dass es, wenn nicht länger als ein paar Tage  getragen, schon möglich wäre, das Ding wieder herauszuholen. Aber er machte Ihnen auch klar, dass diese Freiheit nur von kurzer Dauer wäre. Ohne Chip würden Sie sich nicht lange in der Stadt bewegen können. Einige sahen seine Bedenken ein und gingen wieder. Andere waren so aufgebracht, dass sie sofort auf Streit aus waren, als Ian ihnen seine Bedenken erklärte. Und wieder andere kamen zu spät. Ian wusste genauso wenig über diese Chips, wie jeder andere. Er wusste von Cat, dass eine Herausnahme in den ersten Tagen, bis hin zu einer Woche wohl ungefährlich wäre. Also hatte er sich selbst das Limit von sieben Tagen gesetzt. Wer danach zu ihm kam, wurde wieder weggeschickt.
Er machte sich auch Sorgen über die entnommenen Chips. Nach kurzen Ertasten und einem feinsäuberlichen Schnitt durch die obersten Hautschichten, konnte er diese kleinen Parasiten freilegen und somit aus ihrem Wirt herausholen.
Aber er war sich unsicher, wie er mit diesen Dingern umgehen sollte.
Corvin ließ die Chips überwachen. Es würde irgendwo Anzahlen aktiver Chips geben und wahrscheinlich Meldungen, wenn sich Signale längere Zeit nicht mehr bewegten. Das heißt, behielt er diese Chips ohne Sie zu zerstören, würde es so aussehen, als würden sich immer mehr Menschen in seinem Haus zusammenfinden. Zerstörte er die kleinen Dinger, sah es entweder so aus, als würden dauernd Leute in seinem Haus umkommen, oder aber man würde ziemlich schnell merken, dass innerhalb dieser Wände etwas vor sich ging. So, oder so war sein Handeln riskant.
Er entschied sich letztlich dafür, die Chips willkürlich in der Stadt zu verteilen. Jedenfalls so willkürlich, wie es eben ohne eigenen Chip ging. Ian verließ seine Wohnung so wenig wie möglich. Er war sich bewusst, dass er dem Chippen nicht ewig aus dem Weg gehen konnte.
Aber genauso wenig wollte er Corvins Leute zu sich nach Hause locken.
Es wäre nicht auszudenken, was passieren würde, wenn Sie ihn entdecken würden. Sobald sie Seine Behandlungsräume im hinteren Teil des Kellers sehen würden, wäre es aus.
Nur das Krankenhaus war in Corvins Welt legal. Jeder Arzt, der Außerhalb der Klinik behandelte, machte sich strafbar.
Er hatte jetzt mittlerweile zwölf Chips entfernt. Zwei davon hatte er sofort zerstört. Das waren die beiden ersten. Dann wurde er nachdenklich. Einige andere, die er entfernt hatte, nahmen seine Patientin mit sich. Er wusste nicht, was sie mit ihnen vorhatten. Vergraben? Mit sich rumtragen, als Tarnung? Er wusste es nicht, hätte aber gern gewusst, ob Letzteres funktioniert. Wenn ein entfernter Chip immer noch aktiv war und es keine Anzeichen für eine Entfernung gab, wäre es nicht wirklich möglich, ihn weiter bei sich zu tragen, aber gleichzeitig vor Schmerz und Tod geschützt zu sein? Ein interessanter Gedanke, der jedoch spätestens an der nächsten Straßensperre enden würde. Die Wachposten dort scannten mit einem kleinen Gerät den Nacken jedes Passanten. Der Chip in der Jackentasche würde dann wenig nützen, wenn das Gerät kein Signal empfängt. Der Schwindel würde sofort auffallen. Es war zwecklos.
Noch vier Chips hatte er bei sich, höchstwahrscheinlich aktiv. Und diese wollte er schnellstmöglich loswerden.
Er rappelte sich auf, steckte die Chips in seine Hosentasche und warf nochmal einen Blick in seinen Medikamenten Schrank. Seine Vorräte neigten sich bedrohlich dem Ende. Er würde diesen ungewollten Ausflug also auch nutzen, um seinen Arznei-Dealer aufzusuchen.
Es gab einige wenige Menschen in der Stadt, die Pharmazeutika verkauften. Er kannte jedoch nur einen unter Ihnen, der früher mal ein echter Apotheker war. Die anderen hatten irgendwo Quellen aufgetan und die gewinnbringende Marktlücke in all diesem Chaos erkannt.
Ausgerüstet mit einem Rucksack wagte er sein Vorhaben. Er schloss die schwere Eisentür  auf und trat in die leeren, dunklen Kellerräume. Bevor er den ehemaligen Elektroladen betrat, der  als Zugang zu seiner Wohnung diente, lauschte er.  Der Laden war leergeräumt, nichts war mehr zu holen, aber man konnte nie wissen, wer sich Zugang verschaffte.
