Das Ausrufezeichen denkt nach

Erzählung zum Thema Missbrauch

von  EkkehartMittelberg

Still gesessen! Weiter lesen! Sie fühlen sich überfallen. Damit liegen Sie gar nicht falsch, denn ich heische unverschämt nach Aufmerksamkeit, bin der Punk unter den Satzzeichen, spontan und bisweilen autoritär, aber ich verschleiere wenigstens nicht, dass ich Gebote und Verbote begleite.
Die kennen Sie bis zum Überdruss und ich brauche Ihnen dafür keine Beispiele zu geben.

Es bekümmert mich, dass ich in einer Zeit, in der Massenmedien und Internetnutzer sich überschreien, um Aufmerksamkeit zu finden, inflationär missbraucht werde. Till Krause beschreibt in der Süddeutschen Zeitung, was man mir antut und wie man meine Leser nervt:
„Neulich wurde ich von einem Fahrkartenautomaten angeschrien – zumindest hat es sich so angefühlt. Beim Bezahlen stand im Display: Bitte EC-Karte einführen!! Drei Wörter, zwei Ausrufezeichen. Als wollte die Maschine sagen: Na los, wird’s bald?
Wo man auch hinschaut: Das Ausrufezeichen ist schon da, oft sogar mehrfach. Auf Schildern (»Die Benutzung der Toilette ist kostenlos!!«), Wahlplakaten (»Gerechtigkeit!«), Briefen (»Sehr geehrter Herr Krause!«). Diese Sätze wären auch mit Punkt oder Komma ausgekommen, aber das war offenbar zu wenig. Bei Facebook und WhatsApp ist es längst normal, dass Sätze mit einem Ausrufezeichen enden. Zwischen »toll!!!!« und »juhu!!!« wäre ein nüchternes »Schön« beinahe ein Affront. Wie albern!!“ (http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/41901/Total-ueberzeichnet)

Ja, ich will es nicht verheimlichen. Auch meine Geschichte ist nicht immer ruhmreich, und schon zu Beginn habe ich mich nicht beliebt gemacht, denn zum ersten Mal wurde ich in Deutschland in Johann Fischarts 'Ehezuchtbüchlein' "Flöhhatz" von 1572 verwendet, in einem Kontext also, als würde ich jetzt zu Ihnen sagen: „Achtung! Vertreiben Sie die Flöhe aus Ihrem Kopf!“
Es gab Kapitel, derer ich mich schäme, wenn ich zum Beispiel an die Ausrufe und Aufrufe von Faschisten und Stalinisten denken.

„[…] Doch dies wäre
Höchste Erfüllung mir und Ehre den Ahnen:
Heilige Fackel, nie mehr weitergereichte,
Dir zu opfern!“
(Aus: Agnes Miegel: An den Führer)

„Groß war einst die SU, nun ist sie sehr klein,
doch einst wird sie für immer unbesiegbar sein,
der Geist ist nicht tot, er lebt in mir,
er lebt in uns allen und auch in Dir,
und eines Tages ist es wieder so weit,
Die Weltrepublik steht auf in alter und neuer Herrlichkeit!!!
[...]“
(Aus: Die heilige Weltunion, das einzige Vaterland! Gedicht von Konrad Klinger, 2012
http://ciml.250x.com/kpdsh/gedichte_lieder/konrad_klinger_gedichte.html#

Doch man hüte sich vor pessimistischen Vereinfachungen. Politische Aufrufe und Imperative finden sich auch in einer Tradition der Humanität:                                                                               
„Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ (Georg Büchner: Der hessische Landbote)


                                                                                                                  „[...] Wacht darüber, dass eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird!                                                                                                              Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet!
Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!“
(aus: Günter Eich: Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht!)

Ich erinnere mich gerne an schöne Zeiten, zum Beispiel im „Sturm und Drang“, als die Dichtung sich mit enthusiastischen Ausrufen von dem strengen Korsett der höfischen Regelpoeterei zur Erlebnislyrik befreite oder als sie mit meiner Hilfe von der Freiheit des Glaubens kündete.

Erinnern Sie sich noch daran?

Wie herrlich leuchtet
Mir die Natur!
Wie glänzt die Sonne!
Wie lacht die Flur!
[...]
Und Freud' und Wonne
Aus jeder Brust.
O Erd', o Sonne!
O Glück, o Lust!
(Aus Goethes „Mailied“)

oder daran?

Bedecke deinen Himmel, Zeus, Mit Wolkendunst!
Und übe, Knaben gleich
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöh'n!
[...]
Ich kenne nichts Ärmeres
Unter der Sonn' als euch Götter!
(Aus: Goethes "Prometheus"                                                                                                                 
Sie haben bemerkt, dass ich selbstkritisch, aber selbstbewusst bin. Das kann ich auch sein, denn der Duden sieht mich für zahlreiche Anlässe vor, so zum Beispiel  bei Ausrufen, Anrufen, Befehlen, Aufforderungen, Warnungen, Verboten, Wünschen, Grüßen und nachdrücklichen Behauptungen.
Aber mir geht es nicht um die Quantität meiner Verwendung. Die nimmt, wie gesagt, mit dem Internet rapide zu. Mir wäre es lieber, man würde mich nicht abnutzen und sparsam verwenden, so wie eine schöne Frucht auf einem guten Dessert, die die Blicke auf sich zieht.
© Ekkehart Mittelberg, Januar 2015

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Kommentare zu diesem Text


 Bergmann (23.01.15)
Schon der Titel ist ... ein Widerspruch ... in sich ... selbst ... ?

