Nur noch Zuhause bleiben und Stummfilme von vor 1914 schauen

Liebesbrief zum Thema Literatur

von  toltec-head

Jahrelang schaute ich keine Filme. Im Fernsehen schaltete ich sofort weg, wenn es filmisch wurde, so wie ich bei Texten sofort aufhöre zu lesen, wenn es lyrisch wird. Ein Kino kam mir ähnlich obsolet vor wie das Theater. Nein, es macht mir keinen Spaß, Behinderten bei der Anbahnung oder Inganghaltung von Intimbeziehungen zuschauen zu müssen. Barthes beschreibt in einem Aufsatz wie das Schauen von Filmen im Fernsehen für ihn jede Faszination verliere, weil ihm das anonyme, bevölkerte, wimmelnde Dunkel des Kinos um ihn herum fehle. Anders als das Kino, so Barthes, verdamme das Fernsehen uns zur Familie. Und zwar auch dann, wenn man allein vor ihm sitze. So wie der Ofen mit aufgehängten Kochtöpfen drumherum gehöre das Fernsehen nun einmal zu den familiären Hausgeräten. Der Aufsatz stammt aus dem Jahr 1975, seitdem haben sich die Kinos zu Riesenkochtöpfen entwickelt. Eine Erotik des Kinos habe ich vielleicht ganz kurz in der Kindheit verspürt, heute noch in ein Kino zu gehen, käme mir ähnlich anstrengend vor wie ein Date zu haben. Einsam in ein Fußballstadion zu gehen macht sicherlich mehr Spaß, ist anonymer und ein wimmelnderes Ereignis, als einsam in ein Kino gehen. 

Durch das Internet ist zum Glück eine neue Form des Sehens möglich geworden. Die letzten Wochen bin ich immer sehr früh ins Bett gegangen, habe eine Kerze angezündet und habe auf meinem Tablet, so wie ich das früher mit einem Buch gemacht hätte, Stummfilme von vor 1914 angeschaut. Durch umgekehrtes Blinzeln in die Noch-nicht-Nachrichtenansagesprecher-Gesichter von Söderström beame ich mich in eine andere Realität. Ohne mein Bett verlassen zu müssen, erzeuge ich eine Unheimlichkeit, im Vergleich zu der David Lynch wie Slapstick wirkt. Die neu gewonnene Erotik des Internets beruht darauf, dass es in einem selbst zu wimmeln beginnt und man anonym im Verhältnis zu sich selbst wird. Eine neue Form des Sehens schafft neue Inhalte. Und ist es mit dem Schreiben nicht ganz genauso?

So uninteressant Internetliteraturforen von ihren Inhalten oftmals sind, ermöglichen sie doch eine neue Form der Mischung von Leben und Schreiben, mit der sich unheimliche Effekte, die in keinem Buch vorkommen können, erzielen ließen. Wir stehen da ja ganz am Anfang. Von ihren Inhalten her gesehen erzeugen die Foren heute weitestgehend Text-Abschaum. Was will man denn von Trollen, die aufgrund unglücklicher Konstitution oder normalen Alterns in der Arbeits- und Datingwelt nicht aufgehen können, großartiges erwarten? Achtet man auf die Form, also die Art und Weise wie in den Foren Schreiben und Leben neu gemischt werden, wie eine wimmelnde Anonymität erzeugt wird, im Vergleich zu der ein Buch per se familiär wie ein Kochtopf wirkt, weiß man: die Zukunft liegt ganz sicherlich in den Foren.


Anmerkung von toltec-head:

 Umgekehrtes Blinzeln und Tagesschau

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Kommentare zu diesem Text

parkfüralteprofs (57)
(13.12.14)
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Graeculus (69) meinte dazu am 13.12.14:
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 Lala antwortete darauf am 13.12.14:
Solange ich mich im Kino nicht umdrehen und die Ereignisse des Films oder der virtuellen Welt auch von hinten sehen kann (s. Zacharias Bretzelburg), bleibe ich davor und nicht mittendrin.

Weshalb 3D eine Jahrmarktskiste ist, die für die erzählte, gezeigte Geschchte wertlos ist.Weshalb Dolby-Sourround nett, aber für eine gute Geschchte nur ein Gimmick ist, weshalb Cinemascope angenehm, aber eine Geschichte, selbst wenn sie mit O'Toole in der Wüste oder mit Heston im Kolosseum besetzt ist, nicht dadurch besser wird und auch die Tonspur kann aus Scheiße kein Gold machen. Alles steht und fällt mit der Idee. Die sind zeitlos. Ideenlosigkeit auch. Leider.