Die etwas versteckt liegende Hintertür des Ladens stand immer offen, sodass seine Patienten oder Freunde ihn erreichen konnten.
Als er die nächstgrößte Straße erreichte machte sich Ian einen Plan.  Er hatte Glück, dass der Weg zu seinem Arznei-Dealer Sperren frei geblieben war. Zwar musste er einen Umweg in Kauf nehmen. Aber in Anbetracht des Kompromisses, den er hätte eingehen müsste, war dies ein leichtes Übel.
Er bewegte sich möglichst unauffällig, nahm Seitengassen, Abkürzungen durch Häuser.
Ian war so selten draußen, dass er schon von Grund auf paranoide Neigungen entwickelt hatte, sobald er den Schutz seiner Kellerräume verließ. Aber diesmal war es anders. Er hatte nicht nur das Gefühl beobachtet zu werden, er hörte auch jemanden in seiner Nähe. Leise Schritte, die auf Distanz blieben, aber dennoch eindeutig hinter ihm her waren.
Langsam wurde er unruhig. Nervös suchte er mit seinem Blick die Umgebung ab. Er blieb stehen, ging weiter, blieb wieder stehen und lauschte dem Geräusch, das ihn nachahmte.
Ian überquerte eine Straße und flüchtete in ein Haus, von dem er wusste, dass sich dort niemand niedergelassen hat.
Es herrschte Stille. Keine Schritte waren mehr zu hören. Der junge Arzt hoffte, dass wer immer ihm gefolgt war, endlich das Interesse verloren hatte. Er selbst atmete schwer. Das Adrenalin, das ihn durchströmte, ließ langsam nach. Auch nach ein paar Minuten war nichts mehr zu vernehmen. Vorsichtig ging er zur Tür, durch die er gekommen war. Er spähte durch ein kleines Seitenfenster hinaus und konnte nichts Ungewöhnliches feststellen.  Langsam trat er hinaus. Es war der Schatten im Augenwinkel, der ihn reflexartig einen Satz zur Seite machen ließ. Mit aufgerissenen Augen und gehörig laut schlagendem Herzen sah er die junge Frau an, die mit einem Lächeln an der Hauswand gelehnt stand.
Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah ihn sichtlich belustigt an.
Sie war schlank, hatte blondes, wildes Haar und war sehr dunkel geschminkt. Sie trug eine zerschlissene Lederjacke, graue Jeans und ein paar Biker Boots mit Nietenapplikationen. „Keine Angst“, sagte sie, noch bevor Ian Fragen stellen konnte. Sie lächelte noch immer so freundlich, dass Ian mehr als verwirrt war.
„Ich bin diejenige, die du gehört hast, die dir gefolgt ist.“ Sie stieß sich leicht von der Wand ab. „Vor mir brauchst du definitiv keine Angst haben. Ich will dir nur kurz ein paar Fragen stellen und dann verschwinde ich wieder.“ Sie sah sich um. „Macht es dir etwas aus, wenn wir rein gehen? Das ist weniger auffällig!“ Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie zur Tür, aus der Ian gerade gekommen war.
Sie lächelte ihn noch einmal vertrauenswürdig an und verschwand dann im Haus. Ian war sichtlich perplex. Sollte er einfach abhauen? War das eine Falle?
Seine Neugier gewann nach ein paar Momenten in völliger Starre.
Zögernd folgte er ihr.
„Da bist du ja“, sagte sie und machte ein paar Schritte tiefer in das Haus hinein. Ian blieb wo er war. „ Du bist der Arzt, der unter dem kleinen Elektroladen Gutes tut, stimmts?“ Ian zögerte. Woher wusste Sie das?
Die Fremde stöhnte. „Ich beiße nicht. Wirklich.“ Sie setzte sich auf einen ramponierten Stuhl und wartete einen Augenblick. „Kann es sein, dass du in letzter Zeit viele Leute bei dir hattest, die ihre Chips loswerden wollten?“ Sie tippte sich an den Nacken.
Ian räusperte sich: „Ja, es waren einige, warum?“
„Hast du diese Dinger noch?“ wollte sie wissen.
Der Arzt zog eine Augenbraue hoch und nickte zögerlich.
„Super. Die willst du doch sicher nicht behalten, oder? Kann ich die haben?“ fragte Sie begierig und voller Begeisterung.
„Was um alles in der Welt willst du damit anfangen?“ fragte Ian verständnislos und kam nun etwas näher.
Diesmal schien sie es, die Ihre Antwort abwägen musste.