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.01.15:
Der Widerspruch ist beabsichtigt. Auch das Ausrufezeichen darf denken.

 loslosch antwortete darauf am 23.01.15:
könnte man auffangen: "Wenn ein Ausrufezeichen nachdenkt"

goethes mailied zeigt, dass das ausrufezeichen eben "ausruft", und nicht zu knapp. es passt natürlich gut in die heutige piktogrammwelt.

ich nehms, wie es kommt.

 Bergmann schrieb daraufhin am 23.01.15:
Neinnein, ein Ausrufezeichen denkt nicht - es wird gedacht!

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 23.01.15:
@loslosch: Danke, Lothar. Ich lasse es mal dabei, denn irgendwann denkt jeder mal, der eine kürzer, der andere länger. )
@Bergmann: Du hast Recht, Uli, ich habe mir ein denkendes Ausrufezeichen gedacht. )

 TrekanBelluvitsh (23.01.15)
In Zeiten der www-Meinungsfreiheit - ist es nicht erstaunlich, wie viele im Netz beklagen, die Meinungsfreiheit wäre bedroht? Und die kommen eher selten aus Nordkorea - preist sich jeder marktschreierisch an. Und da muss eben auch mal ein Satzzeichen dran glauben. Dabei sind Meinungen wie Pickel am Arsch: Jeder hat welche, aber keine will darüber in der Zeitung lesen.

Auf das Ausrufezeichen!

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 23.01.15:
Merci, Trekan. Viele lesen gerne, dass ihre Meinungen in der Zeitung wie Offenbarungen erscheinen.
Silvi_B (48)
(23.01.15)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.01.15:
Grazie, Silvi, es gibt keine größere Frechheit als die, zu denken, wenn man gedacht wird. )
Silvi_B (48) meinte dazu am 23.01.15:
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 solxxx meinte dazu am 23.01.15:
Die ursprüngliche Antwort wurde am 23.01.2015 von solxxx wieder zurückgenommen.

 solxxx (23.01.15)
Ich war der Meinung, der Gedankenstrich wäre das wichtigste Satzzeichen gewesen, aber das Ausrufezeichen hat mich eines Anderen belehrt. Sorry !!! (anstelle des Punktes)
Es ist bewundernswert, wie Du die Satzzeichen interpretierst, Ekki. Unter den Gesichtspunkten muss man sich genau überlegen, wo man sie setzt !!!

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.01.15:
Danke Solxxx, es ist eine schwierige Frage, welches Satzzeichen das wichtigste ist. Auslassungspunkte können auch charmant sein. Man kann sich so viel dabei denken. Mir scheint, eine sinnvolle Kombination ist wichtig und dass sie nicht zufällig gesetzt werden. Manchmal ist trotz Duden erlaubt, was Nachdenken inspiriert und gefällt.

 Regina (23.01.15)
Tirami-su!

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.01.15:
Danke. Tiramusu bedeutet4 "Zieh mich hoch". Auf Rückfrage meint das Ausrufezeichen: "Hoffentlich kann ich das."

 Regina meinte dazu am 23.01.15:
Der Text verlangt nach einer Nachspeise mit Ausrufezeichen-Frucht. Guten Appetit.
Steyk (61)
(23.01.15)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.01.15:
Merci, Stefan. Siehst du, wie es strahlt? Es pfeift auf Diät.

Herzlichst
Ekki

 AZU20 (23.01.15)
Das hat eine Menge zu denken!!!! LG ins Wochenende

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.01.15:
Danke Armin. Kennst du noch den alten Schlager: "lLebling,du sollst nicht so schrecklich viel denken. Liebling, du sollst nicht dein Köpfchen verrenken.... ." Aber so ein Ausrufezeichen ist stabil. Man darf ihm das Denken zumuten.

Ein heiteres Wochenende für dich
Ekki

 AZU20 meinte dazu am 23.01.15:
Vage, lieber Ekki. Deine W ünsche sollen auch für Dich gelten. LG Armin
Graeculus (69)
(23.01.15)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.01.15:
Danke Graeculus. Ich vermute, die spanische Sitte würde ihm gefallen, weil man im Kopfstand nicht lange kritisch denken kann.

 TassoTuwas (24.01.15)
Ach, so ein Ausrufezeichen ist doch etwas Schmückendes, man kann mit ihm nichts falsch machen, selbst wenn man es weg lässt.
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.01.15:
Merci, das stimmt, Tasso. Aber jetzt, wo es so viel nachgedacht hat, möchte ich es nicht weglassen.

Herzliche Grüße
Ekki
CoffeeTin (34)
(04.02.15)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 04.02.15:
Danke, vielleicht eine Heckenschere nehmen, dann geht's schneller.^^
CoffeeTin (34) meinte dazu am 04.02.15:
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 04.02.15:
Hoffentlich. Was würde mir entgehen.... .
CoffeeTin (34) meinte dazu am 04.02.15:
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