PS:Selbst wenn ich dermaleinst mittendrin sein sollte: Die Zukunft der Erzählung sind die Spiele, die in einer free world hineinprogrammiert worden sind. Bethesdas Fall Out 3 z. B. Grandios. Du kannst Dich mit Jemanden, der diese Welt auch betreten hat, über die selbe Welt unterhalten, aber über vollkommen unterschiedliche Geschichten und Enden.
Graeculus (69) schrieb daraufhin am 13.12.14:
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 Lala äußerte darauf am 13.12.14:
@Graeculus

Ncht besser. Das Erleben, Erfahren, Durchschreiten einer aktuellen Spielwelt oder wie in dem ollen "Westworld" Movie non-interaktiv aber trotzdem richtig prognostiziert, ist das Erleben, Erlesen anders, direkter und unmttelbarer. Nicht besser. Aber anders.

Anders, weil am Ede nur das production design, die Kulissen und die Physik dieser fiktiven Welt bleiben (letzteres muss natürlich koharent bleiben). Und wie jeder Spielefreak weiß: Ereignisse auslösen. Aber eigentlich sollte nichts gescripted sein bzw.: es sollte keine Auslöser, Trigger geben, die ein vorgeschriebenes Erleben, Seite für Seite wie in einem Roman, durch ein vorgefertigtes Script auslösen. Das zu verhinden, gelingt auch bei aktuellen Spielen nicht besonders gut. Bei den intelligenten Spielen wie "Heavy Rain" kann der Trigger oder das Erreichen eines Punktes mit unterschiedlichen Charakteren, vielfältige Handlungsstränge auslösen. Also anders gesagt: Während Bergmann und ich zu Beginn von Tristan und Isolde noch das selbe Setting und die selbe Handlung wahrnehmen, trennen wir uns schon vor dem zweiten Akt, nach der ersten Note oder ich war gar nicht da bzw. erleben andere Handlungen, Szenen, metaphysische Erlebnisse, aber bleiben dennoch in Wagners Spielstätte, seiner Figuren und seiner Musik gefangen ...
Ok: das haben sich Wagner, Müller, Meier, Kafka und Homer sich auch schon gewünscht ;)

Wenn wir - so wie wir zwei beiden jetzt - uns über diese kulturelle Erfahrung unterhalten wollen, können wir uns doch eben nur auf schwarz auf weiß eingetippte, stumme aber interpretierbare Lettern berufen. Verdammte Kacke: Alles bleibt, alles ist nur Kopfkino. ja, fick mich doch ...

 toltec-head ergänzte dazu am 14.12.14:
Das Kino hat bekanntlich ganz unromanhaft begonnen. Am Anfang stand der Choc. Was ist eigentlich aus der Montage bei Eisenstein geworden? Surrealistisches Kino gab´s doch noch bis in die 60er Jahre hinein. Das Erzählerische ist kein Zug des Kinos sondern dein persönlicher wie der Krebs unserer Zeit. Computerspiele sind noch schlimmer als Romane, das sind Romane, wo man nicht bloß zuschauen darf sondern auch noch handeln muss.
mannemvorne (58)
(13.12.14)
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 toltec-head meinte dazu am 14.12.14:
Schöner als der Louvre und ohne dieses schreckliche Paris. Merci, monsieur.
parkfüralteprofs (57)
(15.12.14)
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 toltec-head meinte dazu am 15.12.14:
Wiedersehen in Marienbad? Auch in der Literatur in den letzten 20 Jahren dieses zurück zum Geschichten erzählen. Das sollte dir doch zu denken geben. Letztlich geht es wohl um so etwas wie Wohlfühleffekte, die der Globalisierung abgetrotzt werden. Das hat schon auch mit den Hartz4-Reformen und 9/11 zu tun. Cocooning eben, in Literatur wie im Kino.
parkfüralteprofs (57) meinte dazu am 16.12.14:
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 Dieter_Rotmund (21.03.20)
Barthes beschreibt in einem Aufsatz wie das Schauen von Filmen im Fernsehen für ihn jede Faszination verliere, weil ihm das anonyme, bevölkerte, wimmelnde Dunkel des Kinos um ihn herum fehle

Das ist der interessante Teil! Magst Du das Thema ein wenig ausführen und mir dann als Gastkolumne für den Do. zuschicken?
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