„Sagen wir mal, eine Lösung suchen“, antwortete Sie mit einem frechen Grinsen.
Ian war das alles ein Rätsel, aber gleichzeitig dachte er daran, dass er die Dinger loswerden könnte, ohne weitere Umstände. Sollte sich ein anderer damit rumschlagen. Aber Sie? Was wollte Sie schon damit tun?
„Wann und wo kannst du mir die Chips geben?“ fragte Sie. Ian kramte in seiner Hosentasche und reichte Ihr die vier Übrigen. Sie schaute etwas verdutzt, als sie Aufstand und auf ihn zukam. „Das ging aber schnell. Gehst du mit denen Gassi?“ scherzte sie, während Sie die vier Chips an sich nahm.
Sie warf ihre Haare zurück und bedankte sich, während sie sich den Staub vom Stuhl von ihrer Hose klopfte.
Sie ging Richtung Tür und blieb dann doch noch einmal stehen. „Achso, eine Sache noch.“ Sie drehte sich zu Ian um und musterte ihn forschend. „Stimmt es, dass Ave etwas anzettelt? Hat er einen Plan?“ Ihre Stimme war nun leiser und vorsichtiger. Aber Ian konnte auch deutlich die hoffnungsvolle Erwartung in Ihrer Stimme erkennen.
Was wenn das alles nur ein Trick war? Vielleicht war sie ein Spitzel von Corvin?
„Ich weiß nicht was er tut. Ich habe ihn schon länger nicht mehr gesehen“, erklärte Ian und hielt sich bedeckt. Er hatte seinen Freund in der Tat schon eine Weile nicht mehr gesehen, aber er wusste, dass er Corvin hinterging.
Die blonde, junge Frau lächelte verständnisvoll und verabschiedete sich. Im nächsten Moment war Ian wieder allein in dem Haus.
Sofort begann das Gedankenchaos. Was war das? Wer ist sie? Warum wollte sie unbedingt diese Chips haben? Und warum hatte sie nach Ave gefragt?
Ave war in der Stadt bekannt, daher wunderte Ian sich weniger darüber, dass sie ihn mit Namen kannte. Vielmehr Sorgen bereitete ihm, dass sie scheinbar von ihrer Verbindung zueinander wusste und auch, dass sie wusste, wer er selbst war. Er musste dringend die Brüder über diesen Vorfall informieren.
Ungefähr eine Stunde später sortierte Ian die Medikamente ein, die er gekauft hatte. Von Antibiotika bis Morphium war alles Nötige dabei, um wieder für ein paar Wochen über die Runden zu kommen, solange es keine extremen Notfälle geben würde.
Die Ungewöhnliche Begegnung mit der jungen Frau ließ ihm einfach keine Ruhe.
Eine Lösung suchen, hatte sie ihm auf seine Frage, was sie mit den Chips anfangen wolle, geantwortet.
Eine Antwort, die sehr knapp war und in ihrem Gesichtsausdruck las er, dass sie etwas verschwiegen hatte.
Es brodelte an allen Ecken in der Stadt. Nicht nur Corvin verbreitete Angst und Schrecken, anscheinend tat sich auch hier und da im Untergrund etwas, von dem noch keiner etwas ahnte.
Nachdem Ian ein paar harmlose Fälle, wie ein verstauchtes Handgelenk oder eine Magenverstimmung behandelt hatte, entschied er sich dazu, mit Ave Kontakt aufzunehmen.
Er schaltete sein Funkgerät an und hoffte, dass die Brüder ihn hören würden. Es war schon eine ziemlich altertümliche Art zu kommunizieren, aber dafür eine recht Sichere. Da eine Straßensperre zwischen beiden Wohnungen lag, war es momentan nur Ave möglich, zu ihm zu gelangen.
Ave hatte sich auf seinen Funkspruch gemeldet. Ohne viel preiszugeben, machte Ian ihm klar, dass Sie etwas besprechen müssten.
Der Ältere der beiden Brüder willigte einem Treffen am nächsten Morgen ein.
Ave war genauso irritiert über den Vorfall wie Ian selbst. Der junge Arzt hatte ihm am nächsten Tag alles erzählt und war kaum überrascht, als sein Freund ihm erklärte, dass er sich auch schon seit Wochen immer öfter beobachtet fühlte.
Ave wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Eine Lösung finden, war prinzipiell nichts Schlechtes, aber es gefiel ihm nicht, darüber keine Kontrolle oder Einfluss zu haben. Wer waren diese Menschen, die irgendwo für sich auch ihr eigenes Ding machten?
Es blieb beiden nichts anderes übrig als abzuwarten. Warten und schauen was passiert.

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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (24.10.14)
Spannend geschrieben führst du uns das Problem von einer anderen Perspektive vor Augen.
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