In Ayshes Kleidern

Erzählung zum Thema Andere Kulturen

von  Regina

Der strömende Regen hatte uns ohne Regenschirme erwischt. So zog ich den leichten Schal über den Kopf, obwohl das nichts nutzte. „Ayshe“, rief Johanna scherzhaft bei meinem Anblick. Damit gab sie mir den Hinweis auf die nächste Station meiner Reise. Und der fliegende Teppich ließ nicht lange auf sich warten, mich abzuholen.

Zuerst  lernte ich, frühmorgens vor Sonnenaufgang  die erste Sure zu sprechen und immer zu wissen, wo Mekka liegt. Aber die Wörter wollten in meinem Gedächtnis nicht haften bleiben, bis jemand mir sagte: „Du musst von rechts nach links denken, so, wie sie sie schreiben.“ Eigentlich ist das doch logisch. Danach machte ich schnellere Fortschritte. Sure 1 ist so etwas wie die Eintrittskarte in die Gemeinschaft der Gläubigen, aber sie dient auch der Entspannung und kann in einer Gefahrensituation gesprochen werden. Die Basmala gefiel mir noch besser, sie kann bei vielen Gelegenheiten zitiert werden. Das Untätigsein war ich kaum gewohnt, und doch waren viele Leute dort der Ansicht, das Wichtigste, was eine Frau brauche, sei Ruhe. Immer schwang in mir da ein Gefühl von Melancholie mit, bei der Einhaltung tausendundeiner Lebensregel, nie fühlte ich mich richtig frei. Alleine durfte ich nirgendwo hingehen.

Ehen seien gut, wenn sie zwischen den Familien arrangiert werden, behaupten sie, und feiern pompös die Defloration. „Du musst aber bedenken“, sprach der unsichtbare Lehrer, der mich schon in die Schrift eingewiesen hatte, “dass die Beschneidung lange zuvor, am siebenjährigen Knaben, stattgefunden hat. Das sind uralte Rituale, das Sexualverhalten von Frauen und Männern in eine bestimmte Richtung zu lenken, die der Prophet nicht erfunden hat. Wenn sie misslingen, entstehen die irritierenden Phänomene, die du beobachten kannst.“ Den individuell angreifenden Amor mit dem Pfeil, der Männer und Frauen unverhofft aus dem Hinterhalt mitten ins Herz schießt, schien dort keiner zu kennen. „Die Qualität einer arrangierten Heirat“, sprach mein Lehrer, “hängt davon ab, ob die Mutter intuitiv weiß, wer zu ihrem Kind als Partner passt. Wo sich da aber Gier nach Reichtum und andere falsche Motive einmischen, geht die Geschichte daneben.“ „Wenn der Mann vier Frauen nimmt, sind das drei zu viel“, kritisierte ich und stieß noch nicht einmal auf Widerspruch. Wichtiger aber sei die Treue der Frau. Ein letztes Mal genoss ich die wohltuende Kühle eines sarazenischen Marmorbaus nach dem Aufenthalt in sengender Hitze. Danach  gab ich die Gewänder der Ayshe wieder zurück. Den Stier, auf dem Europa saß, erwischte ich gerade noch beim Schwanz und schwang mich auf sein Hinterteil. Der fliegende Teppich war auf der Rückreise nirgends zu sehen.

Staunend betrachten Johanna und ich gerade ein Foto, das ich bei einem Zwischenstopp des fliegenden Teppichs geschossen hatte. Es stammt von einer Hochzeit in der Türkei. Der Mann steht und reicht seiner Braut die Hand. Sie kniet im weißen Kleid mit Schleier gesenkten Hauptes vor ihm. „Der Mann müsste knien“, findet Johanna. „Oder beide“, schlage ich vor, „aber die Gleichberechtigung haben sie nicht erfunden, vielmehr die Sonderrechte auf beiden Seiten.“ Ich erinnere mich an die Wörter, die sich von links nach rechts nicht in das Gehirn fügen wollten. Alles verstanden zu haben, behaupte ich nicht. Allah ließ einige Fragen offen. Bismillahi rahimi rahmani.


Anmerkung von Regina:

Erklärungen Arabisch
„Esh hedu ille illehe illalah va esh hedu sidona Mohammed rassurallah = Es gibt nur einen Gott und Mohammed ist sein Prophet“
„Basmala“ oder „Bismillahi Rahimi rahmani = im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes“

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (09.01.15)
Einfühlsam erzählt, wenngleich die Erzählerin respektvolle Distanz zeigt.

LG
Ekki
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